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„Organum Vivum“: Kefir und Kombucha als Musikinstrument

von Oliver Klatt
Fichtenholz und Pferdehaar, Ziegenleder und Rinderdarm: Musikinstrumente bestehen seit jeher aus Materialien, die der Mensch der Natur entnommen hat. Wer elektronische Musik macht, drückt hingegen meistens auf Plastikknöpfen oder Glasoberflächen herum. „Organum Vivum“ soll das ändern.

Das Interface des Instruments, das der Berliner Paul Seidler und Aliisa Talja aus Helsinki entwickelt haben, sieht aus wie ein schrumpeliges Stück Haut, besteht aber — weit weniger gruselig — aus herangezüchteter Zellulose. Einige dünne Kabel verbinden die Bio-Schnittstelle mit einem Laptop. Wenn Seidler mit dem Finger die Oberfläche des Instruments berührt oder Talja in eine Maske hineinatmet, die mit Zellulose ausgekleidet ist, knistert und brummt es gewaltig. Die Klänge, die mithilfe von „Organum Vivum“ erzeugt werden, wirken natürlich und elektronisch zugleich. WIRED Germany haben die beiden Medienkünstler ihre Mensch-Maschine-Verknüpfung erklärt.

WIRED: Wie ist „Organum Vivum“ entstanden? Was war der Ursprungsgedanke?
Paul Seidler: Das Projekt ist über einen Zeitraum von sechs Monaten im UDK-Forschungsprojekt 3DMIN entwickelt worden. Während dieser Zeit haben Aliisa und ich uns mit biologischen Wachstumsprozessen und generativer Klangerzeugung beschäftigt. Wir haben angefangen, mit biologischen Materialien zu experimentieren und deren haptische und elektronische Eigenschaften zu untersuchen. Dabei sind wir unter anderem auf Materialien wie Kefirknollen und Kombucha-Pilze gestoßen.
Aliisa Talja: Uns interessierte die Idee, ein System nicht nur zu kontrollieren, sondern als ein Teilstück davon zu agieren. Wir fanden es interessant, die hierarchische Struktur zwischen Instrument und Musiker aufzubrechen.
Seidler: Entwickelt wurde die Hard- und Software dann im Hacklab beim diesjährigen CTM Festival. Dort haben wir auch Leslie Garcia getroffen, die sich schon seit mehren Jahren mit interspezifischer Kommunikation auseinandersetzt. Dank ihrer Hilfe hatten wir dann am Ende des Hacklabs einen fertigen Prototypen.

Wir wollen die hierarische Struktur zwischen Instrument und Musiker aufbrechen.

Aliisa Talja

WIRED: Wie genau funktioniert „Organum Vivum“?
Seidler: Es ist eine Kombination aus Open-Source-Software und selbstgebastelter Hardware. Dabei messen wir über einen Mikrocontroller kleinste Veränderungen des elektrischen Widerstandes im Biomaterial und benutzen diese Werte als Steuerparameter für digitale Klangsynthese und Modulation. Der hohe Anteil von Wasser in Kombucha-Pilzen macht diese zu idealen Sensoren für Berührung, Atem und Hitze. Dabei kann man sich den Kombucha-Pilz als einen ähnlichen Allzwecksensor wie unsere Haut vorstellen. Die gleiche Messtechnik wird deshalb auch bei Lügendetektoren eingesetzt: Man misst die elektrische Leitfähigkeit der Haut als eine Art Biofeedback.

WIRED: Ein Interface aus Pilzen?
Talja: Die organischen Stücke bestehen aus Bakterienzellulose. Diese wächst bei Raumtemperatur in einer Lösung aus Wasser, Schwarztee und Zucker. Auf der Oberfläche bildet sich um die Basiskultur eine mit der Zeit dicker werdende Schicht, die langsam die Form des Behälters annimmt. Diese wird dann geerntet und getrocknet, bevor wir die Kabel direkt im Material befestigen. Die Hardware besteht zudem noch aus einem Arduino, einem gelöteten Schaltkreis auf einem Prototyping-Board sowie elastischen Schnüren, EVA-Schaum, Baumwolle, Acrylglas und Polypropylen. Wir haben bis jetzt nur einen funktionierenden Prototypen gebaut. Das Instrument wird also sicher nicht in Serie gehen.

WIRED: Worin unterscheidet sich das Spielen auf „Organum Vivum“ von dem auf anderen Instrumenten? Die bestehen ja auch häufig aus Haut und Haaren.
Talja: Im Gegensatz zu traditionellen Instrumenten aus Leder oder Tierhaaren benutzen wir das organische Material nicht zur akustischen Klangerzeugung. Man könnte das Instrument als elektronisches Touchpad beschreiben, mit dem Unterschied, dass es aus organischem Material besteht und relativ unpräzise ist. Die Spielbarkeit des Materials ist nur unter bestimmten Bedingungen gegeben, und selbst dann beeinflusst der Spieler das Instrument mehr, als dass er die volle Kontrolle hat.
Seidler: Das Instrument lässt sich nicht sehr einfach kontrollieren, da viele Faktoren Veränderungen der Parameter bewirken können. Das ist aber gewollt. Wir geben Kontrolle an das Material ab. Der Output ist damit nur teilweise vom Spielenden beeinflusst, der stets auch ein bisschen im Unklaren über seine Interaktion und deren genaue Wirkung bleibt. Es ist auch nahezu unmöglich, das gleiche Konzert zweimal zu spielen.

Wir geben die Kontrolle an das Material ab.

Paul Seidler

WIRED: Wie würdet ihr die Musik beschreiben, die dabei entsteht? Welche Qualitäten hat sie?
Talja: Ich würde es eher als eine Soundscape beschreiben. Die digitale Soundsynthese ist von Bioakustik inspiriert. Sie imitiert Eigenschaften von organischen, periodischen Geräuschmustern wie zum Beispiel dem Schnurren einer Katze und der Stridulation von Grillen gemischt mit rohen elektronischen Wellenformen. Diese Teilstücke finden in einer minimalen, meditativen aber unterschwellig tierischen Soundscape zusammen. Die soll sowohl synthetisch als auch organisch klingen und Assoziationen zu konstruierten Organismen wecken.

WIRED: Diese organische Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine scheint Ausdruck für ein Bedürfnis zu sein, der Elektronik sinnlich näher zu kommen. Wie erklärt ihr euch dieses Verlangen? Habt ihr das Gefühl, über „Organum Vivum“ tatsächlich direkter mit dem Computer verbunden zu sein?
Talja: Eine der ersten Ideen, die ich hatte, war die Distanz zwischen uns und anderen Organismen zu verringern. Wir wollten darüber nachdenken, eine natürliche Interaktion zwischen uns zu etablieren und vielleicht sogar ein übergreifendes System zu formen. Im Endeffekt haben wir ein System kreiert, in dem wir selbst nur noch als Teil eines Gesamtorganismus funktionieren können. Dabei war es wichtig, die Rolle des Spieles als gleichberechtigt mit der des Instrumentes zu verstehen.
Seidler: Für mich ist vor allem die Frage interessant, wie man eine Computer- und Mensch/Maschinen-Interaktion anders denken kann. Klar haben wir in der Arbeit viel an einer „lebendigen” Mensch-Maschinen-Schnittstelle gearbeitet. Allerdings auch, weil uns keine Technologie zur Verfügung stand, synthetische biologische Materialen in tiefergehenden Ebenen des Rechners, wie etwa der CPU, zu integrieren. Ich denke, es lohnt sich über die Materialität einer Turing-Maschine nachzudenken, und dazu soll unsere Arbeit auch einen Anstoß liefern. 

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