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Kolonien im All: Kann Technologie zum Staatsfundament werden?

von Max Biederbeck
Nach der Wahl Donald Trumps wollten viele Amerikaner spontan nach Kanada auswandern. Die Visionäre dieser Welt planen längst eine viel radikalere Flucht – die von der Erde. Mit Technologie wollen sie neue Staaten im Weltraum (und auf hoher See) gründen und sich unabhängig machen. Aber taugt Technologie als Staatsfundament?

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Dezember 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Update, 28. Juli 2017: Eines der maßgeblichen Unternehmen für die Eroberung des Alls, SpaceX, hat in einer neuen Finanzierungsrunde 350 Millionen Euro Funding eingenommen. Sein Marktwert beträgt jetzt 21 Milliarden US-Dollar – dadurch wird das Unternehmen von Visionär Elon Musk zu einer der teuersten Privatfirmen der Welt. Und dahinter steckt ein Plan, wie folgender Text zeigt.

Genug Mitbürger hätte Igor Ashurbeyli wohl schon. Jeden Tag schließen sich dem Wissenschaftler aus Russland mehr Menschen an. Schon bald will der 53-Jährige einen Satelliten ins All schießen. Das Stück Hightech soll als erster Pionier einer neuen Nation die Erde umkreisen. Eine Flagge soll folgen, eine Hymne – und dann eben ein eigenes Volk. Ashurbeylis Idee war keine zwei Wochen alt, da hatten sich bereits eine halbe Million Menschen für einen Pass beworben.

Ist das Projekt bahnbrechend, futuristisch und visionär – oder verrückt?

Igor Ashurbeyli

Sie alle wollen Teil von Asgardia werden, einem Staat, bestehend aus Mikrosatelliten und einer orbitalen Plattform, die im Kosmos treibt. Eine Stadt jenseits des Himmels – nach dem Vorbild des nordischen Reichs der Götter: Asgard. Die Weltraumnation sei eine „Matroschka aus Philosophie, Technologie und Recht“, sagt Ashurbeyli. Sie solle zu einer neuen Heimat für die Menschheit werden, „ohne die erdengemachte Aufteilung in Staaten, Religionen und Nationalitäten“. In seinem Konzeptpapier fragt der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler selbst: „Ist das Projekt bahnbrechend, futuristisch und visionär – oder verrückt?“

Er könnte es auch anders formulieren: Lassen sich neue Gesellschaften durch Technologie gründen – und müssen wir sie vielleicht sogar bald gründen? Letzteres glaubt Visionär und Multimilliardär Elon Musk. Er sorgte im September 2016 weltweit mit dem Plan für Schlagzeilen, den Mars kolonisieren zu wollen. Musk will vor Katastrophen fliehen. „Die Geschichte zeigt, dass Weltuntergangsszenarien keine Theorie sind“, sagte er bei der Präsentation seiner Pläne. Die Alternative laute, „sich zu einer multiplanetaren Spezies zu entwickeln“.

Sein Raumfahrtunternehmen SpaceX plant ein interplanetares Transportsystem, um Siedler für rund 200.000 Dollar auf den Roten Planeten zu schicken. Mindestens 100 Reisende will Musk in ein erstes Raumschiff packen. Es soll im Orbit der Erde auftanken und mithilfe von Sonnensegeln losfliegen. Innerhalb von nur 40 bis 100 Jahren, so glaubt er, könnten ganze Städte auf dem Mars entstehen.

Nur weil etwas technologisch möglich und theoretisch denkbar ist, entsteht dadurch noch keine bessere Welt.

Der Wissenschaftler aus Russ­land und der Visionär aus dem Silicon Valley, so unterschiedlich ihre Motive sind, so ähnlich ist ihr Ziel: ein neuer Tech-Staat im All. Beide haben sich sogar über dessen politische Konstituierung Gedanken gemacht. Ashurbeyli plant eine doppelte Staatsbürgerschaft, die meisten Bürger bleiben erst einmal auf der Erde. Asgardia soll Mitglied der Vereinten Nationen werden. Musk dagegen denkt an eine direkte Demokratie mit einigen Besonderheiten. „Die Menschen werden direkt über Probleme abstimmen. So sind die Möglichkeiten der Korruption im Vergleich zur repräsentativen Demokratie gering“, sagte er auf einer Konferenz im Sommer. Die Bürger des Roten Planeten könnten Gesetze leichter abschaffen, als sie zu erlassen – die Regeln würden außerdem nach einer gewissen Zeit automatisch ablaufen oder bräuchten ein Update.

Das klingt nach Silicon Valley, nach agiler Unternehmensführung und nach Disruption. Klingt erst mal toll, nur: Politische Systeme, allen voran multinationale Staaten, sind deutlich komplexer als die Unternehmensstruktur eines Startups.

Was Musk und Co. propagieren, kann gefährlich schnell zu einer Ideologie verkommen: Die Weltenflucht verformt sich plötzlich zu einer Heilslehre der politischen Befreiung. Auf naive Weise vermengen sich dabei Vision, Innovation und Gesellschaftsutopie. Bei aller Tech­nologie-Freundlichkeit: Selbst wenn das Leben im Weltall möglich ist, entsteht dadurch nicht automatisch eine bessere Welt.

Wer Demokratie als veraltete Technologie begreift, läuft Gefahr, seine neuen Regeln für einen elitären Raum von Gleichen zu erschaffen. Die neuen Visionäre riskieren, wichtige Fragen außen vor zu lassen, die eine freie und offene Gesellschaft beantworten muss: nach Heterogenität, Pluralismus und Streitkultur. Stattdessen bedienen sie sich, ob gewollt oder ungewollt, vor allem einfachen libertären Gedankengutes.

Dieser Vorwurf steht gegen die Macher der Non-Profit-Organisation Seasteading Institute schon seit Jahren im Raum. Auch sie arbeitet seit 2008 an ihrem eigenen, auf Technologie basierenden Staat. Nicht im All, sondern auf dem Ozean.

Die hohe See, so sagt Seasteading-Geschäftsführer Randolph Hencken, sei der letzte freie Ort auf der Welt. Nur hier könnten Pioniere noch unabhängig leben von den Regeln etablierter Regierungen. Zusammen mit Patri Friedman, Programmierer bei Google, will Hencken erst modulare Siedlungen und dann Städte auf dem Wasser errichten.

Unsere Regelwerke entsprechen den höchsten Standards für Menschenrechte und Umweltschutz 

Randolph Hencken

Den Grundgedanken eines vollkommen autonomen Inselstaats in internationalen Gewässern haben die Macher der Realität geopfert. Sie hätten ihre Inseln 200 Seemeilen jenseits der Küsten errichten müssen – die kalkulierten Kosten von 225 Millionen US-Dollar zum Bau waren ihnen aber zu hoch. Stattdessen wollen Hencken und Kollegen nun ein symbiotisches Verhältnis mit dem Inselstaat Französisch-Polynesien eingehen, der nur marginalen Einfluss ausüben würde. Etwas weniger utopisch, dafür aber günstiger: Die initialen Baukosten lägen bei 30 Millionen US-Dollar.

2020 soll eine erste Siedlung auf dem Wasser sein. Bestehen wird sie aus zwei bis drei Plattformen, jede so groß wie ein halbes Fußballfeld und für rund 30 Bewohner. Wirtschaftlich und finanziell wäre sie autark, wie eine Sonderwirtschaftszone. Die Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser werde durch Handel mit den Nachbarn organisiert. „Mit der Zeit wollen wir aber unsere eigenen Lebensmittel anbauen“, sagt Hencken.

Auch Seasteading geht es also darum, eine bessere Welt mithilfe von Technologie zu erbauen. „Wir erarbeiten Regelwerke, die den höchsten Standards für Menschenrechte und Umweltschutz entsprechen“, sagt Hencken. „Wenn Seastead auf Tausende von Bürgern angewachsen ist, werden andere Gesellschaften noch von unseren Regeln lernen.“ Wie so ein komplexes Modell des gesellschaftlichen Zusammenlebens entstehen soll, lässt er bisher offen. Ein Blick in die Geschichte könnte ihm eine Antwort liefern. Auch die USA entstanden aus dem Versprechen heraus, eine bessere Welt zu errichten.

Die amerikanische Frontier-Bewegung ab dem 17. Jahrhundert war entscheidend für die Entstehung der Vereinig­ten Staaten. Schienen folgten den ersten Siedlern, genau wie moderne Landwirtschaft und Industrie. Zu wenig Platz in der neuen Welt zwang mehr und mehr Pioniere in den Westen. Die Frontier, das Grenzgebiet zwischen Zivilisation und Wildnis, entwickelte sich zum Sammelbegriff für „Region, Prozess und Mythos zugleich“, schreibt die deutsche Historikerin Ursula Lehmkuhl.

Genau wie die Pioniere von heute waren die Siedler damals angetrieben von der modernsten Technologie ihrer Zeit. Diese war aber nur Grundlage für das Folgende. Nation-Building, politische Kultur und Rechts­praxis entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg. Gesellschaften müssen diesen Prozess immer wieder neu verhandeln, das haben die vergangenen US-Wahlen gezeigt. Das wird im All ähnlich sein. Ein neuer Staat lässt sich nicht per Businessplan entwerfen, weder von einem Igor Ashurbeyli noch von einem Elon Musk.

Wie sich andere Tech-Milliardäre auf die Apokalypse vorbereiten, ohne dabei die Erde verlassen zu wollen, lest ihr in der großen Geschichte über die Survivalists aus dem Silicon Valley.

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