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Ein Zuhause für Nomaden: Auf das Co-Working folgt das Co-Living

von Rowland Manthorpe
Co-Living-Startups hoffen, fürs Woh­­nen das zu werden, was Co-Working bereits für Arbeit ist: Sie wollen junge Menschen mit dem Sharing-Gedanken erreichen. Der Traum vom Co-Living: den Geist einer Kommune mit der Wirtschaftlichkeit eines Wohnheimes zu kombinieren.

Dieses Interview erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im Juni 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Der 32-jährige Data Engineer hatte ein Traumangebot für einen Job bei einem Tech-Startup in New York bekommen, doch nun hatte er nur drei Wochen Zeit, sich von allem zu verabschieden in seiner Heimatstadt Lexington in Kentucky: seinen Eltern, seinen Freunden, seiner Katze, seinem Auto. Und seiner Zweizimmerwohnung. Dillons ganzes bisheriges Leben musste in zwei Koffer passen.

Die Aussichten auf ein neues Zuhause allerdings waren nicht gut. Vermieter in New York fordern üb­licherweise von Mietern, dass sie einen Einjahresvertrag unterschreiben, doch das wollte Dillon nicht, ohne eine neue Wohnung wenigstens mal besichtigt zu haben. Es gab noch die Alternative Hotel. Oder Airbnb. Dann fand Dillon auf der Immobi­lienwebsite Zillow die Anzeige von Pure House: „Gemeinsames Wohnen … möbliert und auf Monatsbasis … gepflegte Umgebung“.

Wie willst du für unsere Gemeinschaft unentbehrlich werden?

Pure House Website

Die Website von Pure House war indes seltsam. Um sich als Mieter zu bewerben, sollte man Fragen beantworten wie „Was sind deine Leidenschaften?“ und „Wie willst du für unsere Gemeinschaft unentbehrlich werden?“. Er sei zunächst misstrauisch gewesen, sagt Dillon. Doch die 1600 Dollar Miete schienen für New York normal. Und für jemanden, der in eine fremde Stadt zog, klang es verlockend, mit anderen Menschen zusammenzuziehen – statt in einer eigenen Wohnung einsame Nächte mit Netflix zu verbringen. Also drückte Dillon auf send und schickte Pure House seine Bewerbung.

Dillon war durch Zufall auf einen Trend gestoßen, der sich in teuren Großstädten rasend schnell verbreitet: Co-Living. In San Francisco, New York und London insbesondere bieten Orte wie Pure House digitalen Nomaden die Möglichkeit, geradezu übergangslos von Stadt zu Stadt zu ziehen. Keine Wohnungssuche, kein Stress: Für eine monatliche Flatrate kriegt man ein Zimmer, Küche, Bad; Einrichtung und Ausstattung sind inklusive. Das vielleicht Wichtigste aber ist, dass man Zugang zu einer Gemeinschaft Gleichgesinn­ter bekommt. Die Bewohnerschaft von Co-Living-Häusern wird „kuratiert“: Einen Platz erhält, wer zu den anderen passt. Es wird für alles gesorgt, sogar für die richtigen Mitbewohner, das unterscheidet diese Orte von WGs alter Prägung. Der Nachteil ist: Man muss teilen. Co-Living-Spaces sind keine

Studentenwohnheime, doch einen gewissen Grad von Zusammenleben bringen sie mit sich. Das gilt für die gemeinsame Nutzung von Bad und Küche, und im Fall von Pure House gilt es dank dünner Wände auch für alles andere, bei dem Menschen Geräusche machen. Für viele Erwachsene der reine Horror. Für eine Generation aber, die den Slogan „Sharing is caring“ ernst nimmt, klingt es wie ein guter Kompromiss.

In New York gibt es neben dem Pure House zum Beispiel bereits die Co-Living-Spaces Founder House, Loft, Gramercy House und Common. Letzteres ist ein 20-Millionen-Dollar-Projekt von Brad Hargreaves, dem Mitgründer der Bildungsplattform General Assembly. Andere denken noch größer: Im Londoner Stadtteil Old Oak hat das Startup The Collective ein Co-Living-Gebäude mit 551 Zimmern errichtet, in den Gemeinschaftsräumen ist Platz genug, damit dort 400 Leute arbeiten können; Eröffnung war im Mai. Auch der Co-Working-Gigant WeWork setzt zusätzlich auf Co-Living mit einem ersten 200-Wohneinheiten-Projekt in Manhattan. Schon 2018, so steht es in einem im vergangenen August geleakten Pitch für Investoren, will WeWork 21 Prozent des Firmenumsatzes mit Wohnvermietungen machen, das sind 605 Millionen Dollar.

Die Überschneidung von Co-Living und Co-Working ist kein Zufall. Co-Living-Startups hoffen, fürs Woh­­nen das zu werden, was Co-Working bereits für Arbeit ist: Sie wollen junge Menschen mit dem Sharing-Gedanken erreichen. Langfristig wollen sie auch das Problem lösen, dass es in Großstädten zunehmend weniger bezahlbaren Wohnraum gibt, und auch ein Phänomen modernen Lebens bekämpfen: die Einsamkeit.

Mit den sieben Lofts, die sich über zwei Gebäude im Herzen von Williamsburg verteilen, ist Pure House nur der Idee nach ein Haus. Um das Gemeinschaftsgefühl hochzuhalten, organisiert der Gründer Ryan Fix regelmäßig Zusammenkünfte. Dann ruft er zum Beispiel die Bewohner via Slack zusammen: „ESSENSZEIT, BEI MIR IN EINER STUNDE!“

Ich liebe es, anderen Menschen dabei zu helfen, ihre Träume zu verwirklichen

Fix

Es dauert dann aber ein paar Stunden, bis die Gäste an einem Frühlingsabend eintreffen, eine Mischung aus WG-Bewohnern der alten und neuen Sorte. Da ist eine Israelin mit grün gefärbten Haaren, die sagt, sie sei ins Pure House eingezogen, weil sie einen Ort suchte, „an dem man sich nicht alleine fühlt“. Außerdem kommen: ein Social-Media-Redakteur von AOL, ein Robotikexperte und ein Jungunternehmer, der an einer neuen Dating-App tüftelt. Und Mike Dillon ist da, mittlerweile seit fünf Monaten in New York.

Fix, ein geschmeidiger 41-Jähriger in Jeans und Yoga-T-Shirt, begrüßt jeden Neuankömmling mit einer Umarmung. Er ist die Sorte Mensch, der immer einen Tipp hat, wo und warum man was machen soll – Improvisationstheater, Raven am helllichten Tag, wieso man immer noch zum Burning-Man-Festival muss. „Ich liebe es, anderen Menschen dabei zu helfen, ihre Träume zu verwirklichen“, sagt Fix. „Damit hole ich mir mein Gratis-High.“

Früher hat Fix Finanzgeschäfte gemacht und Immobilien vermakelt, „da ging es nur um Geld, das war nicht wirklich mein Ding“; dann begann er, Gleichgesinnte um sich zu scharen, indem er sie einfach zum Essen einlud. Als die Nachbarn nebenan auszogen, mietete er deren Wohnung und weitere Räume im Gebäude. Bald war Fix im Co-Living-Business.

Wohngemeinschaften im weitesten Sinne gibt es schon lange, ob es nun die Kommunen in den 60er-Jahren waren oder die Privatpensionen im 19. Jahrhundert. Co-Living als neueste Form von WG hat ihren Ursprung wie so vieles andere in San Francisco. Eine Weile lang wohnten dort Startup-Leute in intentional communities zusammen, Tech-Kommunen. Auf diese Art ließen sich die horrenden Mietpreise im Silicon Valley umlegen, und außerdem entsprach das gemeinschaftliche Wohnen hehren Idealen davon, wie man Ideen austauscht, Verbindungen knüpft, die Welt verbessert.

Wenn diese neuzeitlichen Kommunen die Mutter der Co-Living-Idee ist, dann sind hacker houses ihr verrufener Vater. Viele Co-Living-Anhänger verachten die billigen Wohnheime, in denen sich Entwickler und Programmierer zusammenpferchen lassen. Doch dass es hacker houses weiterhin gibt, spricht dafür, dass die Nachfrage anhaltend hoch ist.

Der Traum vom Co-Living besteht letztlich darin, den Geist einer Kommune mit der Wirtschaftlichkeit eines Wohnheimes zu kombinieren. Was leichter klingt, als es in der Praxis ist. „Die Idee der Gemeinschaft soll warenförmig und skalierbar gemacht werden“, sagt Chelsea Rustrum, Koautorin des Buches It’s A Shareable Life. „Co-Living ist in Wirklichkeit der Versuch, das Gefühl eines Zuhauses nachzubilden.“ Wenn man Brad Hargreaves fragt, den Gründer von Common, ob er je beim Burning Man war, antwortet der: „Nein. Die ganze Sache mit dem Sand im Haar, ich weiß nicht, und dann gibt es keine Duschen …“

Es ist der Sonntag des Super Bowl. Während sich zur selben Zeit im Pure House einige Bewohner zum Meditieren treffen, hat sich auf dem Grundstück von Common im Brooklyner Viertel Crown Heights eine lautstarke Menge versammelt, um bei Bier und Chickenwings Football zu gucken. Statt Hängematten und bunter Lichterketten gibt es hier weiße Wände, Holzfußboden, LED-Licht. Ryan Fix vom Pure House sagt über Wohnkonzepte wie das von Common abschätzig: „Es wird ein Innenarchitekt geholt, und schon ist alles gut.“

Co-Living ist in Wirklichkeit der Versuch, das Gefühl eines Zuhauses nachzubilden

Chelsea Rustrum

Etwas abseits vom Football-Trubel sitzt Hargreaves und trinkt ein Glas Rotwein. Hargreaves ist 29 Jahre alt, wirkt aber deutlich älter. „Es ist ein Missverständnis, wenn man glaubt, beim Co-Living werde wirklich alles geteilt – gar bis zu dem Punkt, wo man miteinander intim wird“, sagt er. „Ich möchte die Art, wie Menschen leben, nicht ändern. Ich möchte das Problem lösen, dass es zu wenig Wohnraum gibt.“

Im vergangenen Herbst hat Common seine beiden ersten Häuser eröffnet, eines mit 19, eines mit 20 Zimmern, im Frühling folgte ein drittes mit 51 Wohneinheiten. „Und Nummer vier bis zehn sind schon in Arbeit“, sagt Hargreaves. Mit 7,35 Millionen Dollar Risikokapital im Rücken entwickelt die Firma maßgeschneiderte Co-Living-Häuser. Zwischen 1565 und 1900 Dollar (für Dauermieter gibt es Nachlässe) bezahlen Mitglieder im Monat für die Annehmlichkeiten des gemeinschaftlichen Wohnens ohne ideologischen Überbau.

Um Co-Living einer größeren Zielgruppe schmackhaft zu machen, hat Hargreaves das Konzept aufgeweicht. Die Gemeinschaftsbäder etwa sind nach Geschlechtern getrennt, und der Selbsthilfe-Ethos früherer Kommunen wurde ersetzt durch Service: Die Bettwäsche wird regelmäßig gewechselt, in den Schränken liegen stets frische Handtücher. Und trotzdem ist die Basis des Zusammen­lebens von Menschen die in einer WG: Man teilt, ist flexibel, bildet eine Hausgemeinschaft.

„Ich musste sehr schnell unterkommen und wollte Gesellschaft dabei haben“, sagt etwa die Common-Bewohnerin Kamilah Gray, Marketingmanagerin bei Bloomberg. Eigentlich sollte sie innerhalb des Unternehmens den Standort wechseln und hatte ihr Apartment bereits gekündigt, als der Ortswechsel kurzfristig abgeblasen wurde. „Da wollte ich nicht in ein beschissenes Wohnheim ziehen, sondern in ein nettes Gemeinschaftshaus.“ Und Bryan Bumgardner, der an einem dreimonatigen Coding-Crashkurs in New York teilnimmt und für die Zeit ein Zimmer im Common hat, sagt schlicht: „Ich mag es, Leute kennenzulernen und mit ihnen zu wohnen.“

„Gemeinschaft“ mag nach einem zuckrigen Klischee klingen, doch sie wird heute sehr real gebraucht. Eine Studie der Mental Health Foundation etwa fand im Jahr 2010 heraus, dass 48 Prozent der erwachsenen Briten glauben, dass das Land sich zu einer Gesellschaft von Einsamen entwickelt. Unter jüngeren Menschen grassiert eine regelrechte Epidemie der Einsamkeit, 60 Prozent der 18- bis 34-Jährigen fühlen sich laut der Mental Health Foundation manchmal oder sogar oft allein. Gleichzeitig bringen die Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt Menschen wieder näher zusammen, zumindest räumlich. Im Jahr 2000 lebten laut der Immobilienplattform Zillow 25 Prozent der erwachsenen Amerikaner mit einem Mitbewohner zusammen, der kein Familienmitglied war; im Jahr 2012 waren es bereits 32 Prozent. In den Großstädten wie L. A. und New York wohnen mittlerweile 48 beziehungsweise 42 Prozent der Leute mit jemandem zusammen, der nicht ihr Partner oder ihre Partnerin ist.

Und trotzdem bleibt es schwer, menschliche Kontakte zu knüpfen. Eine riesige Menge an Apps verspricht, uns dabei zu helfen, andere Leute kennenzulernen. Doch jedes Date über Bumble und jede Ausgehverabredung über YPlan bedarf vorher unverhältnismäßig langen und vor allem einsamen Scrollens. „Die Vorteile einer Gemeinschaft werden umso klarer, wenn man bedenkt, wie viel Zeit wir sonst mit unseren Digitalgeräten verbringen“, sagt Common-Gründer Hargreaves. „Co-Living ist genau dafür gemacht, Gemeinschaften zu bilden.“ Um das aber zu können, muss man Menschen mit Gemeinschaftssinn finden.

Wie alle anderen Co-Living-Startups auch benutzt Common dafür einen Auswahlprozess: Erst füllt man online ein Formular aus, danach folgt ein Skype-Interview. Und wie alle anderen Co-Living-Unternehmer redet Hargreaves nicht gern über diesen Auswahlprozess. Er sagt, Common handele nach der Devise: Wer als Erster kommt, kriegt als Erster was. „Wir möchten gar nicht erst damit anfangen, eine Vorauswahl der vorgeblich besten Leute zu machen – das würde eine komische Atmosphäre erzeugen.“ Neue Mitglieder werden mit Bedacht ausgewählt, ohne dass Common den faden Beigeschmack eines exklusiven Etablissements bekommen soll.

Die gute Absicht ist das eine, der Profit das andere: Wohnen die falschen Leute zusammen, wird das Versprechen von Co-Living nicht erfüllt; wohnen nicht genug Menschen drinnen, ist es kein Geschäft. Im Juni 2015 schloss das Co-Living-Startup Campus 34 Häuser, sein Gründer Tom Currier musste zugeben: „Es ist uns nicht gelungen, aus Campus ein existenzfähiges Unternehmen zu machen.“ Eines der Probleme dessen Modells war laut Aussagen ehemaliger Bewohner, dass es der Gemeinschaft zu viel Macht übertrug – etwa dadurch, dass die über jeden Bewerber abstimmen durfte. „Das verhinderte eher den Zuzug neuer Leute“, sagt Annelie Chavez, ehedem Community-Managerin bei Campus, die im Common-Projekt wohnt. „Hier bei Common fällt solche Entscheidungen das Betreiber-Team, und das füllt die Häuser wesentlich schneller mit neuen Bewohnern.“

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Doch kann man Gruppen von privi­legierten jungen Gutverdienern, die üblicherweise die Bewohnerschaft von Co-Living-Häusern bilden, wirklich eine Gemeinschaft nennen? „Die Gentrifizierungs-Sache“ nennt Bryan Bumgardner das. Er verzieht das Gesicht: „Ich fühle mich schlecht deswegen, aber was soll ich machen? Wo soll ich sonst wohnen?“ „Ich bin hin und her gerissen“, sagt Daniel, ein 20-Jähriger, der das College geschmissen hat, um in New York einen Kurs für Software-Entwickler zu besuchen. „Es ist Gentrifizierung, die wir hier betreiben, und ich bin Teil des Problems. Doch für mich gab es kaum eine andere Möglichkeit, an Wohnraum zu kommen.“

Am Abend des Super Bowl jedoch macht sich wegen solcher Sachen niemand einen Kopf. Als das Spiel zu Ende ist, gehen einige Common-Bewohner raus in den Garten, den ein blickdichter Zaun umfasst, der so hoch ist, dass man nicht darüber gucken kann – nach draußen. Die Commoner rauchen, lachen und quatschen. Sie sind jung, sie haben zusammen Spaß: Wenn das keine Gemeinschaft ist, was sonst?

Entscheidend für die Idee Co-Living ist letztlich nicht die Frage: Funktioniert es? Sondern: Ist es skalierbar? Kann man genügend Menschen für diese Art des Wohnens begeistern? Im Nordwesten Londons versucht Reza Merchant das herauszufinden, Gründer und CEO von The Collective. Dessen Bau im Vorort Old Oak ist die größte Co-Living-Immobilie der Welt, von den 551 Räumen sind 452 sogenannte „Twodios“, Zweiraumwohnungen, in denen sich die beiden Bewohner Bad und Kitchenette teilen; dazu kommen noch 1114 Quadrat­meter Gemeinschaftsfläche. „Ich will nicht arrogant klingen“, sagt Reza Merchant, „aber wir sind Pioniere des Co-Living. Unsere Firma gibt es seit 2011, wir haben jahrelange Erfahrung im Kuratieren von Gemeinschaftsgebäuden.“

Vor ein paar Jahren hat der heute 27-jährige Merchant, Sohn indischer Migranten, das Haus seiner Eltern als Sicherheit benutzt, um einen Kredit über 1,8 Millionen Pfund zu bekommen. Damit konnte er ein leerstehendes Hostel in Camden kaufen. Merchant ließ das Gebäude renovieren und verwandelte es in ein Apartmentgebäude mit Hausservice. Das Risiko hat sich gelohnt, Merchant besitzt mittlerweile sechs Wohnhäuser und drei Co-Working-Spaces mitten in London. Ein weiteres Projekt mit ähnlichen Ausmaßen wie in Old Oak soll 2018 in Stratford eröffnen.

Co-Living kann die Zukunft der vernetzten Gesellschaft sein: Wir verlassen das Nest

Merchant verrät nicht, wie viel der Bau in Old Oak genau gekostet hat, er sagt nur: „eine zweistellige Millionensumme“. Bei einem Besuch von WIRED im Januar war das Gebäude fast fertig, Merchant führte herum. In den Wohnungen dürfte es schnell eng werden: In die Schlafzimmer passt kaum mehr als ein Bett. „Die Idee ist, dass man in den Wohn­einheiten wirklich nur schläft“, so Merchant, „die Gemeinschaftsräume sind das Wohnzimmer der Mieter.“ So gibt es etwa eine Küche für alle und den „Disco-Waschkeller“, in dem Leute feiern können, während ihre Klamotten schleudern.

Alle Co-Living-Projekte funktionieren nach der Gleichung „Je kleiner die Privaträume, desto größer die Gemeinschaftsräume“, doch in Old Oak ist die Gleichung ins Extrem getrieben. Aber das scheint die Richtung zu sein, in die Co-Living sich entwickelt, das zeigen auch die Pläne von WeWork, ausweislich des geleakten Investoren-Pitches: Die WeWork-Gründer Adam Neumann und Miguel McKelvey wollen mit den 400 Millionen Dollar, die sie bei einer Finanzierungsrunde im Juni 2015 eingesammelt haben, bis 2018 insgesamt 69 WeLive-Häuser errichten, in denen 34 000 Mitglieder leben sollen.

Eine weitere Grundregel bei Co-Living scheint zu sein: Je größer die Projekte, desto fader ihre Einrichtung. Bei WeLive bedeutet das unter anderem Wände aus Hartfaserplatten und darauf Poster mit Sprüchen wie „Home is where the Wi-Fi is“. Bei The Collective in London wiederum gibt es Zimmer in drei Kategorien, „Loft“, „Hotel“ und „Nordic“, doch die Möbel darin sind die gleichen. Sie haben bloß verschiedene Farben.

Laut des Londoner Mietspiegels beträgt die durchschnittliche Wochenmiete im Stadtteil Old Oak 142 Pfund, für ein Zimmer im The Collective zahlt man pro Woche mindestens 220 Pfund. Macht sich Merchant da keine Sorgen, ob er das Gebäude vollkriegt? „Erfolg ist Einstellungssache. Wenn du an etwas genug glaubst, wird es auch eintreten. Warum sollte man sich Gedanken über etwas machen, was niemals eintreten wird?“

Beim Pure House könnte es das. Von den 25 Apartments, die Ryan Fix mal angemietet hatte, sind derzeit eben nur sieben übrig, bald werden es bloß noch vier sein. Fix hat Probleme mit den Hausbesitzern: Die haben ihn vor Gericht gezerrt mit dem Vorwurf, er betreibe mit Pure House in den Wohnhäusern ein Gewerbe. Um aus einer Idee ein Geschäftsmodell mit Wachstumsperspektive machen zu können, muss sie ein unpersönliches Gewerbe werden. Und sich zu einem System entwickeln, das größer wird als der Einzelne darin.

Co-Living-Unternehmer wie Reza Merchant wollen Zusammenleben genau in ein solches System verwandeln. „Wohnen als Service“, nennt er das. In seiner Vorstellung sind Co-Living-Häuser „Plattformen“, auf denen sich die Bewohner kurz ausruhen können. Und Miguel McKelvey sagt, er wolle Menschen „das Leben erleichtern“. Alles wird nur noch gemietet, nichts mehr mit der Bürde von Besitz belastet. Möbel etwa gehören für McKelvey zu den „Dingen, die man nicht wirklich haben muss“.

„Schau dir die Musikindustrie an“, sagt James Scott, der 23-jährige COO von The Collective. „Vor zehn Jahren wurde Musik noch auf physischen Tonträgern verkauft, heute wollen die Leute Musik gratis konsumieren. Also hat die Musikindustrie die Ware Musik vergemeinschaftet, beim Strea­ming bezahlt man für den Zugang zu aller Musik. Wenn man dieses Prinzip auf Co-Living überträgt, bedeutet das: Der Wert, den man monetarisieren kann, besteht in den Hausgemeinschaften, nicht im Wohnraum.“ The Collective plant Kooperationen, um Mitgliedern Zusatz­services anbieten zu können, vom Car-Sharing mit Zipcar bis zu Finanzdienstleistungen mit Nutmeg. Mit dem Mitgliedsbeitrag soll man den Zugang zu einer Gemeinschaft bezahlen, nicht mehr die Miete fürs Wohnen. „Das ist extrem disruptive und sehr aufregend“, sagt Scott.

Co-Living könnte der Idee der Gemeinschaft eine neue Form geben. Diese wäre nicht mehr an einen bestimmten Ort und bestimmte Menschen gebunden, denn sie bestünde aus einem Netz von Häusern; sie wäre nirgendwo mehr beheimatet, doch man hätte zu ihr eine persönliche Beziehung – wie zu Facebook. „Wir entkoppeln uns langsam von den Dingen, die uns an einen physischen Ort wie eine Wohnung binden“, sagt Scott. „Die Blase, in der wir uns im Alltag bewegen, ist komplett getrennt von dem Raum, in dem wir leben.“ So könnte die nächste Stufe der vernetzten Gesellschaft aussehen: Wir verlassen unsere Nester und geben sie auf. Doch obwohl Co-Living unsere soziale Isolation beenden will, klingt das Konzept einsamer als unsere heutigen Lebensumstände.

Am 1. März ist Mike Dillon aus Pure House ausgezogen. Er hat jemanden kennengelernt, ausgerechnet auf Tinder, nun sind die beiden zusammengezogen. Richtig angenehm war auch der Schritt nicht: „Statt einen Fragebogen auszufüllen, in dem man Sachen wie ,Was sind deine Leidenschaften?‘ erklären muss, heißt es nun: ,Zeigen wir uns jetzt gegenseitig unsere Kontoauszüge?‘ Das hat fast etwas Übergriffiges.“

Seine Erfahrungen mit Co-Living fasst Dillon so zusammen: „Manchmal fühlte es sich wie ein Rückschritt an, ich bin ja nun schon über 30 und hatte zuvor alleine gewohnt. Doch es war das, was ich in dem Moment brauchte. Ich würde es wieder machen. Für den Übergang war es toll.“

War er damit Teil einer neuen sozialen Bewegung? Hat er das Ende der Einsamkeit erlebt und den Beginn eines neuen Zusammenlebens? Mike Dillon erscheint die praktische Frage wichtiger, ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. „Im Vergleich zu den Alternativen erschien mir Co-Living die attraktivste“, sagt er. „Der Wohnungsmarkt ist frei wie jeder andere Markt. Seine unsichtbare Hand hat mich ins Pure House geführt.“ 

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