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Polizeikongress in Berlin: So wollen die Ermittler in Zukunft arbeiten

von Sonja Peteranderl
IS-Propaganda im Internet, Predictive Policing und Cybercrime — darüber diskutierten Polizisten, Ermittler und Sicherheitsexperten beim Europäischen Polizeikongress in Berlin. WIRED Germany fasst die wichtigsten Trends zusammen, die die Sicherheitskräfte beschäftigen.

#1 IS-Propaganda im Netz überfordert die Ermittler — gleichzeitig ist sie eine wichtige Quelle

Terroranschläge in Paris, deutsche IS-Anhänger, die in den Kampf ziehen, Propaganda im Internet: Terrorismus ist für die Sicherheitsbehörden aktuell die drängendste Herausforderung. 600 IS-Sympathisanten sind aus Deutschland nach Syrien oder Irak ausgereist, 120 junge Männer sind zurückgekehrt, die in Deutschland Anschläge ausführen könnten. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sagt, 70 der Rückkehrer hätten mit Sicherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit im Ausland an Kämpfen teilgenommen und könnten mit Kriegswaffen umgehen. Dazu kommt die Radikalisierung durch IS-Propaganda im Internet: „Videos und Botschaften aus Syrien und dem Irak enthalten oft auch Aufforderungen, nicht nach Syrien oder Irak gehen“, so Maaßen. Stattdessen werde zum „individuellen Dschihad in den Heimatländern“ aufgerufen.

 

Die Propaganda im Netz überfordert die Behörden: „Wir haben nicht alle Leute auf dem Radarschirm, die sich zu Hause radikalisieren könnten“, gibt Maaßen zu. Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, aber auch mobile Chat-Apps wie WhatsApp spielen bei IS eine zentrale Rolle für Propaganda und Rekrutierung. Anders als bei Al-Qaida früher ist der Großteil der Kommunikation heute dezentral, Tausende Anhänger verbreiten Botschaften, Fotos und Videos, zum Teil direkt aus dem Kampfgebiet, und lassen sich schwer überwachen. Andererseits liefern digitale Hinweise den Ermittlern wichtige Einblicke in die Lebenswelt der IS-Sympathisanten, etwa bei Rückkehrern: „In Teilen sind sie so freundlich, dass sie uns über Facebook und Twitter mitteilen, dass sie an Kriegshandlungen teilgenommen haben“, sagt Maaßen.

#2 Sicherheit vs. Freiheit: Die Behörden fordern mehr Überwachungsmöglichkeiten

Im Kontext des Terroristismus fordern zahlreiche Behördenvertreter einen erweiterten Handlungsspielraum für die Sicherheitsbehörden — konkrete Maßnahmen wurden aber nur selten benannt, zumindest nicht auf dem Podium. „Wir müssen uns, was Personalressourcen, aber auch was Befugnisse betrifft, auf die Höhe der Zeit bringen“, sagt der Verfassungsschutzpräsident. Laut einem Bericht, der Netzpolitik.org vorliegt, bedeutet das unter anderem: Die Beobachtung und Analyse von sozialen Netzwerken, etwa in Bezug auf islamistische Inhalte, soll in Zukunft automatisiert erfolgen.

Und nur einer forderte die Vorratsdatenspeicherung.

Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, war der Einzige, der während des Polizeikongresses explizit die „Mindestspeicherfrist für Telekommunikationsdaten“ forderte, also die in Deutschland umstrittene Vorratsdatenspeicherung. Falls die EU keine Richtlinie verabschiede, müsse Deutschland selbst die Initiative ergreifen, so Krings. Er sei zuversichtlich, dass die Mindestspeicherfrist auch in Deutschland noch eingeführt werde.

Nach den Terroranschlägen in Paris hatten Politiker wie US-Präsident Barack Obama, der britische Premier David Cameron, aber auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière gefordert, dass Sicherheitsbehörden fähig sein müssten, verschlüsselte Kommunikation zu entschlüsseln oder zu umgehen. Doch Themen wie ein mögliches Verbot der Verschlüsselung oder der Einbau von Backdoors in Verschlüsselungssoftware kamen auf dem Polizeikongress in Berlin nicht vor. „Verschlüsselung hat ihre guten und schlechten Seiten“, sagte Jean Dominique Nollet vom European Cybercrime Centre (EC3). Der Umgang mit Verschlüsselung müsse gesellschaftlich diskutiert werden. „Ich weiß nicht, wie wir damit umgehen sollen, ich weiß nur, dass es ein Problem ist“, sagte Nollet. „Aber als Polizeibeamter finde ich, dass es normal sein sollte, Tools zu haben, mit denen wir kriminelle Inhalte entschlüsseln können.“

#3 Verbrechensbekämpfung ist heute global — doch der Datenaustausch muss besser funktionieren

Inzwischen wurden zwar auf nationaler und internationaler Ebene Systeme für Polizei und Geheimdienste etabliert, die einen länder- und behördenübergreifenden Datenaustausch erleichtern sollen, doch die Kommunikation verläuft nicht ideal. „Der Willen ist immer noch nicht da, die Informationen zu teilen“, kritisierte Max-Peter Ratzel, ehemaliger Direktor von Europol. „Die internationale Zusammenarbeit ist nach wie vor defizitär.“

Mangelndes Training, narzisstischer Selbstbezug und unterschiedliche Kulturen

Ein narzisstischer Selbstbezug, mangelndes Training, fehlende Kapazitäten, aber auch unterschiedliche Kulturen von Polizei und Sicherheitsbehörden verhindern häufig eine Kooperation. Gute Zusammenarbeit verläuft oft eher über Verbindungen nach dem „Old Boys Network“-Prinzip: Informationen werden informell mit Kollegen ausgetauscht, Probleme mitunter mit einem schnellen Telefonanruf bei alten Bekannten gelöst.

#4 Jeder kann Cyberkrimineller werden — das bedeutet: Tausende neue Fälle für die Ermittler

Die Zahl der Cyberattacken in Deutschland nimmt zu, die Fahndungserfolge sinken: Die Aufklärungsquote von Cybercrime-Fällen fiel Carsten Meywirth, dem Leiter der Dienststelle Cybercrime im Bundeskriminalamt zufolge zuletzt von 37 auf 25 Prozent. Hinzu kommt die Dunkelziffer von Fällen, die nicht entdeckt oder nicht gemeldet worden sind. Den Grund sieht Meywirth vor allem in der Zunahme krimineller Tools und Dienstleistungen, mit denen jeder Amateur im Internet Verbrechen begehen kann.

Softwares wie Keylogger, die Tastatureingaben tracken und so Passwörter stehlen, finden sich online kostenlos, komplexere Hilfestellungen für die Durchführung krimineller Aktionen sind käuflich. „Eine ganze Untergrundwirtschaft ist entstanden, die über illegale Portale im Netz auch Infrastrukturdienste bietet — so kann man Passwörter für Onlineplattformen kaufen, sich Schadsoftware programmieren oder Malware an möglichst viele Leute verbreiten lassen“, sagt Carsten Meywirth. Ermittler haben das Nachsehen — auch weil die Server, die die kriminellen Netzwerke nutzen, sich meist im Ausland befinden.

#5 Internet of Things: Bald muss die Polizei sich auch um gehackte Autos kümmern

Neben einer wachsenden Zahl von Angriffen auf mobile Endgeräte und zunehmenden Hardware-Angriffen rollt mit dem Internet of Things eine weitere Welle von Cyber-Attacken auf die Ermittler zu. Schon jetzt hängen zu viele Geräte ungeschützt im Netz. Für Hacker eröffnen sich so zahlreiche neue Einfallstore — und häufig sind Unternehmen, aber auch Behörden die Schnittstellen ins Netz gar nicht bewusst.

Motor, Bremsen und Sicherheitssysteme können gehackt werden.

„Geschäftsprozesse werden zunehmend mit dem Internet verbunden“, sagt Carsten Meywirth vom BKA. „Das stellt einen großen Markt für Cyberkriminelle dar.“ Auch Autos werden in Zukunft Opfer sein: Sicherheitsforscher haben schon demonstriert, wie sie Motor, Bremsen oder das Sicherheitssystem manipulieren und fernsteuern können.

#6 Der Kampf gegen Cybercrime ist Gemeinschaftsarbeit

Die Polizei allein kann Cyberkriminalität nicht zurückdrängen. Auch die Nutzer — Bürger ebenso wie Unternehmen und staatliche Organisationen — müssen aufgeklärt und in Debatten miteinbezogen werden. Tools allein helfen nicht: 243 Tage dauert es dem Verizon Breach Report 2014 zufolge im Durchschnitt, bis Unternehmen oder Behörden auf eine Hackerattacke aufmerksam werden. Die Angreifer können sich so ungestört im System umsehen, Daten abgreifen oder manipulieren. Unternehmen brauchen deswegen effektivere Tracking-Systeme, bessere Prozesse und Notfallpläne für Cyberattacken.

„Bildung ist zentral“, glaubt auch Jean Dominique Nollet vom EC3. „Denn das leichteste Ziel ist nicht der Computer oder das Smartphone, sondern der Nutzer.“ Entscheidungsträger wie Politiker, aber auch Anwälte brauchen mehr IT-Kompetenzen. „Wir müssen verstehen, was technisch machbar ist und was nicht“, so Nollet.

#7 Verbrechen werden bald mit Big Data vorhergesagt — vielleicht

Big Data war schon beim Polizeikongress 2014 ein vieldiskutierter Trend, inzwischen experimentieren Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen mit Predictive Policing-Pilotprojekten, die Datenmengen aus verschiedenen Quellen zusammenführen, Muster erkennen und kriminelle Hotspots identifizieren sollen. Die digitalen Lagebilder könnten in Zukunft Echtzeit-Daten aus Polizeidatenbanken, aber auch sozioökonomische Daten oder Informationen aus dem öffentlichen Raum wie das Verkehrsaufkommen verbinden. Dass die Polizei noch vor dem Täter am Tatort ankommt, bleibt aber erstmal eine Sci-Fi-Utopie: „Eine komplette Automatisierung und konkrete Vorhersage von Täteridentitäten und Taten ist eine Schimäre und auch nicht angestrebt“, sagt Dieter Schürmann vom LKA Nordrhein-Westfalen. Prognosen und Strategien könnten aber durch die Datenanalyse verbessert werden.

#8 Die Polizei muss schneller werden, um zu den Kriminellen aufzuschließen

Cloud Computing für digitale Beweise, Software, mit der Polizisten auf dem iPad Menschenströme bei Großveranstaltungen in Echtzeit tracken können, Smartphone-Apps, die bei Einsätzen helfen: Auf dem Polizeikongress 2015 haben zahlreiche Startups und große IT-Unternehmen Software und Gadgets vorgestellt, die Sicherheitskräfte smart bei der Arbeit unterstützen könnten — doch vieles bleibt erstmal eine Zukunftsvision für die deutsche Polizei. „Behörden hinken der Entwicklung der Technologie etwa fünf bis zehn Jahre hinterher“, kritisierte Horst Sandfort bei seinem Vortrag zur Digitalisierung und den Herausforderungen für die Strafverfolgungsbehörden. Kriminelle seien wesentlich schneller darin, Hightech-Trends aufzugreifen als die Polizei. „Wenn wir neue Technologien nicht schnell genug einführen, bekommen wir mit Sicherheit eine größere Schere, zwischen dem, was wir verhindern können, und dem, was um uns herum passiert“, so Sandfort.

Als Berater von Taser International hat Sandfort zwar selbst ein berufliches Interesse daran, dass Polizeibehörden sich mit Hightech ausstatten, doch tatsächlich ist die Etablierung von technischen Innovationen in Deutschland zäh — wie allein das Beispiel Smartphones zeigt. Die meisten Polizisten dürfen in Deutschland bisher überhaupt keine Smartphones bei der Arbeit nutzen, die Diensthandys sind in der Regel Oldschool-Handys ohne Internet. Manche helfen sich mit ihren privaten Smartphones aus, wenn sie schnell eine Information googeln wollen. Mehrere Landeskriminalämter basteln jetzt an Smartphone-Lösungen, die die Datenschutzbestimmungen erfüllen, doch jedes Bundesland geht im föderalen deutschen Polizeisystem seinen eigenen Weg. So setzt die hessische Polizei etwa auf Blackberry-Smartphones, andere Landeskriminalämter streben andere Hardware- und Software-Lösungen an. Wie alle Landeskriminalämter unter diesen Umständen irgendwann auch mobil smart und doch sicher miteinander kommunizieren, arbeiten und Daten austauschen sollen, könnte das Thema beim nächsten Polizeikongress sein. 

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