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Nun kann Martin Schulz nur noch ein Corbyn-Wunder helfen

von Dirk Peitz
Nur Wochen vor der Bundestagswahl liegt die SPD in Umfragen weit abgeschlagen hinter der Union. Noch ist nicht alles verloren, es lohnt der Blick zur britischen Labour-Partei: Ihr gelang es, vor den Unterhauswahlen im Juni binnen weniger Wochen fast 20 Prozent auf die konservativen Tories aufzuholen. Allerdings: Eines der wichtigsten Instrumente dabei bekommt die SPD nicht in den Griff: Social Media.

Die Lage schien aussichtlos. Sechs Wochen vor der Wahl war der Herausforderer in den Umfragen abgeschlagen, sogar seine eigene Partei zweifelte an seinen Führungsqualitäten, ein Sieg gegen die Amtsinhaberin war so gut wie ausgeschlossen. 20 Prozentpunkte lag die vorne. Dann aber verringerte sich der Rückstand Woche für Woche. Als die Stimmen bei den vorgezogenen Neuwahlen des britischen Unterhauses am 8. Juni ausgezählt waren, lagen Jeremy Corbyn und seine Labour Party nur noch 2,4 Prozent hinter Premierministerin Theresa May und deren Tories. Die Konservativen hatten ihre Mehrheit im Parlament verloren und können heute nur dank der Unterstützung einer nordirischen Splitterpartei regieren. 

SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz twitterte damals: „Ich habe gerade mit Jeremy Corbyn telefoniert. Wir haben ein sehr baldiges Treffen ausgemacht.“ Auch Schulz braucht nun dringend so ein politisches Wunder. Noch behauptet Schulz im Sommerinterview mit dem ZDF wacker: „Ich rechne damit, dass ich gute Chancen habe, der nächste Bundeskanzler zu werden.“ Doch die SPD liegt aktuell in Umfragen bis zu 16 Prozentpunkte hinter der CDU, und in nicht mal fünf Wochen ist Wahl.

Schulz muss es schaffen, die Social-Media-Affinen zum Wählen zu bringen

Sollte Schulz Corbyn als Vorbild betrachten (und was bleibt ihm angesichts der Umfragen anderes übrig), müsste er unter anderem eines schaffen: Die Jungen, die Social-Media-Affinen, zum Wählen zu bringen. Eine YouGov-Analyse der britischen Unterhauswahlen zeigte, dass Labour letztlich von einer klaren Mehrheit der Menschen in der Altersgruppe zwischen 18 und 29 gewählt wurde, aber auch bei Leuten bis 49 Jahren noch knapp vor den Konservativen lag.

Betrachtet man rückblickend die Social-Media-Daten der Corbyn-Kampagne, wirkt die Aufholjagd gar nicht mehr so mysteriös. Man kann den Erfolg an den Zahlen ablesen, besonders an der explosionsartigen Zunahme an Fans und Interaktionen auf Facebook in den letzten Wochen vor der UK-Wahl: Die Labour Party und mehr noch ihr Spitzenkandidat wussten die größte Social-Media-Plattform als Wahlkampftool offenbar hervorragend zu nutzen, als Ort und Verstärker der politischen Debatte. Selbst wenn man der Wirkung von Social Media bei der Mobilisierung von Wählern misstraut (denn Kausalitäten oder Korrelationen zwischen Social-Media-Performance von Parteien respektive Kandidaten einerseits und dem Wahlausgang andererseits lassen sich nicht zweifelsfrei nachweisen), zeigen einem die Daten: Corbyn kam mit sehr vielen seiner potenziellen Wähler auf Facebook ins Gespräch.

Eine Analyse der britischen Social-Media-Verhältnisse, welche der Datentool-Anbieter (und WIRED-Kooperationspartner) quintly im Mai kurz vor der UK-Wahl machte, belegte die rasante Entwicklung: Nachdem Theresa May am 18. April den Termin der sogenannten snap election für den 8. Juni bekanntgegeben hatte, erhöhte sich die Zahl der Facebook-Fans von Labour binnen der nächsten 30 Tage um fast 40 Prozent, auf dann insgesamt rund 755.000. Auch Corbyns persönliche Gefolgschaft wuchs auf Facebook gewaltig an, von knapp über 800.000 vor Verkündung der Neuwahlen auf knapp unter 1,2 Millionen am Wahltag; in den Wochen vor der Wahl gewann er täglich oft rund 10.000 Fans dazu. Am Ende hatte Corbyn auf Facebook dreimal so viele wie seine Konkurrentin May.

Selbst wenn man in Betracht zieht, dass viele Briten nach der Brexit-Entscheidung im Jahr 2016 ohnehin extrem politisiert waren und die britische snap election eine Sondersituation darstellt, weil der Wahlkampf zeitlich extrem komprimiert in wenigen Wochen abläuft: Eine Zunahme der sozialmedialen Gefolgschaft wie bei Labour und Corbyn in derart kurzer Zeit ist bemerkenswert. Dem Social-Media-Team der Partei ist es gelungen, durch populäre Inhalte und Formen ihre sozialmediale Basis in Windeseile zu verbreitern und damit Labour zur schlagkräftigsten Digitalkampagne im britischen Wahlkampf zu verhelfen.

Genau das hat in Deutschland die SPD bislang nicht geschafft, obwohl man sie in einer ansatzweise vergleichbaren Situation wie Labour in Großbritannien vermuten würde: Sie hat eine ähnliche Programmatik und will ebenfalls eine Regierungschefin ablösen – startet jedoch im Gegensatz zu Labour dabei nicht aus der Opposition, sondern als Partner in einer großen Koalition, ist also fürs bisherige Regierungshandeln mitverantwortlich. Für den Herausforderer eine undankbare Position. Doch ebenfalls ansatzweise vergleichbar sind die Männer an der Spitze, weil sie als Außenseiter ins Rennen gingen: Während Jeremy Corbyn vom Hinterbänkler zum Parteichef und Kandidaten wurde, hat Martin Schulz fast seine gesamte politische Karriere im EU-Parlament verbracht und hatte zuvor kein Spitzenamt auf Bundesebene inne. Er war unter allen SPD-Spitzenpolitikern demnach am ehesten unverbraucht. Das hätte ziehen müssen. 

Analysiert man den berühmt-berüchtigten Schulz-Zug in seiner sozialmedialen Ausprägung, so lässt sich rückblickend feststellen: Auf Facebook gab es tatsächlich einen, dort fuhr er aber viel früher los als in den Umfragen, bremste jedoch auch schon nach knapp einer Woche wieder quietschend ab. Nachdem Sigmar Gabriel am 24. Januar seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur verkündete und stattdessen Schulz vorschlug, gewann Schulz täglich zwischen knapp 7000 und 11.000 Facebook-Fans hinzu.

Bis Anfang Februar. Danach waren es mitunter pro Tag nicht mal mehr Hundert. Einzig am Tag von Schulz’ Rede auf dem SPD-Bundesparteitag am 25. Juni gab es noch mal einen größeren Ausschlag nach oben, da bekam der SPD-Kanzlerkandidat exakt 7369 neue Facebook-Fans hinzu. Ansonsten aber steht der Schulz-Zug sozialmedial seit einem halben Jahr still, während er in den Umfragen im März und April die SPD kurzzeitig bis auf 33 Prozent und damit in die Nähe der Union brachte. Doch auch dieses Umfragehoch ist längst Geschichte, die SPD liegt wieder bei nur 22 Prozent aktuell.

Martin Schulz hat derzeit knapp über 356.000 Fans auf Facebook, er liegt damit deutlich vor seiner eigenen Partei, die rund 150.000 hat (die CDU hat auch nur 140.000 auf Facebook – dort sind die Kandidaten-Pages erheblich wichtiger). Im Vergleich zu Corbyns aktuell fast 1,4 Millionen ist das trotzdem ein äußerst niedriger Wert, gerade auch gemessen an der jeweiligen Bevölkerungsgröße und entsprechend der Menge an Wahlberechtigten: In Großbritannien durften am 8. Juni knapp 47 Millionen Menschen zur Wahl gehen, in Deutschland werden es am 24. September 61,5 Millionen sein. Die deutschen Parteien und ihre Spitzenkräfte haben eine vergleichsweise schwache sozialmediale Reichweite. Oder umgekehrt: Sie hätten ein riesiges Wachstumspotenzial dort, angesichts von über 30 Millionen Facebook-Nutzern in Deutschland.

Im Mai stellte quintly fest, dass fast 80 Prozent von Corbyns Facebook-Fans auch tatsächlich in Großbritannien beheimatet sind und dementsprechend ein echtes Wählerpotenzial für Labour darstellen. Dieser Wert ist auch deshalb für die Social-Media-Diskussion in Deutschland interessant, weil die entsprechenden Werte bei den beiden Spitzenkandidaten hierzulande erheblich darunterliegen: Nur 58 Prozent von Schulz’ Facebook-Fans leben in Deutschland (also etwa 202.000), die restlichen dürften fast alle nicht wahlberechtigt sein in Deutschland und könnten Schulz höchstens als eine Art Social-Media-Echo dienen.

Trösten kann sich Schulz lediglich damit, dass Angela Merkel einen noch niedrigeren heimatlichen Fan-Schnitt hat, lediglich 24 Prozent ihrer Gesamtgefolgschaft auf Facebook leben in Deutschland – doch weil die Kanzlerin rund 2,4 Millionen Facebook-Fans hat, sind das immer noch 595.000.

Die absoluten Fan-Zahlen sind entscheidend auch für die Hebelkraft, mit der man auf Social Media Leute erreichen und mobilisieren kann: Wie viele sehen Posts und reagieren auf die, bestenfalls positiv? Das ist der noch wichtigere Wert: die Interaktionen auf Facebook.

Da müsste erneut das britische Beispiel für Schulz lehrreich sein. Mit der Verkündung des Wahltermins stieg die Zahl der Interaktionen (also Likes, Shares, Kommentare), die Posts auf Corbyns Fanpage auslösen, stetig an. Nimmt man die jeweilige Tagesausbeute als Maßstab, so kam Corbyn vorher meist durchschnittlich auf 10.000 bis 20.000 Interaktionen pro Tag. Doch nach Bekanntgabe der Wahl produzierte der Labour-Spitzenkandidat sogar gemessen an seinem enormen Fan-Zuwachs überproportional viel Echo: Erst sind es täglich rund 100.000 Interaktionen, kurz vor der Wahl fast 300.000, am Tag nach der Wahl beinahe 500.000.

Jeremy Corbyn ist zwischen Mitte April und Anfang Juni zum Social-Media-Phänomen geworden, mit positiven Botschaften, die häufig in selbstproduzierten Videos rübergebracht werden: Der Kandidat spricht ungefiltert zu Nutzern auf Facebook, ohne dass das unangenehm nach Wahlwerbespot aussieht. Darüber hinaus verlinkt er sehr erfolgreich auch Berichte von seriösen Medien wie der BBC und dem Guardian, die er entsprechend in seinem Sinne kommentiert. Corbyn spitzt erfolgreich zu, ohne negativ zu polarisieren, wie das etwa Donald Trump auf Twitter tut.

Dass die von Social-Media-Teams gern herbeizitierten Interaktionsraten – also die Zahl der Interaktionen im Verhältnis zur Menge der Fans – von May auf Facebook fast durchgängig besser waren vor der UK-Wahl als die von Corbyn, freute höchstens die Digitalwahlkämpfer der Premierministerin. Prozentuale Interaktionsraten sind eine Maßeinheit für die Effizienz und Güte der Ansprache: Bei wie vielen Betrachtern führen Posts zu einer Handlung – einem Drücken auf Like (oder auch etwa auf den Haha- oder Wut-Emoji), dem Verfassen eines Kommentars, dem Teilen des Posts? Doch wenn die absolute Zahl der Menschen, die Posts überhaupt sehen, so niedrig ist wie bei May, dann nützt die höchste Interaktionsrate nichts.

Das ist auch Schulz’ Problem: Er hat zwar mit seinen Posts in diesem Jahr konstant bessere, zum Teil sogar weit überlegene Interaktionsraten gegenüber Merkel mit ihren Posts – doch Schulz liegt in der absoluten Zahl der Interaktionen im Monatsvergleich (mit Ausnahme im Juni) konstant hinter Merkel, zum Teil sogar hoffnungslos weit zurück. Es fehlt Schulz einfach die sozialmediale Fan-Basis, von der aus er auf Facebook eine Aufholjagd starten könnte.

Schlimmer noch: Im Endspurt Richtung Bundestagswahl scheint Martin Schulz auf Facebook die Luft auszugehen, wenn man die absoluten Interaktionen zum Maßstab nimmt. Im Juni erreichte er auf seiner Fan-Page noch 310.000 (zum Vergleich: Corbyn im Juni 3,8 Millionen), im Juli nur noch 290.000, und im August liegt er derzeit (Stand: 23. August) bei lediglich 198.000 – es dürfte in den kommenden sieben Tagen knapp werden damit, dass Schulz wenigstens die schwache Vormonatszahl noch bestätigt. Keine Spur jedenfalls von der Explosion von Interaktionen, wie sie Corbyn vor den Unterhauswahlen auf Facebook hatte, von 859.000 im April auf drei Millionen im Mai und 3,8 Millionen im Juni, dem Monat der Wahl.

Im Gegensatz zu Corbyn bekommt Schulz aber auch keine Schützenhilfe von seiner Konkurrentin. Während Theresa May auch persönlich vor der UK-Wahl in einen Abwärtsstrudel in der öffentlichen Wahrnehmung geriet, operiert Angela Merkel aus einer Position der Stärke: Sie hat überragende Zustimmungswerte, nicht nur im eigenen Lager. Bei einer aktuellen YouGov-Umfrage („Finden Sie, dass Angela Merkel ganz allgemein einen guten oder einen schlechten Job als Bundeskanzlerin macht?“) führt sie selbst bei den Anhängern fast aller anderen Parteien. Ein gutes Zeugnis ausgestellt bekommt Merkel nicht nur von Unions-Anhängern (92 Prozent), sondern auch von einer Mehrheit der Sympathisanten der Grünen (82 Prozent!), der FDP (67 Prozent) und sogar – ein Riesenproblem für Schulz – der SPD (57 Prozent).

Schulz kriegt Merkel metaphorisch gesprochen einfach nicht gepackt, auch weil es ihm offenkundig an einer Erzählung fehlt, die er jener der Kanzlerin (ungefähr: „Ist doch alles gut, also warum was ändern?“) entscheidend entgegensetzen könnte. Auch sozialmedial. Dort hält sich Merkel letztlich ebenso raus, wie sie den direkten Schlagabtausch mit ihrem Herausforderer meidet – auf Twitter hat Merkel nicht mal einen Account, auf Facebook postet ihr Social-Media-Team schöne Fotos von Wahlkampfauftritten mit ein bisschen Text, auf Instagram spielt Merkel ihren Amtsbonus aus, als Kanzlerin hat sie ja andauernd gute photo-ops mit anderen berühmten Staatslenkern.

Schulz wiederum setzt auf Facebook gern Videos ein, die entfernt an Corbyns erinnern, allerdings im Gegensatz zu dessen Bewegtbildern auffällig gebrandet sind: Die SPD pappt ihr Parteirot, ihre Werbetypo und ihr Logo über Schulz. Das schafft Distanz – die Kampagne beraubt mit ihren gedrechselten Spots dem als Mann aus dem Volk doch eigentlich gut funktionierenden Schulz seiner Authentizität. Die Reichweiten der Videos sind okay, oft werden sie um die 50.000 Mal angeschaut. Manchmal jagt die Zahl auch hoch, wenn Schulz wie zuletzt vor ein paar Tagen ein aktuelles Thema genau trifft, da hatte sein Video zu einer möglichen E-Auto-Quote knapp über eine Viertelmillion Zuschauer auf Facebook. Doch nur rund jeder Hundertste reagierte auf das Video mit einem Like, und sage und schreibe lediglich 316 haben es geteilt: Die schwache Reaktion wirkt wie ein sozialmediales Schulterzucken der Wähler.

Das Duell Merkel vs. Schulz, so scheint es bislang, fällt aus. Gerade auch auf Social Media. Weil der Herausforderer bei der Amtsinhaberin keine Angriffsfläche findet und auf Facebook oft wie ein Fremdkörper wirkt – wie ein bemühter Kandidat, der eher pflichtschuldig auch digital stattfinden möchte, es aber faktisch nicht tut. Und selbst wenn er und seine Partei Formen und Inhalte in den kommenden Wochen noch auf die Reihe bekämen, wäre der Echoraum im Moment noch viel zu klein: Von den geschätzt über 30 Millionen Facebook-Nutzern in Deutschland erreicht Schulz direkt nur rund ein Prozent. Die übergroße Mehrheit der Wähler in Deutschland bekommt von Martin Schulz’ Aktivitäten dort weiterhin nichts mit. Dabei hatten die SPD und ihr Kandidat im Vergleich zu Labour und Jeremy Corbyn weit mehr Zeit, um sich sozialmedial in eine gute Ausgangsposition zu bringen. Das ist nicht gelungen.

Das Beispiel Corbyn zeigt jedoch: Zeit ist auf Social Media relativ, ein Hype, so er denn erst mal entsteht, füttert sich auf Facebook bestenfalls selbst für eine Weile. Bevor er wieder in sich zusammenfällt. Aktuell liegt Corbyn im Monat August mit seinen Interaktionszahlen nämlich nur noch 50.000 vor denen von Schulz. Der Corbyn-Zug hat also auch eine Vollbremsung hingelegt – allerdings erst nach der Wahl in Großbritannien und nicht, wie der Schulz-Zug, bereits Monate vor der in Deutschland. Theoretisch könnte letzterer wieder zum Durchstarten gebracht werden, auch da ist die Zeit relativ auf Facebook. Doch um eine Aufholjagd zu starten, muss man auch irgendwann mal richtig loslaufen.

Der WIRED-Kooperationspartner quintly hat eine eigene Social-Media-Analyse des Duells Merkel vs. Schulz angestellt, die noch viele weitere Aspekte abdeckt.

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