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Sci-Fi auf der Berlinale: Die Geschichte des Blicks in die Zukunft

von Cindy Michel
Nur Nerds interessieren sich für Science-Fiction? Das war einmal. Die Retrospektive der am Donnerstag beginnenden Berlinale widmet sich ganz dem Filmgenre, das in die Zukunft blickt, und zeigt 27 internationale Klassiker und Geheimtipps. Wie prophetisch manche der Werke sind und warum keine Space-Opern auf dem Programm stehen, erklärt Retrospektive-Leiter Rainer Rother im Gespräch mit WIRED.

„Ein Gespenst geht um – nicht nur in Europa: Ratlosigkeit als Folge des offensichtlichen Scheiterns der großen Utopien und der Entzauberung der globalisierten Welt.“ Mit den gleichen Worten, mit denen einst Marx und Engels das Kommunistische Manifest begannen, eröffnet Festivaldirektor Dieter Kosslick die Pressekonferenz zur 67. Berlinale. Während die beiden Philosophen damit 1848 ganz am Anfang einer Idee standen, die die Revolution Wirklichkeit werden lassen sollte, nimmt Kosslick diese Utopie und erklärt sie im Heute für gescheitert: „Weder der Kapitalismus noch der Kommunismus haben ihr Versprechen gehalten, die Welt für die Menschen gerechter zu machen.“

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man diese Begrüßung mit dem Intro eines Science-Fiction-Films verwechseln. Mit der Stimme aus dem Off, die von einer gescheiterten alten Erde erzählt und der Dystopie einer zwar neuen, aber ganz und gar nicht mehr schönen Welt, in der die Menschheit nun klarkommen muss. Und tatsächlich, Kosslick spricht zwar über das gesamte Programm der Berlinale 2017, aber zu dem gehört eben auch jenes Genre, dass sich mit dem Blick in die Zukunft beschäftigt. Denn sowohl die Berlinale-Retrospektive als auch die begleitende Ausstellung Things to come in der Deutschen Kinemathek stehen in diesem Jahr unter dem Motto: Future Imperfect. Science – Fiction – Film. 27 internationale Klassiker, Kultfilme, weniger bekannte Produktionen sowie zwei Kurzfilme des Genres werden in diesem Jahr auf den Leinwänden flimmern.

Selten habe ein Programm des Festivals die aktuelle politische Situation so eindringlich in Bilder gefasst wie in diesem Jahr, sagt Kosslick. Viele Filmemacher würden die Erklärung für die Misere jedoch in der Vergangenheit suchen, die verunsichernde Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte verstehen wollen. Nicht so Science-Fiction-Autoren: „Diese Filmemacher erkennen Tendenzen der Gegenwart, verstärken sie bis zur absoluten Kenntlichkeit und siedeln sie in der Zukunft an, um so der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten“, sagt Rainer Rother, Leiter der Retrospektive.

Neue Technologien wie computergenerierte Bilder tragen viel zur Glaubwürdigkeit der Filme bei

Rainer Rother, Leiter der Berlinale-Retrospektive

Im Sommer läuft die Science-Fiction-Reihe der Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), das seit 2011 Partner der Berlinale ist. Auf das Thema Sci-Fi habe man sich mit den Amerikanern schnell geeinigt, sagt Rother: „Das Genre hat in den vergangenen Jahren eine extreme Konjunktur erlebt.“ Nicht nur die Drehbücher für Filme des Genres würden besser, sondern vor allem die Technik. Das würden wiederum Produktionsfirmen erkennen und investieren. „Neue Technologien wie computergenerierte Bilder tragen viel zur Glaubwürdigkeit der Filme bei. Das sind technische Möglichkeiten, an die bis vor Kurzem niemand zu denken gewagt hätte“, sagt Rother.

Dilettantische Spezialeffekte seien sicherlich auch mit schuld daran gewesen, dass Sci-Fi-Filme oft in der B-Movie-Schublade landeten. „Hätten wir allerdings auch noch aktuelle, digital produzierte Filme mit in die Retrospektive aufgenommen, wäre unser Programm doppelt so lang geworden“, erklärt der Medienwissenschaftler die zeitliche Begrenzung des Programms von 1918 bis 1998. „Wir konzentrierten uns auf Filme, die noch analog produziert wurden.“ Der älteste sei der frühe dänische „Blockbuster“ Himmelskibet (1918), der aktuellste der 70 Jahre jüngere Dark City.

Unser Gefühl war, dass für das Publikum andere Dinge als die Raumfahrt interessanter sein werden

Rainer Rother, Leiter der Berlinale-Retrospektive

Wer durch das Retrospektive-Programm blättert, wird jedoch feststellen, dass eines der monumentalen Werke des Science-Fiction-Films fehlt: Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum. „Wir haben uns im Hinblick auf die aktuelle politische Situation auf zwei Themenbereiche festgelegt“, erklärt Rother das Fehlen des Kultklassikers: „Die Gesellschaft der Zukunft und die Begegnung mit dem Fremden. Deswegen haben wir auf Space Operas, die ihren Schwerpunkt auf das Reisen und das Erkunden des Weltalls setzen, bewusst weitestgehend verzichtet.“

„Unser Gefühl war, dass für das Publikum andere Dinge als die Raumfahrt interessanter sein werden“, sagt Rother. „Etwa zu zeigen, wie eine imaginierte Zukunft aussehen kann und was sie – damals wie heute – mit der jeweiligen Gegenwart zu tun hat.“ Und wie man sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Filmgeschichte eine Begegnung mit dem Fremden vorgestellt habe. Denn das Andere muss ja nicht immer als aggressiver Weltenzerstörer daher kommen wie etwa in Krieg der Welten von 1953. „Am Fremden entscheidet sich immer auch, wie das Eigene definiert wird“, sagt Rother. 

Im konkreten Fall der deutsche Science-Fiction-Film: Stark geprägt vom Expressionismus drehten Filmemacher hierzulande während der Stummfilmzeit bedeutende Werke. „Als Vertreter des frühen deutschen Science-Fiction-Films läuft bei bei uns unter anderem Algol. Tragödie der Macht aus dem Jahr 1920“, sagt Rother. „Ein Dynastiendrama und eine düstere Industrie-Dystopie zugleich, es lässt sich auch als Lehrstück darüber lesen, wie die Ablösung konventioneller Brennstoffe durch erneuerbare Energien auf einem monopolistischen Markt zu neuen Abhängigkeiten führt.“

Während die DEFA ab den 50er Jahren in der DDR Sci-Fi-Filme für die große Leinwand produzierte, fand das Genre in der BRD mehr und mehr im Fernsehen statt. „Das hing mit den Produktionsbedingungen zusammen“, erklärt Rother. „Die westdeutsche Filmindustrie war eher mittelständisch geprägt und Großproduktionen außer einiger weniger Ausnahmen nicht möglich. Eine Filmindustrie, die viele Genrefilme produzierte, gab es nicht.“ Da seien dann eben andere erfolgreich gewesen, etwa die Karl-May- oder Edgar-Wallace-Verfilmungen.

Während die DDR mit Werken wie Eolomea Filme voller Aufbruchstimmung und starker Frauenfiguren produzierte, interessierte sich irgendwann plötzlich auch der westdeutsche Autorenfilm wieder für das Genre. Alexander Kluge, Wim Wenders, Werner Herzog und später auch Rainer Werner Fassbinder. Wie Letzterer das Genre als Regisseur und Darsteller interpretierte, zeigt die Retrospektive mit Welt am Draht (1973) und Kamikaze 1989 (1982).

Während vor dem Zweiten Weltkrieg im internationalen Science-Fiction-Film vor allem die Klassengesellschaft angeprangert wurde, waren in den 50er und 60er Jahren der Kalte Krieg und die damit verbundene Angst vor der jeweils anderen Gesellschaftsform, dem Atomkrieg und der Unterwanderung der eigenen Gesellschaft zentrale Themen. „In Invasion of the Bodysnatchers von Don Siegel etwa ersetzen seelenlose Doppelgänger aus dem All die Bevölkerung“, sagt Rother. „Wobei gar nicht so klar ist, ob er damit die kommunistische Invasion oder die Gleichförmigkeit der funktionierenden Konsumgesellschaft meint.“

In THX 1138 entwarf auch George Lucas eine Gesellschaft, die in absoluter Uniformität lebt. „Uniformität hat viele Auswirkungen, sie kann die Kontrolle der Gedanken und der Gefühle sein, aber auch die Übermacht eines Konzerns – wie bei Algol, Alien oder Blade Runner“, erklärt Rother. Science-Fiction hat anscheinend schon früh ein Gespür dafür entwickelt, dass Vielfalt zu verteidigen ist.“

Science-Fiction hat schon früh ein Gespür dafür entwickelt, dass Vielfalt zu verteidigen ist

Rainer Rother, Leiter der Berlinale-Retrospektive

In den 1970er und 1980er Jahren keimte dann ein neues ökologisches Bewusstsein auf. Der Menschheit wurde bewusst, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind und ihre Ausbeutung geradeswegs in die Apokalypse führen könnte. Im Sci-Fi-Genre entsteht daraus die Öko-Dystopie, wie sie etwa Soylent Green zeigt. „Dieser Film von Richard Fleischer ist 1972 entstanden, ein Jahr nach dem Report des Club of Rome: Grenzen des Wachstums“, berichtet Rother. „Hier wird deutlich, wie Science-Fiction etwas verstärken kann, was die Wissenschaft tatsächlich auch schon als Tendenz erkannt hat. Basierend auf dieser Erkenntnis erarbeiten die Autoren und Regisseure dann das Bild einer möglichen Zukunft, das wiederum für die Wissenschaft zum Referenzpunkt werden kann.“

Viele Science-Fiction-Filme seien sogar heute aktueller als zu dem Zeitpunkt ihres Drehs. Zum Einen nennt Rother Strange Days (1995) von Kathryn Bigelow: „Dieser Blockbuster basiert auf den Misshandlungen von Rodney King durch die Polizei von Los Angeles und den daraus resultierenden Rassenunruhen. Wenn man in Ruhe darüber nachdenkt, bekommt man das Gefühl, dass das, was in den vergangenen zwei bis fünf Jahren in den USA passiert ist, den Film aktueller denn je macht.“ Und zum anderen natürlich 1984: „Wenn man überlegt, dass plötzlich sogenannte Alternative Facts zum politischen Sprachgebrauch werden, dann ist das Wahrheitsministerium auch nicht mehr weit“, sagt Rother.

Begleitend zur Retrospektive erscheint pünktlich zum Eröffnungsfilm „Eolomea“ am Freitagabend (19:00) das Buch „Future Imperfect. Science – Fiction – Film“ (Bertz + Fischer Verlag). In fünf Essays ergründen renommierte Autoren den Science-Fiction-Film im Kontext von nationalen Kinematografien. Tickets für die Retrospektive gibt es jeweils frühestens zwei Tage vor der Veranstaltung im Onlineshop und an den Vorverkaufsstellen.

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