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Kingdom Come: Deliverance ist ein kitschiger Mittelalterjahrmarkt

von Dom Schott
Das Rollenspiel Kingdom Come: Deliverance will den Spieler zum Zeitreisenden machen. Ihn das Mittelalter so erleben lassen, wie es tatsächlich war – ein unmögliches Vorhaben, das sich allerdings gut verkauft.

Eigentlich klingt die Idee von Kingdom Come: Deliverance faszinierend: Das Rollenspiel schickt uns nicht in eine Welt, die von Orks, Zwergen oder Aliens, sondern von Deutschen und Tschechen bewohnt wird. Statt durch exotische Landschaften voller unbekannter Pflanzen und Tiere zu schleichen, spazieren wir durch böhmische Hochwälder und schrecken ein paar Wildschweine auf. Statt auf einem fremden Planeten oder einem fantasievollen Kontinent, müssen wir uns im Königreich Böhmen des 15. Jahrhunderts zurechtfinden – ein ungewöhnlicher Schauplatz für ein Rollenspiel. Die Entwickler wollen diese Entscheidung mit einem mächtigen Schlagwort verkaufen: historisch. Alles soll genau so aussehen, wie es damals war. Das Videospiel soll eine akkurate Zeitreise in die Vergangenheit sein.

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Das Schlagwort wirkt. Obwohl Kingdom Come: Deliverance das erste Spiel des tschechischen Entwicklerteams Warhorse Studios ist, wuchs die Zahl der Fans des Mittelalterabenteuers seit seiner Ankündigung im Jahr 2014 rasant: Auch die Kickstarter-Kampagne des Spiels war ein gigantischer Erfolg, nach wenigen Tagen kam ein Vielfaches des ursprünglich angepeilten Finanzierungsziels zusammen. Zehntausende Gamer verschlangen in den folgenden vier Jahren die Update-Videos des Entwicklerteams, die immer wieder eines versprachen: Ein Spiel, das die historischen Quellen möglichst genau umsetzen wird.

Und jetzt, rund eine Woche nach dem Release, haben alleine auf dem PC bereits über 500.000 Personen die virtuelle Reise nach Böhmen angetreten. Trotz technischer Probleme und Bugs zeigt sich ein Großteil der Fans vom vermeintlich realistischsten Rollenspiel der Welt begeistert.

Was ist also dran an Kingdom Come: Deliverance und seiner versprochenen Zeitreise? Sehr viel – aber gleichzeitig kaum etwas von dem, was die Entwickler ursprünglich versprochen haben.

Schönes, dunkles Mittelalter

Alles ist ganz vielversprechend: Noch bevor wir das Hauptmenü überhaupt erreichen, beschreibt eine bedeutungsschwere Stimme die politische Landschaft des spätmittelalterlichen Böhmens – und die ist durchaus dramatisch: Ein inkompetenter König tritt das Erbe eines geliebten Herrschers an und wird von seinem eigenen Bruder entführt. Die Stimmung im Land erhitzt sich wegen der unsicheren Führungsspitze zunehmend, während ein Ersatzkönig mit Söldnertruppen durch die Heide zieht und aufkeimende Revolten mit Schwert und Feuer zum Schweigen bringt.

Zu seinen Opfern gehören auch wir, beziehungsweise Henry, der vermeintliche Held des Spiels, der in unseren ersten Spielstunden allerdings erst einmal ziemlich hilflos ist: Der etwas naive, aber abenteuerlustige Sohn eines Schmieds muss mitansehen, wie das Söldnerheer unter Führung von Sigismund von Luxemburg sein Dorf niederbrennt, seine Eltern ermordet und ihn in die böhmische Wildnis hinaustreibt. Aber nicht nur Henry ist verwirrt und hilflos – auch wir müssen uns an viele Eigenheiten von Kingdom Come: Deliverance gewöhnen. Viele Mechaniken gibt es in dieser Form nur selten oder gar nicht in anderen Rollenspielen.

Während wir zwar genretypisch mit Hilfe gesammelter Erfahrungspunkte regelmäßig im Level aufsteigen, können wir nicht alle Fertigkeiten nach unseren Wünschen frei erlernen. Stattdessen werden die grundlegendsten Eigenschaften und Fähigkeiten automatisch verbessert, wenn wir sie häufig einsetzen. Wer also täglich mehrere Spielstunden auf einem Pferd durch die Gegend galoppiert, steigert die eigene Gewandtheit auf dem Sattel und kann den Rappen in Zukunft zu noch mehr Leistung antreiben. Wer hingegen häufig Alkohol trinkt, steigert die Leistungsfähigkeit der Leber und verträgt in Zukunft ein, zwei Schlucke mehr als gewohnt.

Nicht alle neue Ideen sind so erfrischend, sondern vielmehr anstrengend und umständlich: Statt beispielsweise jederzeit den Spielfortschritt speichern zu können, erlaubt uns Kingdom Come: Deliverance diese Funktion nur an wenigen, ausgewählten Stellen des Spiels – oder wenn wir einen Trank trinken, den wir aber zuerst selbst herstellen müssen.

„Speichern soll vom Spieler ein Opfer verlangen“ ist das Credo des Entwicklerteams und illustriert damit sehr eindrücklich, wie ernst die Warhorse Studios ihr Versprechen nehmen, ein realistisches Spiel zu entwickeln. Das Ausmaß dieses Anspruchs geht aber viel weiter, als nur bis zur Speicherfunktion. Hier beginnen dann auch die eigentlichen Probleme von Kingdom Come: Deliverance.

Ein unmögliches Versprechen

Das Marketing, die Werbung und die Interviews mit den Entwicklern von Warhorse Studios rücken Kingdom Come: Deliverance in ein eindeutiges Licht: Wer sich auf dieses Rollenspiel einlässt, erlebe eine Zeitreise ins Mittelalter. Wer Kingdom Come: Deliverance spielt, darf einen historisch akkuraten Blick in die Vergangenheit werfen.

Es ist ein reizvolles Versprechen, dass die Entwickler geschickt zu unterfüttern wissen: Das Rollenspiel bemüht sich um nahezu fotorealistische Landschaftszüge und architektonische Details, Kodexseiten voller Hintergrundwissen über die Spielwelt sind teilweise in Fraktur geschrieben, Männer schmeißen sich raubeinige Sprüche an den Kopf, Frauen sind besorgte Mütter oder naive Dirnen. Alles scheint ständig dreckig und stinkig zu sein. Wir haben wahrlich das Gefühl, im Mittelalter zu leben. Und ahnen womöglich nicht einmal, dass wir uns so schon längst vom historischen Mittelalter weit entfernt haben.

Denn was die Warhorse Studios mit Kingdom Come: Deliverance bedienen, ist vor allem ein Gefühl für das Mittelalter: Wenn wir durch Böhmen reiten, uns mit Rittern duellieren und abends in der Taverne stundenlang mit Dorfbewohnern zechen, fühlt es sich richtig an. Genau so, wie wir es von einer Zeitreise in diese Epoche erwartet hätten. Alles, was dieses Rollenspiel dafür tun muss, ist Figuren und Eindrücke abzubilden, die wir aus Filmen, Romanen und anderen Videospielen bereits kennen.

Dabei kann sich dieses gefühlte Mittelalter durchaus mit den historischen Quellen decken, so dass wir tatsächlich eine kleine Zeitreise antreten: Beispielsweise gehören die Rekonstruktionen der Dorfhäuser oder der spätmittelalterlichen Burgen zu den detailliertesten Nachbildungen, die es je in einer virtuellen Spielwelt zu sehen gab. An vielen anderen Stellen aber entfernt sich das gefühlte Mittelalter sehr weit von dem, was Archäologen heute über die Epoche wissen. Vor allem bei einem Thema ist das besonders auffällig: Nämlich bei den Menschen, die das spätmittelalterliche Böhmen bewohnen.

So wissen wir heute, dass die Idee des europäischen, rein weißen Mittelalters ein Mythos ist, der vor allem von Hollywood und der Popkultur aufrecht erhalten wird. Die historische Wirklichkeit war durchaus diverser: Über Jahrhunderte hinweg siedelten Menschen unterschiedlichster Hautfarben als Lebensgemeinschaften, Handelsreisende oder langjährige Anwohner überall in Europa – auch im Hoch- und Spätmittelalter.

Kingdom Come: Deliverance blendet dieses Wissen allerdings aus. Laut Lead Designer Daniel Vavra mit der Begründung, dass die Quellen hierzu nicht ausreichend eindeutig seien. Eine Einschätzung, die nicht nur Historiker kritisch sehen würden, sondern auch viele Fans stört. Denn Vavra machte während der Entwicklung von Kingdom Come: Deliverance wiederholt mit rechtskonservativen und nationalistischen Äußerungen auf sich aufmerksam. Auch wenn der Lead Designer diese Aussagen versucht hat, zu relativieren, spricht seine Entscheidung zur Darstellung der Bevölkerung des virtuellen Böhmens eine andere Sprache. Für uns bleibt ein fader Nachgeschmack zurück, wenn wir durch seine Spielwelt reisen.

Mittelalter-Kitsch

Nach über 60 Spielstunden in der Welt von Kingdom Come: Deliverance kommen wir zu einem klaren Fazit: Der Anspruch des Rollenspiels, ein möglichst realistisches Abenteuer erlebbar zu machen, ist durchaus gelungen. Von unseren Fähigkeiten, die wir aktiv trainieren müssen, über die Tagesabläufe der zahlreichen Dorf- und Stadtbewohner bis hin zu den Reaktionen auf unsere Kleidung und den Zustand unserer Waffen, hat das Entwicklerteam einen recht faszinierenden, in sich geschlossenen Mikrokosmos erschaffen. Und der fühlt sich mittelalterlich an – hat mit dem wahren Mittelalter aber an vielen Stellen nur wenig zu tun.

Und das ist auch unsere größte Kritik an Kingdom Come: Deliverance: Es bemüht sich darum, die Illusion aufrecht zu erhalten, dass ein Videospiel tatsächlich und wahrhaftig ein Kapitel der Menschheitsgeschichte historisch akkurat nachbilden kann. Statt hingegen transparent zu erklären, welche der vielen lückenhaften Quellen mit eigenen Ideen und Fantasy-Elementen ausgefüllt wurden oder frei erfunden sind, nehmen die Entwickler für sich selbst in Anspruch, das wahre Mittelalter nachgebaut zu haben.

Was eigentlich unmöglich ist, wird von den Warhorse Studios gezielt fürs Marketing eingesetzt. Und was uns hier als historisch akkurat verkauft wird, ist in Wirklichkeit kaum mehr als ein kitschiger Mittelalterjahrmarkt, auf dem sich vieles echt anfühlt, aber fast nichts es wirklich ist.

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