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Ein Experiment zeigt die kreativ-kooperative Seite von Reddit

von Dominik Schönleben
Am 1. April fand auf Reddit ein soziales Experiment statt. Es ging nicht um Fake News oder schlechte Witze zur aktuellen Nachrichtenlage. Sondern darum, ob Tausende Menschen in der Anonymität des Netzes zu einem demokratischen Konsens kommen können – um Kunst zu erschaffen.

Die Moderatoren von Reddit erschufen am 1. April ein experimentelle Website, die sie Place nannten: eine weiße Fläche aus 1000 x 1000 Pixeln, die es zu füllen galt. Jeder Nutzer konnte einen dieser Pixel einfärben, dann musste er fünf Minuten warten, bevor der nächste gezeichnet werden durfte. Ein bereits bemalter Bildpunkt konnte jedoch jederzeit von jemand anderem umgestaltet werden. Insgesamt 16 Farben standen zur Auswahl.

Am Anfangs gab es Chaos, die weiße Fläche wurde nach und nach mit bunten Farbpixeln besprenkelt. Niemand konnte allein etwas bewirken – oder brauchte zumindest sehr viel Zeit dafür. Nach und nach organisierten sich die Nutzer also, fingen an im Team zu agieren. Es entstand das Bild eines Dickbutts und einige schlecht gezeichnete Pokémon-Monster. Keine künstlerische Meisterleistungen, aber immerhin ein Anfang.

Als nächstes begann der Krieg um die Vorherrschaft: In einer Ecke der Leinwand formierte sich die Farbe blau, um die komplette Leinwand zu übernehmen. Auf einem eigenen Reddit-Board besprachen sich die Kämpfer von BlueCorner und breiteten sich Pixel für Pixel aus, verschlangen dabei all die kleinen Kritzeleien anderer Hobby-Künstler. Andere Farben versuchten, es ihnen nachzumachen. Rot wuchs aus der rechten oberen Ecke, lila aus der linken und ein Regenbogen zog sich von der Mitte zum Rand. Es war eine Schlacht, die viele Opfer forderte. Aber nach und nach realisierten die Nutzer, dass sie so jegliche Kreativität zerstörten.

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Die Wendung kam durch Pokémon. Es entstand Konsens, dass die drei aus Pixeln gemalten Monster Bisasam, Glumanda und Schiggi nicht der blauen Welle zum Opfer fallen sollten. Also gab es einen Präzedenzfall und die Farbflächen füllten sich nach und nach mit von der Community verschonten Projekten. Viele Reddit-Gruppen starteten ihre eigenen Bilder, um sich auf Place zu verewigen. Es entstanden die Logos von Videospielen und Serien, Landesflaggen oder politische Symbole – etwa der Hammer und die Sichel auf rotem Grund. Trotzdem wurden überall weiter Kleinkriege geführt. Es ging nur mühsam voran.

Dann kam 4Chan: Wie ein wuchernder Fremdkörper breitete sich plötzlich eine schwarze Pixelmasse von der Mitte aus. Sie griff um sich und verschlang alles, wie das Nichts aus der Unendlichen Geschichte von Michael Ende. Die Community der Website 4Chan – bekannt dafür, der dreckige Bodensatz des Netzes zu sein – machte sich einen Spaß daraus, Place zu zerstören. Wie so oft wollten sie ein Community-Projekt „just for the lulz“ kapern. Es schien, als würde Place der Zerstörungswut des Mobs zum Opfer fallen.

Die Reddit-Künstler kämpften einzeln gegen den Schwarm von 4Chan. Doch weil sie stets auch gegen ihre Nachbarn Kleinkriege auf der Leinwand führten, waren sie dessen Zerstörungswut hoffnungslos unterlegen. Doch dann passierte etwas unerwartetes: 4Chan trieb die einstigen Feinde zusammen, ließ sie neue Bündnisse schmieden. Als den Reddit-Nutzern bewusst wurde, dass sie unter einem Angriff von außen stehen, stellten sie sich gemeinsam dem Feind und trieben das schwarze Nichts zurück. Nicht mit eigenen Farbklecksen, sondern mit komplexen Bildern.

Durch den Angriff von Außen waren sie sich der Zerbrechlichkeit der eigenen Welt gewahr geworden, waren näher zusammengerückt und hatten neue Freunde gefunden. Schlussendlich führte er die Reddit-Nutzer in eine neue Ära der Kooperation. Die Konflikte zwischen den einzelnen Communities gehörten plötzlich der Vergangenheit an. Sie agierten gemeinsam und koordiniert. Die Folge war ein neues Utopia.

Es wurden Gedichte geschrieben, die Mona Lisa und ein Van-Gogh-Gemälde gezeichnet. Manche Bilder überlebten, wurden ausgebaut oder neu interpretiert, andere wurden stetig durch neue Ideen ersetzt. Place entwickelte sich langsam aber stetig zu einem kollektiven Kunstwerk des anonymen Netzes. Bei dem die einzelnen Akteure halbwegs friedlich kooperierten, um etwas Wunderbares zu erschaffen.

Nach 72 Stunden endete das Experiment. Entstanden war ein Mashup aus Internet-Kultur und Fandom, ein Bild, das irgendwie jenes Ideal einfängt, von dem sich die Erfinder des Webs wohl mehr gewünscht hätten: Menschen die zusammenkommen, um etwas zu erschaffen, das größer ist, als sie selbst.

Bei Place brauchte es erst eine finstere Macht von außen, einen gemeinsamen Feind, damit die Menschen begriffen, was es zu verlieren galt. Die ließ sie alte Feindschaften vergessen und noch härter zusammenzuarbeiten. Das Experiment gibt also Hoffnung, dass eine anonyme Masse doch für eine gemeinsame bessere Welt arbeiten kann – wenn auch nur im Angesicht des eigenen Untergangs.

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