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Diese App lässt Iraner direkt an Propaganda vorbeiswipen

von Issie Lapowski
Die App Sandoogh96 gibt Iranern propagandafreien Zugang zu politischen Informationen im Netz. Die Macher wollen den Bürgern vor der kommenden Präsidentschaftswahl so ein Stück weit die Entscheidungsmacht zurückgeben. Gar nicht so einfach in einem Land, in dem der Informationsfluss so stark vom Staat gesteuert wird.

Am Morgen des 21. Juni 2009 wurde Maziar Bahari um kurz vor 8 Uhr von seiner Mutter geweckt. Vier Männer standen vor der Tür. Sie durchsuchten seine Sachen und nahmen ihn anschließend mit. Fünf Autos ohne Nummernschilder warteten auf der Straße. In einem davon fuhr man Bahari – ohne irgendetwas zu erklären – zum berüchtigten Evin-Gefängnis im Nordwesten von Teheran. Vier Monate lang wurde er dort festgehalten, in einer zwei Quadratmeter großen Zelle. Er wurde verhört, brutal geschlagen und man warf ihm Spionage vor. Der ausländische Geheimdienst, für den er gearbeitet haben sollte: Newsweek.

Bahari war seit 1998 Iran-Korrespondent des Magazins, 2011 veröffentlichte er dort auch einen Artikel über seine 118 Tage im Gefängnis. Dass seine langjährige Tätigkeit für Newsweek ausgerechnet 2009 zum Problem wurde, erklärt er mit der politischen Lage in diesem Jahr: Die Regierung reagierte mit Repressalien auf Proteste der Bevölkerung, die Situation für Journalisten verschlechterte sich drastisch. Tausende waren rund um die Präsidentschaftswahlen auf die Straße gegangen. Mehr als 300 Journalisten wurden anschließend ins Gefängnis geworfen. Dutzende von ihnen sind noch immer in Haft, andere mussten ins Exil gehen.

Verglichen mit der Zensur, die die iranische Regierung ausübt, wirkt das vergiftete Verhältnis zwischen Donald Trump und der US-Presse fast schon freundschaftlich. Wenn die Iraner in weniger als vier Monaten zur Wahl ihres Präsidenten aufgerufen sind, findet die Abstimmung in einem Land statt, in dem die Regierung alle Radio- und Fernsehstationen kontrolliert, in dem Satellitenschüsseln, die theoretisch ausländische TV-Programme empfangen können, immer wieder durch Regierungsangestellte zerstört werden und wo Menschen illegale Software einsetzen, um wenigstens um die Blockade von Social-Media-Seiten wie Facebook und Twitter herumzukommen. Wer nach propagandafreien Informationen über die sechs Präsidentschaftskandidaten sucht, braucht Geduld, Geschick und Mut.

Iran ist eine Diktatur des 20. Jahrhunderts im Umfeld des 21.

Maziar Bahari

Maziar Bahari lebt mittlerweile in London und leitet die Online-News-Organisation IranWire. Er versucht, mit Hilfe einer App seine Landsleute zu unterstützen und ihnen die nötigen Informationen über die zur Wahl stehenden Kandidaten zu liefern. Sie heißt Sandoogh96 beziehungsweise auf Englisch Vote2017. Wer sie nutzt, erfährt etwas über die politische Ausrichtung der einzelnen Politiker und kann entscheiden, wie nah an der eigenen – oder wie weit davon entfernt – sich diese befinden. Das Interface ähnelt dem der Dating-App Tinder: Durch Swipen nach rechts oder links können die Nutzer entscheiden, ob sie einer politischen Aussage zustimmen oder sie ablehnen. Irgendwann finden sie dann im Idealfall die nahezu perfekte politische Übereinstimmung. Die App liefert zudem Zusatzinfos darüber, wo die Kandidaten in Bezug auf Frauenrechte, Außenpolitik, Wirtschaft und andere wichtige Themen stehen. Auch Lokalnachrichten aus dem IranWire-Netzwerk von Bürgerjournalisten liefert die App.

Apps sind ein blinder Fleck bei den Zensurbemühungen der Regierung in Teheran. „Iran ist eine Diktatur des 20. Jahrhunderts im Umfeld des 21. Jahrhunderts“, sagt Bahari. „Die Regierung weiß, wie sie Zeitungen beeinflussen und Radiosignale unterdrücken kann. Aber mit digitaler Technologie kommt sie noch nicht ganz klar.“ Zunehmend wird es für die Zensurbehörden schwierig, der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten Herr zu werden, weil immer mehr Iraner Smartphones besitzen. Apps wie der Messenger Telegram haben sich als Möglichkeit zum Informationsaustausch bei politikinteressierten Iranern bewährt. Allerdings wurden in letzter Zeit einige Administratoren von Telegram-Gruppen verhaftet, sodass dringend Alternativen her müssen.

„Im Land selbst sollte man nicht auf das vertrauen, was die persischen Medien verbreiten“, sagt Firuzeh Mahmoudi, Leiter der Bürgerrechtsgruppe United for Iran in San Francisco. Im Rahmen ihres Inkubator-Programms IranCubator hat die Organisation 40.000 Dollar investiert, um Sandoogh96 auf die Beine zu stellen. Die App, die nun seit Anfang April verfügbar ist, wurde innerhalb der ersten Woche 1130 Mal heruntergeladen.

Eine App in einem Land bekannt zu machen, in dem die Verbreitung von Informationen streng reguliert wird, ist alles andere als einfach. Die meisten Nutzer hätten über IranWire von der App erfahren, sagt Bahari – obwohl die Seite im Iran geblockt ist. Trotzdem hat sie noch hunderttausende Leser, die die Filter der Regierung mit Hilfe von Software umgehen und so die App downloaden können. Sandoogh96 ist zwar auch bei iTunes und Google Play verfügbar, internationale Sanktionen machen es Iranern aber fast unmöglich, Kreditkarten zu bekommen, mit denen sie sich ein entsprechendes App-Store-Konto einrichten könnten. Zwar macht es Sandoogh96 einfacher, die politische Landschaft im Iran zu überblicken und zu verstehen, unkompliziert ist es deswegen aber noch lange nicht.

Dazu kommt, dass der Präsident gar nicht die mächtigste Person im Staat ist. Diese Rolle hat immer noch der Oberste Religionsführer Ali Khamenei inne. Zu gleichen Teilen religiöse wie politische Figur wird er nicht vom Volk gewählt, sondern vom sogenannten Expertenrat. Der Haken an der Sache ist, dass er selbst die Mitglieder dieses Rates ernennt. Selbst eine bestens informierte Wählerschaft kann im Iran als nur bis zu einem bestimmten Punkt Einfluss ausüben. Sandoogh96 kann lediglich als ein Weg gesehen werden, etwas Macht – wie gering sie auch sein mag – ans Volk zurückzugeben.

WIRED.com

Dieser Artikel erschien zuerst bei WIRED.com
Das Original lest ihr hier.

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