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OkStupid / Von der Angst, beim Dating vermessen zu werden

von Georg Gross
Beim Flirten auf Partys sind da immer noch die anderen: die Nebenbuhler und Konkurrenten, mit denen man sich unweigerlich vergleicht. Dating-Portale hingegen bieten die perfekte optische Täuschung: einen Raum voller sehnsüchtig wartender Mitglieder des begehrten Geschlechts.

So ein Samstagabend ist, streng kapitalistisch betrachtet, ja auch nichts anderes als ein Handelstag an der Sehnsuchtsbörse. Man betritt einen Club oder eine Bar, vielleicht auch eine Wohnung, in der eine Party stattfindet, und als erstes verschafft man sich einen Überblick über die Handelsteilnehmer. Da ist ein Raum voller Frauen und Männer, manche stehen alleine herum, manche zu zweit, manche in größeren Gruppen. Die Leute, die ihren Paarstatus in der Öffentlichkeit performen mit Händchenhalten und Küsschen und so, kann man als Sehnsüchtiger im Geiste gleich streichen. Doch der Rest besteht aus lauter potentiellen Marktteilnehmern. Und durch ihr Verhalten im großen kakophonischen Konzert der Blicke, das in so einem Partyraum gegeben wird, signalisieren sie, ob sie mitspielen wollen oder sich zum Beispiel bloß in Ruhe besaufen möchten.

Angebot und Nachfrage, die beiden Grundfunktionen des kapitalistischen Marktes, treffen mehr oder minder offen aufeinander. Verhandlungen werden eröffnet, und welche Deals abgeschlossen wurden, erkennt man samstagabends — beziehungsweise sonntagmorgens — daran, wer den Raum nicht so alleine verlässt, wie er oder sie ihn am Anfang betreten hat. Die vorgebliche „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“, die vor ein paar Jahren mal als neues Phänomen angeprangert wurde, gab es beim Flirten schon immer.

Ökonomisierung aller Lebensbereiche? Die gab es beim Flirten schon immer.

Der Witz an Dating-Seiten ist im Gegensatz zum Ausgehen in der echten Welt ja, dass sie einem nur etwas weniger als die Hälfte der Party zeigen, jedenfalls wenn die eigene sexuelle Orientierung heterosexuell ist: Als Mann zum Beispiel sieht man dann auf OkCupid nur einen Raum voller Frauen, ihre Profile sind schön geordnet, etwa nach Matching-Prozenten. Diese Frauen haben bei der Frage danach, wonach sie suchen, das Kästchen angeklickt, wo „Männer“ draufsteht, sind also zumeist auch hetero-, vielleicht aber auch bi- oder zum Beispiel sapiosexuell. Eine Party, zu der ausschließlich Frauen eingeladen wurden, die anscheinend auf niemanden anders als einen selbst gewartet haben: Was für ein Männertraum!

Komischerweise werfen die Frauen sich einem dann aber nicht gleich alle an den Hals. Tatsächlich herrscht online das gleiche Flirthandelsgeschehen, also auch die gleich hohe Wahrscheinlichkeit des Nichtzustandekommens eines Liebesdeals wie offline. Nur wird die Konkurrenz, gegen die man antritt, bei Heterosexuellen komplett ausgeblendet. Aktienmäßig lässt sich das am ehesten vergleichen mit den sogenannten Dark Pools im Onlinebörsenhandel, in denen Käufer und Verkäufer von Wertpapieren im Dunklen herumschwimmen und einander nur am selben Interesse an einem bestimmten Deal erkennen. Die Lichter werden im virtuellen Börsensaal ausgeschaltet, damit niemand sonst auf dem Parkett von der Transaktion etwas mitkriegt. Okay, eigentlich sind Dark Pools also eher so etwas wie schlecht beleuchtete Börsenbordelle.

Der durchschnittliche heterosexuelle Mann hat Angst davor, vermessen und verglichen zu werden.

Womit wir wieder beim heterosexuellen Mann wären. Dem eilt der Ruf voraus, er sei von Natur her oder aus allerlei Erziehungs- und gesellschaftlichen Gründen besonders wettbewerbsorientiert. Das jedoch, möchte ich hier als heterosexueller Mann endlich einmal klarstellen, ist ein ganz übles Stereotyp, ein völlig überkommenes Geschlechterklischee! Tatsächlich hat der durchschnittliche heterosexuelle Mann nach meiner Erfahrung eher Angst davor, vermessen und verglichen zu werden, und das gilt bei weitem nicht nur für seine, ähem, Schwanzlänge. Das Schlimmste an der Konkurrenz ist für ihn gar nicht, dass die angeblich nicht schläft. Sondern dass sie überhaupt existiert. Konkurrenz ist nichts anderes als eine narzisstische Kränkung: Wie, ich bin gar nicht allein auf der Welt? Skandal!

Datingseiten ersparen einem diese narzisstische Kränkung, sie bieten eine perfekte optische Täuschung: einen Partyraum voller sehnsüchtig wartender Mitglieder des anderen Geschlechts. Und doch bleibt im Hinterkopf stets die Gewissheit: In Wahrheit sind noch ganz viele andere Leute mit im Raum, und zwar unter anderem schönere, klügere, besserangezogene, erfolgreichere, weitergereiste, gebildetere Männer, als man selbst einer ist. OkCupid, Tinder und Co. machen sie bloß alle unsichtbar. Die Seite oder App schützt mich vor der Wahrheit, der meine schwulen Freunde auf GayRomeo mutig ins Gesicht sehen: Man ist immer nur einer von vielen, es gibt stets bessere Partien als einen selbst.

Wir Heteros sind gemessen daran echt Memmen. Wir nennen es bloß anders. Wir nennen es: Romantik.

Diese Kolumne wird wöchentlich von mehreren AutorInnen unter Pseudonym verfasst. Alle Folgen findet ihr hier

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