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„Jeder ist Hatsune Miku“: Wie ein japanischer Pop-Star nach Berlin kam

von Chris Köver
Sie hat mehr als 100.000 Songs veröffentlicht, füllt Stadien, spielt die Hauptrolle in Mangas und Computerspielen: In Japan ist Hatsune Miku ein gigantischer Popstar. Nur gibt es sie eigentlich gar nicht, die 16-Jährige ist das virtuelle Gemeinschaftsprodukt ihrer Fans. Die Künstlerin Mari Matsutoya hat Miku für einen Auftritt nach Berlin gebracht. Im Gespräch mit WIRED erzählt sie, wie man mit einem Star arbeitet, der so vielen gleichzeitig gehört.

Bilderfetzen. Soundschnipsel. Zu kurz, als dass man etwas erkennen könnte, blitzen sie durch den schwarzen Saal. Immer schneller, immer mehr, bis Augen und Ohren komplett überfrachtet sind. Erst dann wird die Bühne wieder schwarz und Hatsune Miku erscheint wie eine Fata Morgana: 158 cm groß, mit bodenlangen türkisen Zöpfen und leicht durchsichtig, singt sie die ersten Zeilen einer traurigen Ballade.

Das bombastische Intro zu dieser Show hätte auch ein Taylor Swift-Konzert einläuten können. Nur die verhaltene Reaktion des Publikums erinnert daran, dass wir uns hier nicht in einem Stadion, sondern bei einer Kunstperformance befinden. Am Rande des Medienkunstfestivals Transmediale genau genommen, wo man nicht aus dem Sitz springt, kreischt und mit grünen Glowsticks wedelt, sondern in der kontemplativen Pose verweilt, die gemeinhin mit der Betrachtung von Hochkultur verbunden ist, also mit geschlossenem Mund und dem Hintern auf dem Stuhl.

Ein eher untypisches Setting für einen Auftritt des Stars Hatsune Miku, der sonst ganze Stadien füllt, aber diese Dissonanz ist durchaus gewollt. Die Künstlerin Mari Matsutoya, die diesen Auftritt konzipiert hat, ist auf solche Dissonanzen spezialisiert. Gemeinsam mit der Musikerin Laurel Halo und einem Team von weiteren Kreativen schuf sie die Show „Still Be Here“ als Auftragsarbeit des diesjährigen Festivals. Ganz wie bei anderen großen Stars also, an deren durchchoreografierten Auftritten ebenfalls eine ganze Mannschaft arbeitet. Nur, dass der Star des Abends in diesem Fall nicht erst eingeflogen werden musste, sondern von der Festplatte kommt.

WIRED: Sind Sie J-Pop-Fan?
Mari Matsutoya: Meine Tante in Japan ist eine recht bekannte J-Pop Künstlerin. Ich kenne sie gar nicht so gut, weil ich in England aufwuchs, aber wir bekamen ihre Aufnahmen und CDs geschickt, ich wurde mit diesem Zeug überflutet. Anfangs hatte ich eine Art allergische Reaktion darauf, erst vor Kurzem begann ich mich für das ganze System von J-Pop zu interessieren.

WIRED: Was hat ihr Interesse geweckt?
Mari Matsutoya: Mein Thema war Entpersonalisierung. In Japan gibt es eine große Kultur des Alleinseins und Dinge-allein-Tuns, die mich interessiert hat. So stieß ich auf die Vocaloid-Software, eine Stimme ohne Körper. Diese Technologie wurde von Yamaha entwickelt, die dafür die Stimme einer Schauspielerin namens Fujita Saki aufgezeichnet und synthetisiert hat. Erst später entdeckte ich, dass hinter der Software eine komplette Identität steckt: Hatsune Miku als virtueller Popstar.

Während einem Bar-Gespräch kam dann die Idee auf, dass es toll wäre, bei einem Festival wie der Transmediale eine virtuelle Person auf die Bühne zu bringen. Keinen spezifischen Star, sondern die Projektion von vielen, die sich in einer Person bündelt. Hatsune Miku ist die Zusammenführung so vieler verschiedener Communitys, der Knotenpunkt eines ganzen Netzwerkes.

WIRED: Sie sprechen von einer Kultur des Alleinseins. Hatsune Miku ist aber gerade das Ergebnis einer großen kollektiven Kreativität. Die Fans schreiben und produzieren die Songs, die sie singt, die Choreografien, die sie tanzt, all ihre Videos.
Mari Matsutoya: Ja, Hatsune Miku ist genau das Gegenteil, bei ihr geht es um das Teilen. Ihr Urheber Hiroyuki Itoh, den wir für die Performance interviewt haben, sprach davon, dass mehrere Dinge zufällig zusammenkamen, um sie so berühmt zu machen: der Boom von Sharing-Plattformen wie YouTube und Niko Niko Douga, parallel begannen immer mehr Menschen an ihrem Computer Musik zu machen. Jedes andere Instrument war zuvor schon synthetisiert worden, eine synthetische Stimme war der nächste logische Schritt.


WIRED: Die Vocaloid-Software hinter Hatsune Mikus Stimme wurde von Yamaha entwickelt, sie selbst ist eine Erfindung der Firma Crypton Future Media, die diese Software vermarktet. Wie konnten sie Crypton davon überzeugen, die Figur für ihre Performance zu verwenden?
Mari Matsutoya: Hatsune Miku steht unter einer Creative Commons-Lizenz, das heißt Crypton hat das Recht auf ihren Originalcharakter, sie darf aber von anderen genutzt werden. Es gibt ein ursprüngliches Konzept: Sie ist 16 Jahre alt, 158 cm groß, hat türkises Haar, wiegt 42 Kilo. Diese Fakten kann jeder nehmen und daraus seine eigene Illustration schaffen. Es gibt eine ganze Community, Dojonshi genannt, in der Künstler solche Derivative von existierenden Charakteren entwerfen und in kleiner Stückzahl publizieren.

Wenn wir mit ihr Werbung für Honda hätten machen wollen, wäre das ein Problem gewesen.

Mari Matsutoya

WIRED: Die so genannten Piapro-Character Licence, unter der Hatsune Miku steht, verbietet es, sie für kommerzielle Zwecke zu benutzen. Die Performance auf der Transmediale hat aber Eintritt gekostet. Brauchten sie dazu eine besondere Genehmigung?
Mari Matsutoya: Wir bewegen uns in einer rechtlichen Grauzone, wie sehr viele der Werke, die Hatsune Miku verwenden. Wenn wir mit ihr Werbung für Honda hätten machen wollen, wäre das ein Problem gewesen. Aber wir haben ja nur Geld eingenommen, um die mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler zu bezahlen. Wir fragten auf dem offiziellen Weg um Erlaubnis und bekamen sie. Crypton geht es im Grunde darum, was die Fans wollen. Unsere Performance fand in einem Kunstkontext statt, die Fans hätten das kritisch sehen können, deswegen mussten wir etwas vorsichtig sein. Am Ende waren nicht viele Fans dort. Sie wollen eben die Illusion sehen, nicht deren Dekonstruktion, und das ist verständlich.

WIRED: Wollten Sie Hatsune Miku denn bewusst dekonstruieren?
Mari Matsutoya: Es war ein Balanceakt. Wir wollten nicht, dass es einfach ein Konzert ist, denn dann hätten wir nur wiederholt, was Crypton mit den Live-Auftritten ohnehin schon tut. Andererseits wollten wir auch nicht zu weit gehen und die Fans verärgern. Wir haben versucht, vor allem andere Menschen sprechen zu lassen, eine Vielzahl von Stimmen zu präsentieren, um zu zeigen, welche unterschiedlichen Blickweisen es auf sie gibt.

WIRED: Diese Interviews mit Medienexperten oder auch dem Urheber von Hatsune Miku haben sie zwischen den Songs in die Performance einfließen lassen.
Mari Matsutoya: Ja, wir haben zwei bekannte Formate genutzt: das Popkonzert und die Dokumentation. Taylor Swift bedient sich dieser Technik auch: Sie singt und tanzt und zwischendurch werden Interviews mit ihren Freunden und Wegbegleitern gezeigt, die natürlich recht wohlwollend über sie sprechen.

Wir alles sind Miku. Ihre Identität ist ein Amalgam aus uns allen.

Mari Matsutoya

WIRED: Diese Interviewpartner lassen sie in der Show ebenfalls von Hatsune Miku verkörpern, was für Lacher gesorgt hat.
Mari Matsutoya: Das war unsere Art, um zu sagen: Wir alle sind Miku. Ihre Identität ist ein Amalgam aus uns allen.

WIRED: Die Produzentin Laurel Halo hat die Musik für die Performance geschrieben. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit ihr?
Mari Matsutoya: Ich wollte gerne eine weitere Künstlerin für diese Rolle, auch weil Hatsune Miku aus einer Community von Männern heraus entstanden ist. Ich dachte, es sei nett, ein Team von Menschen zu haben, das ihre Vielschichtigkeit  abbilden kann. Laurel Halo wurde mir vorgeschlagen und wie sich herausstellte ist sie sehr an japanischer Kultur interessiert.

WIRED: Normalerweise werden die Melodien und Texte von Hatsune Miku von den Fans verfasst. Haben sie die Texte in diesem Fall selbst geschrieben?
Mari Matsutoya: Nein, die Liedtexte sind alle von Nutzern generiert, wir haben sie lediglich aus existierenden Songs zusammen collagiert. Wie uns auffiel, sind die Lieder alle sehr ähnlich, es geht meist irgendwie darum, dass man in die Zukunft schauen soll. Es war also nicht besonders schwer, daraus neue Lieder zusammenzustellen. Laurel Halo hat Melodien geschrieben und mir geschickt, ich habe die Lyrics darauf angepasst. Wir haben die Texte dann aus dem Englischen ins Japanische rückübersetzt, um nicht einfach zu kopieren.

WIRED: Am Anfang der Performance lassen sie Hatsune Miku ein altes japanisches Volkslied singen. Was hat es damit auf sich?
Mari Matsutoya: Das Lied ist ein altes Kinderlied, dessen Copyright nach über 70 Jahren bereits ausgelaufen ist. Wie viele alte Kindergeschichten und Märchen ist es etwas gruselig. Das Lied war eine Art Übergang: vom Intro, in dem wir die Samples der bisherigen Interpretationen gezeigt haben, zu Laurel Halos Interpretation. Wir wollten zeigen: Wir sind nur ein Teil des gesamten Phänomens. Wir fügen nur etwas hinzu zu der Masse an Bildern und Musik, die bereits existiert.

Ich mag Kunstwerke, die ich nicht wirklich verstehe. Die weiteren Ebenen können sich mit der Zeit erschließen.

Mari Matsutoya

WIRED: Von dem Lied habe ich nur erfahren, weil eine japanische Freundin mich zu der Performance begleitet hat. Viele weitere Bedeutungsebenen sind mir sicher verborgen geblieben. Haben sie sich vorher Gedanken gemacht, wie viel oder wenig ein deutsches Publikum verstehen würde?
Mari Matsutoya: Wir wollten, dass die Performance auch dann Spaß macht, wenn man die japanische Kultur nicht besonders gut kennt. Die weiteren Ebenen von Bedeutung können sich vielleicht mit der Zeit erschließen. Ich mag Kunstwerke, die ich nicht wirklich verstehe, die einfach eine interessante Erfahrung bieten. Vielleicht schaue ich später nach, was das zu bedeuten hatte. Diese zeitliche Ebene finde ich interessant.

WIRED: Wie lief die Arbeitsteilung in ihrem Team ab?
Mari Matsutoya: Der Künstler LaTurbo Avedon hat die virtuellen Hintergründe geliefert, sie existiert nur als Avatar im Netz, ein junges blondes Mädchen. Wir haben sie oder ihn also nie getroffen, sondern nur via Skype kommuniziert. Martin Sulzer war der Animationskünstler, er hat die Choreografie (des Choreografen Darren Johnston) mit Motion Capture aufgezeichnet und Hatsune Miku so zum Tanzen gebracht. Ursprünglich wollten wir existierende Bewegungsdaten verwenden, aber das hat nicht funktioniert, die Schnipsel waren zu kurz um daraus eine Choreografie zu bauen. Wir haben erst die Musik fertig gestellt und dann die Choreografie per Motion Capture aufgezeichnet. Jemand hat mir erzählt, dass Crypton das bei der offiziellen Shows andersherum macht: Da läuft die Animation von Hatsune Miku  und ihre menschliche Begleitband muss drumherum improvisieren.

Es ist, als würde man sich gegenseitig versichern, dass sie doch echt ist, um wett zu machen, dass sie nicht existiert.

Mari Matsutoya

WIRED: Waren Sie mal bei einem der offiziellen Konzerte?
Mari Matsutoya: Nein, aber ich würde es sehr gerne. Das muss eine tolle Atmosphäre sein. Tausende von Fans, die mit Glowsticks wedeln: Wenn man sich bewusst macht, dass das keine echte Person ist, hat das schon etwas Unheimliches. Es ist, als würde man sich gegenseitig versichern, dass sie doch echt ist, um wett zu machen, dass sie eigentlich nicht existiert.

WIRED: Genau genommen existieren Taylor Swift oder Lady Gaga aber natürlich auch nicht in der Form, wie wir sie sehen. Die Persönlichkeiten, die wir präsentiert bekommen, sind genauso akribisch konstruiert.
Mari Matsutoya: Das stimmt, Hatsune Miku ist gar nicht so anders als andere mediatisierte Popstars. Der Unterschied ist, dass sie für keine Skandale sorgen wird, sie wird nicht ausflippen und sich den Kopf rasieren oder sich in einem Club mit anderen Stars erwischen lassen. Der größte Skandal bisher war, als sie während einer Performance mal ein japanisches Hochzeitskleid trug. Daraufhin wurde wild spekuliert, wen unsere Miku jetzt heiratet. Die Fans wollen einerseits, dass sie diese perfekte unerreichbare Figur ist. Gleichzeitig wird sie in den Fan-Geschichten oft als Mädchen von Nebenan mit kleinen Fehlern gezeichnet, kann zum Beispiel schlecht kochen.

WIRED: Das erinnert daran, wie wir uns daran ergötzen, wenn Beyoncé auf der Bühne stolpert oder Jennifer Lawrence auf dem roten Teppich hinfällt. Die Inszenierung darf nicht zu perfekt sein, solche Fehler sind uns sympathisch.
Mari Matsutoya: Ich glaube, das macht sie für die Fans noch nahbarer.

WIRED: Etwas gruselig war, dass sich Hatsune Mikus lange Zöpfe nicht wie Haare bewegt haben, sondern wie fest verdrahtet an ihrem Kopf montiert waren.
Mari Matsutoya: Ja, ich würde gerne sagen, dass das Absicht war. (lacht) Wir hatten einfach nicht genug Zeit. 

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