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Europa-Quote für Netflix und Co.: Richtiges Ziel, falsches Werkzeug

von Michael Förtsch
Nach dem Europäischen Parlament hat sich auch der EU-Ministerrat dafür ausgesprochen, dass Netflix und Amazon Video bald mindestens 30 Prozent Inhalte aus Europa zeigen müssen. Das klingt zwar bizarr, kommentiert Michael Förtsch, aber es könnte die dröge Film- und Serienlandschaft in Deutschland zum Besseren verändern.

Es ist nicht so, dass den großen TV-Sendern die Zuschauer in Massen davonlaufen. Noch immer klebt der Durchschnittsdeutsche täglich rund 220 Minuten vor der Glotze. Dennoch wenden sich seit Jahren immer mehr Menschen vom linearen Fernsehprogramm ab. Vor allem netzaffine, junge Zuschauer können mit der Berieselung durch einen Mischmasch aus Pseudo-Dokumentationen, langen Werbeblöcken und Soaps immer weniger anfangen. Dann läuft auf dem Flachbild-TV, Laptop oder Tablet stattdessen eben Netflix, Amazon Video oder ein anderer Streaming- beziehungsweise Video-On-Demand-Dienst.

Was diese Video-Portale so anziehend und erfolgreich macht, ist, dass sie das Programmkorsett absprengen. Geschaut wird dort nicht, was kommt, sondern was man will – so viel und lange wie man möchte. Ebenso attraktiv ist das hochwertige Portfolio: Statt Fließbandberieselung wie Alles was zählt, Berlin Tag und Nacht oder Gute Zeiten, schlechte Zeiten laufen mit Aufwand und Hingabe produzierte Originale wie House of Cards, The Man in the High Castle, Bosch, Jessica Jones, Black Mirror, Making a Murderer oder Elvis & Nixon. Hinzu kommen Lizenz-Einkäufe wie Designated Survivor, Riverdale oder bald auch American Gods, die es sonst nur stark verzögert, wenn überhaupt ins deutsche TV-Programm schaffen.

Nicht weniger US-Produktionen, sondern hoffentlich mehr europäische

Viele dieser Inhalte kommen von außerhalb der EU, meist aus den USA. Dass das bei EU-Wettbewerbs- und Kulturhütern Argwohn weckt, kündigte sich schon länger an. Nun planen das EU-Parlament und der Ministerrat, in der Mediendiensterichtlinie festzuschreiben, dass die Bibliotheken von Anbietern wie Amazon Video, iTunes und Netflix zu 30 Prozent aus europäischen Werken bestehen müssen. Die Reaktionen? Meist genervt. Natürlich wirkt der Vorstoß albern. Aber was wären die Folgen? Der Beschluss bedeutet nicht, dass wir weniger hochwertige US-Produktionen sehen werden. Nein, es werden wohl einfach mehr gute Produktionen aus Deutschland und unserer Nachbarschaft dazukommen.

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Tatsächlich ist es so, dass schon jetzt großartige Filme und Serien aus Europa bei den VoD-Portalen zu finden sind. Darunter skandinavisch unterkühlte Krimis wie Die Brücke, Kommissarin Lund, Die Erbschaft, Hellfjord oder auch der Polit-Thriller Borgen und das Sci-Fi-Drama Real Humans. Aus Frankreich kommen dagegen die The-Returned-Vorlage Les Revenants, Borgia und Profiling Paris. Nicht zu vergessen die zahlreichen Kult-Serien unseres Noch-EU-Partners Großbritannien: Doctor Who, Sherlock oder Marcella etwa. Alles Produktionen von TV-Sendern. Mit Eigenengagement in Europa sind die Streaming- und VoD-Anbieter nämlich bisher sehr zögerlich. Die Quote könnte das ändern.

Bislang hat Netflix in Frankreich etwa das Gérard-Depardieu-Drama Marseille und in Norwegen die Gangster-Satire Lilyhammer inszeniert. Von Amazon kam die deutsche Hacker-Serie You Are Wanted. Durchaus aufwändige und mutige Projekte, die von deutschen Rundfunkanstalten wohl kaum abgesegnet worden wären. Dort wird Massentauglichkeit abgefragt, den Autoren und Regisseuren hineingeredet und mit Budget gegeizt. Spaß? Kreativität? Einfach mal ausprobieren, was geht? Schwierig. Ausreißer wie die Mini-Serie Im Angesicht des Verbrechens oder Ijon Tichy: Raumpilot grenzen da schon an ein Wunder.

Das falsche Mittel, um das richtige zu erreichen

Die Streaming-Riesen könnten die erstarrte und überängstliche Film- und Serien-Landschaft in Deutschland aufbrechen. Sie bieten kreative Freiräume, in denen Fernsehen mit Identität, Ecken und Kanten machbar ist, siehe The OA, Orange Is the New Black oder Transparent. Dass das auch für Deutschland stimmt, könnte im Winter die düstere Netflix-Mystery-Serie Dark beweisen. Doch nicht nur Serien und Filme taugen zur Erfüllung der EU-Quote. Auch europäische Dokumentation und Reportagen zählen. Solche, wie sie sonst zu gotteslästerlicher Stunde auf Arte oder Phoenix laufen, nur um dann für wenige Tage in den Mediatheken und anschließend im Depuplikationsnirvana zu verschwinden. Sie wären nicht nur ein Erfüllungsnotnagel für die Streaming-Dienste, sondern eine echte Bereicherung.

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Mehr Einsatz von Netflix, Amazon und Co. in Europa und ein Fokus auf lokale Produktionen könnten also viel bewirken. Aber sollte es dafür wirklich diese Quote brauchen? Nein. Sie ist ein brutales Werkzeug und eigentlich das falsche Mittel, um das richtige zu erreichen. Außerdem ist sie das peinliche Zeugnis eines unflexiblen Kultur- und Medienbetriebs: Die meisten europäischen Filmförderer, TV-Sender und Medieninstitutionen haben es schlichtweg verpennt, Anreize für die Streamer zu schaffen. Dabei wären vielerorts Kooperationen denk- und machbar gewesen, durch die die Netzgrößen unweigerlich und ungezwungen investiert und ihren Beitrag geleistet hätten. Aber die Europa-Quote muss ja nicht kommen, um zu bleiben.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 27. April und wurde an die aktuellen Entwicklungen angepasst.

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