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Big Data, Big Brother: China will Punkte für moralisches Verhalten vergeben

von Marius Münstermann
Dass Chinas Regierung das Verhalten ihrer Bürger im Internet streng überwacht, ist nicht neu. Bislang jedoch fehlt es ihr an Möglichkeiten, die schiere Menge der ausgewerteten Daten zu sammeln und diese langfristig nutzbar zu machen. Das soll sich nach dem Wunsch der Regierung bald ändern.

Bis 2017 soll eine zentrale elektronische Datei entstehen, in der ökonomische Entscheidungen, aber auch Angaben zum „sozialen Verhalten” aller Bürger und Unternehmen erfasst werden. Bis 2020 will die Regierung zudem eine gesetzliche Grundlage verabschieden, die die Regeln für ein Punktesystem festlegt. Mit diesem sollen die gesammelten Daten bewertet werden. 

Derartige Register gibt es in manchen Provinzen ansatzweise bereits seit 2003. Auch Unternehmen werden vom Zollamt schon jetzt in „zertifizierte”, „allgemeine” und „diskreditierte” Firmen kategorisiert. Seit vergangenem Jahr jedoch arbeitet ein Stab hochrangiger Mitarbeiter aus allen Ministerien daran, das Vorhaben massiv auszuweiten. Ziel sei eine „Kultur der Aufrichtigkeit”, so der tongebende Staatsrat der Kommunistischen Partei (KP). 

Ziel ist eine Kultur der Aufrichtigkeit.

Staatsrat der Kommunistischen Partei (KP) in China

Nun werden erste Details zu dem Social Credit System genannten Punkteranking bekannt. Dieses soll im Falle von Privatpersonen das polizeiliche Führungszeugnis, Angaben zum Kaufverhalten und den Kontostand, aber auch Kommentare umfassen, die die Nutzer im Internet hinterlassen. Diese Daten werden mithilfe der Nummer auf dem Personalausweis verknüpft — bei Unternehmen mithilfe der Registrierungsnummer. Das geht aus einer kürzlich vom Staatsrat veröffentlichten Direktive hervor, die der Sinologe und Medienforscher Rogier Creemers von der Universität Oxford ins Englische übersetzt hat.

Unklar ist nach wie vor, wie etwa regierungskritische Kommentare im Netz oder Regelverstöße im Straßenverkehr gewertet werden sollen — und welche Konsequenzen der damit verbundene Punktabzug für die Betroffenen haben könnte. Wie die meisten Regierungsvorhaben bleibt auch das Dokument in seinen Formulierungen sehr vage. Kritiker mutmaßen, dass die Regierung sich einen möglichst großen Interpretationsspielraum offen halten wolle. Was falsch und was richtig ist, könnte die Partei dann im Einzelfall willkürlich entscheiden. 

Die Regierung könnte so einen neuen Bürger formen und steuern.

Rogier Creemers, Sinologe an der Universität Oxford

Beobachter wie Rogier Creemers befürchten zudem, dass Personen mit Punktabzug Nachteile drohen, etwa bei der Jobsuche. Creemers sieht in dem System gar die Möglichkeit, einen „neuen Bürger” zu formen, dessen Verhalten sich steuern ließe. 

Kritiker sehen in dem System eine digitalisierte Form des Dang‘an, eines zentralen Registers, das vor allem unter Mao Zedong dazu diente, das Privatleben der Bürger strikt zu regulieren.   

Seit Chinas ökonomischer Öffnung in den 90er-Jahren und der damit einhergehenden Schaffung eines marktorientierten Arbeitsmarkts, verlor das Dang‘an-Register zumindest in Bezug auf die Jobsuche an Bedeutung. Heute lassen sich Jobs ohne Vorzeigen des Dang‘an wählen. Auch für eine Heirat ist heute nicht mehr die Zustimmung des Arbeitsgebers notwendig. 

Die Regierung hingegen betont, ein Ranking könne helfen, Vertrauen herzustellen. Als zwischen 2007 und 2008 etwa bekannt wurde, dass Babymilch und andere Produkte teils schwer kontaminiert waren, machte sich bei Konsumenten und Händlern Panik breit. Laut Regierung hätte ein Ranking die Stimmung beruhigen können, indem seriöse Unternehmen mit einem entsprechend hohen Ranking sich von unseriösen Anbietern hätten abgrenzen und ihre sicheren Produkte weiter auf den Markt bringen können.  

Dieses Punktesystem ist wie Amazons Konsumenten-Tracking, abgedriftet in eine Orwell‘sche Politik.

Johan Lagerkvist, Sinologe am Swedish Institue of International Affairs


In dem Leitfaden des Staatsrats heißt es darüber hinaus, das Punktesystem sei „eine wichtige Komponente des sozialen Regierungssystems”, welche das Verhalten der Internetnutzer „mit Nachdruck” beeinflussen solle. So fordert der Staatsrat die Verantwortlichen in Kommunen und Provinzen auf, Verstöße zu sanktionieren. Wie genau diese Bestrafung aussehen soll, bleibt unklar. 

Unklar ist im Moment ebenfalls, inwiefern die Regierung für ihr Vorhaben auf Daten zugreift, die von privaten IT-Unternehmen gesammelt werden. Es ist zumindest zweifelhaft, ob sich Unternehmen der Preisgabe dieser Daten verweigern können, wenn sie in Zukunft weiter auf dem chinesischen Markt argieren wollen.  

Der Kritik schließt sich auch Johan Lagerkvist vom Swedish Institue of International Affairs an, der sich schon seit Längerem mit den politischen Rahmenbedingungen des Internets in China befasst. Gegenüber der niederländischen Zeitung De Volkskrant sagte Lagerkvist, das Punktesystem erinnere ihn an „Amazons Konsumenten-Tracking, abgedriftet in eine Orwell‘sche Politik”. 

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