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Nerdingers Fratze: Jetzt schlagen die Nerds zurück

von Anja Rützel
Ein Wort von ihm, und das Wasser der Bucht von San Francisco färbt sich von matttürkis in dunk­les Indigo. Eine Schnippgeste, und die verschwundene Golden Gate Bridge plumpst an ihre vorgesehene Stelle. „In meiner Welt kannst du Gott spielen“, sagt Erich Blunt, CEO der Techfirma Applsn, während er über San Francisco schwebt. Nicht physisch oder heilandsmäßig, die Stadt unter sich sieht er nur durch seine klobige Virtual-Reality-Brille – die Oculus-Rift-artige Gerätschaft, die Applsn entwickelt und die Blunt gerade testet. „Google wird sich in die Hosen scheißen“, sagt Ivana West, CTO von Applesn, später über diese Erfindung.

Mit seiner VR-Brille will Blunt „eine Kerbe ins Universum schlagen“, so dickhost er gleich in der ersten Folge der US-Serie Murder In The First (in Deutschland seit 30. September bei TNT). Doch nicht wegen dieser wüsten Disruptionswut ist der Techwunderbub (gespielt von Tom Feyton) die finsterste, bedrohlichste Figur der Krimiserie – der CEO mit dem leicht glotzhaften Stierblick steht unter mehrfachem Mordverdacht. Und behandelt bei den Ermittlungen gegen ihn alle Welt mit herrischer Blasierheit – als ihm die beiden Ermittler bei der Befragung eine ausgedruckte Mail unter die Nase halten, lacht Erich Blunt höhnisch auf: „Entschuldigung, ich sehe nicht oft Papier.“ Blunt ist der erste Silicon-Valley-Bösewicht in tragender Rolle, der mehr ist als eine klischee-nerdige Knallcharge im Kapuzenpullover. Natürlich muss auch er dauer­behoodiet in Googleplex-artigen Open-Space-Office-Hallen herumstehen, doch er darf auch ausgiebig über die Vision hinter seiner App schwadronieren.

Und obwohl er einen seiner Programmierer mit dem Tod bedroht, weil der ihn beschuldigt, seinen Code gestohlen zu haben, wird Blunt nicht als irrer, realistätsenthobener Computerspinner gezeichnet, sondern als echte, realistische Bedrohung – weil er das Wissen und die Machtmittel, die ihm als Techgenie zur Verfügung stehen, klirrkalt-schlau zu nutzen weiß. Und den Ermittlern einen Schitt voraus ist, wenn es darum geht, beweisschwere E-Mails und Nachrichten zu manipulieren. Blunt setzt sich über Gerichtsentscheidungen und Bewährungsauflagen hinweg, fährt zum Burning Man in die Wüste Nevadas, stolziert dort als Schädelkronenkönig umher – und zahlt bei der Rückkehr einfach die verdoppelte Kaution. „Ich werde gewinnen, weil ich smarter bin als ihr und mehr Kapital zur Verfügung habe“, sagt er im Verhör. „Ich habe mehr Ressourcen als diese ganze Stadt. Get a life!“

Vom harmlosen Genietrottel reifte der Serien-Nerd zur Bedrohung, weil sich auch seine Rolle in der Welt jenseits des TV-Bildschirms drastisch geändert hat.

Quatschfiguren und Schusselköpfe, in diesen Comic-relief-Rollen waren Computer-Nerds im Fernsehen lange gefangen. Ein paradoxer Hybrid aus Superhirn und Alltagstrottel, idealtypisch verkörpert von Murray Bozinsky aus Trio mit vier Fäusten, dem Eierkopf zwischen seinen topvirilen Detektivspezis. Er ist Robotik-Experte, hat eine MIT-Ausbildung – und eine Brille, deren Gestell notdürftig mit Klebeband geflickt ist. Wenn er ängstlich ist, bekommt er Schluck­auf. TV-Nerds, das waren bestaunenswerte Schrullos. Ganz so, als müsse ihre Überbegabung auf technischem Gebiet durch extrakauziges, lebensuntüchtiges Verhalten bei ganz banalen Belangen ausbalanciert werden. Gefährlich waren sie nicht, ihr extensives Spezialwissen nur ein freundlich-wunderlicher Charakterzug. Das Schlimms­te und Gröbste, zu dem sie fähig waren: anderen damit wahnsinnig auf die Nerven zu gehen. Wie Präsident Bartlet in The West Wing, der seinen stellvertretenden Chief of Staff noch lange nach Feierabend mit Fun Facts zu den 55 amerikanischen Nationalparks belämmert, die er allesamt besucht hat. „You’re quite a nerd, Mr. President“, ächzt sein Stabsmann nach endloser Behelligung mit Hirschdaten.

Vom harmlosen Genietrottel reifte der Serien-Nerd nun zur ve­ritablen Bedrohung, weil sich auch seine Rolle in der Welt jenseits des Fernsehbildschirms drastisch geändert hat. So sehr sind im echten Leben Macht und gesellschaftlicher Einfluss dieser früher als blutleere Bleichlinge verlachten Techspezialisten gewachsen, dass dies vielen Menschen Unbehagen verursacht – ein vages Gefühl von Abhängigkeit und vielleicht sogar Angst, das sich aus dem Unverständnis dafür speist, was diese Menschen mit ihren Techfirmen so genau treiben und mit unseren Daten anstellen.

Wenn Menschen sich fürchten, fliehen sie in Geschichten. Was sie nicht verstehen, was sie beun­ru­higt, wird in Angstfabeln verpackt. Wie in den modernen Sagen, der Spinne in der Yucca-Palme oder dem Hamster in der Mikrowelle – Kuriositätshäppchen, die unter der Anekdotenoberfläche Angst vor Fremdem und undurchschaubarer Technik transportieren. Weil Sagen – selbst moderne – heute nicht mehr als Vehikel für solche Befindlichkeiten taugen, haben andere popkulturelle Formate ihre Funktion übernommen: Während der Finanzkrise half eine ganze Armada von Serienvampiren, die Furcht vor lebenssaugenden Bösebanken zu kompensieren, abgelöst von Zombiehorden, die perfekt die folgende Lethargie verbildlichten.

Taugt nun der Nerd zum Befindlichkeitsmaskottchen? Lange genug dauert seine TV-Evolution jedenfalls an. Vor den bösen Nerds kamen die mittelbösen: Chemiedrögerich Walter White, der sich zum beliebtesten Drogenbrodler aller Zeiten kochte, und Klamaukschurkengeek Vector aus Ich – einfach unverbesserlich – beides Kriminelle, kleinlich betrachtet, aber dennoch sympathietauglich.

Wie aus freundlichen Standard-Nerds fieseste Killer werden, lässt sich in Buffy The Vampire Slayer beobachten: drei klassische Highshool-Verdrucktlinge mit Tech-Talent, die sich jahrelang zur echten Bedrohung emporschurken und es in der sechsten Staffel – nach sadistischen Vampiren und Dämonen-Bür­germeis­tern – gemeinsam zum Big Bad bringen, dem staffeldominierenden Übergegner für Buffy. Aus Mobbing­opfern werden Gewalttäter, oder, wie Buffy-Drehbuchautor Doug Petrie sagt: „Nerd empowerment gone horribly wrong.“

Gegen die bösen TV-Nerds der neuesten Generation wirken allerdings auch die Buffy-Bösen mit ihrer Freeze-Kanone wie possierliche Provinzgimpel: Computergenie Christopher Pelant etwa, dem als Serienmörder in der Serie Bones erstaunliche Schurkenstücke ge­lingen. So implantiert er etwa ein Computervirus in die Knochen ei­nes Ermordeten, der schließlich das ganze forensische Computersystem lahmlegt, als die Knochen eingescannt werden. MacGyver-artig scheint er selbst aus einem alten ros­tigen Toaster und etwas Holzwolle hochkomplexe Rechnersys­teme zusammenlöten zu können, mit denen er jeden Schritt seiner Gegner überwachen kann.

Pelant schafft Dinge, die niemand versteht. Der Zuschauer bekommt nicht einmal eine Fantasielösung angeboten, die Serienfiguren selbst sind ratlos, obwohl in Bones sonst durchaus Wert auf halbwegs logische Herleitungen gelegt wird. Tech-Genie Pelant ist die ultimative erratische Bedrohung: die Angst vor einer Welt, die man nicht mehr erfassen kann, an der man keine Teilhabe hat. Immerhin: Einer der drei Buffy-Bösen kann am Ende erfolgreich resozialisiert werden. Und selbst Vampire genießen in Serien wie Being Human inzwischen durchaus menschliches Mitgefühl. Noch ein paar Jahre, und Vampirismus oder Zombiewesen werden in TV-Erzählungen nur noch ein akzeptierter Lifestyle unter vielen anderen sein. Vielleicht gibt es Hoffnung für den bösen Serien-Nerd. 

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