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Was können deutsche Parteien aus dem US-Netzwahlkampf lernen?

von Chris Köver
Wie setzt man Datenmodelle und Social Media schlau ein, um Wähler auf seine Seite zu ziehen? Sechs Monate vor der Bundestagswahl fragen sich das nicht nur die deutschen Parteien, sondern auch verunsicherte Wähler, die nach Brexit und Trump den Ausgang der Abstimmung im September fürchten. Julius van de Laar war zwei Mal Wahlkämpfer für Barack Obama und kennt die Methoden der US-Kampagnen. Was rät er den deutschen Parteien?

Julius van de Laar war 2008 der einzige Deutsche im Wahlkampfteam von Barack Obama. Als Youth Vote Director im Bundesstaat Missouri war er unter anderem dafür zuständig, die Stimmen von Schülern und Studenten für den damaligen Präsidentschaftskandidaten zu sichern. 2012 arbeitete er wieder für das Obama-Lager, diesmal als Koordinator für den Wahlkampf im entscheidenden Bundesstaat Ohio.

Heute berät Van de Laar, 34, von einem Büro in Berlin-Mitte aus Parteien und Unternehmen in Deutschland bei deren Kampagnenstrategie. „Ich arbeite nur für Politiker, von denen ich auch überzeugt bin“, sagt er. Darunter waren bisher etwa Kandidaten der SPD, aber auch anderer Parteien. Am Montag analysiert Van de Laar auf der re:publica (Montag, 8. Mai, 17:15-18:15 Uhr) den Wahlkampf von Donald Trump. Wie sich die Systeme beider Länder unterscheiden und was deutsche Parteien dennoch unbesorgt von den US-Kollegen übernehmen dürfen, erklärt er im WIRED-Interview.

WIRED: Nach ihrer Arbeit im Kampagnenteam von Barack Obama kamen Sie 2009 zurück nach Deutschland und wollten Wahlkampf für die SPD machen. Sie haben das Team allerdings schnell desillusioniert wieder verlassen. Warum? 
Julius van de Laar: Nach 18 Monaten US-Wahlkampf für Barack Obama und einem historischen Wahlsieg wurde ich im deutschen Bundestagswahlkampf ordentlich geerdet. Ich war der Meinung, so wie man in den USA Wahlkampf macht, könnte man das auch hier tun. Das deutsche und das amerikanische Parteiensystem unterscheiden sich sehr. Vor allem aber war Obama ein Ausnahmekandidat und so etwas wie die Obama-Kampagne kommt nur einmal alle 50 Jahre vor.

WIRED: Was war der größte Unterschied?
Van de Laar: Die Obama-Kampagne 2008 war ein Startup – wahrscheinlich eines der größten Startups überhaupt zu der Zeit, wenn man die Neueinstellungen, die Investitions- und Wachstumskurven vergleicht. Wir haben Graswurzelarbeit gemacht, es gab fast nichts, auf dem wir aufbauen konnten. Die Zielvorgaben waren knüppelhart und wurden so rigoros verfolgt, da würden sich die meisten Sales-Teams umschauen. Vor allem aber wir hatten in den vorgegebenen Parametern extreme Flexibilität. Wir konnten zu zweit in Missouri eigene Kampagnen entwickeln, E-Mail-Verteiler aufsetzen, eine Facebook-Seite starten, Werbung schalten. Das Mantra lautete: Probier es aus – Trial and Error. Das geht in einem gewachsenen Unternehmen oder einer gewachsenen Partei nicht einfach so.

WIRED: Was haben Sie zum Beispiel ausprobiert?
Van de Laar: Wir hatten eine Großveranstaltung mit Oprah Winfrey und jemand hatte die Idee: Wir könnten doch die 30.000 Leute im Stadion gleich für Wählerkontakte einspannen: 30.000 mal drei Anrufe, um Wähler zu identifizieren. Jeder, der zur Veranstaltung hineinkam, hat einen Zettel in die Hand bekommen mit drei Namen und Telefonnummern. Und Obama stand vorne mit gezücktem Handy und sagte: Jetzt macht drei Anrufe, danach rede ich weiter. Das waren Methoden, für die gab es kein Playbook. Das haben wir uns ausgedacht. So etwas ist in Deutschland nicht möglich, weil man die Telefonnummern nicht hätte.

WIRED: In den USA verfügen die Parteien nicht nur über die Nummern und Adressen der Wählerinnen und Wähler, sondern über noch viel umfangreichere Datensätze zu jeder einzelnen Person. Wie kommen sie an diese Daten?
Van de Laar: In den USA gibt es das Wählerregister und daraus sieht man genau: Sind Sie das letzte Mal, das vorletzte Mal zur Wahl gegangen? Sind Sie als Demokrat, Republikaner oder unabhängiger Wähler registriert? Wenn ich mir die Daten der letzten vier Wahlkämpfe anschaue, kann ich so mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, ob jemand ein Demokrat oder Republikaner ist. In einigen Staaten wird bei bei der Registrierung sogar erfasst, ob sie etwa weiß, Afroamerikaner oder Latino sind. Zusätzlich kann man umfangreiche Datensätze zu einzelnen Wählern auf dem freien Markt kaufen. So erfahren die Kampagnen detaillierte Informationen wie zum Beispiel die Bildungsabschlüsse oder das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Ihrer Straße. Jede Kampagne in den USA verfügt so über eine eigene Datenbank von 250 Millionen Wählerdaten mit vielen relevanten Informationen über die Zielgruppe. Die Vielzahl der Datenpunkte ermöglicht ein sehr zielgenaues Vorgehen. 

WIRED: Machen die Parteien auch eigene Umfragen?
Van de Laar: Die Obama-Kampagne machte teilweise jeden Abend 10.000 Anrufe in bestimmte Zielgruppen. Die gewonnenen Informationen wurden anschließend mit den 20.000 weiteren Datenpunkten jedes Wählers und Wählerin kombiniert. Das funktioniert dann quasi wie eine Lookalike-Audience auf Facebook. Nach dem eine Kampagne herausgefunden hat, wie die Unterstützer aussehen, suchen sie im Rest der Bevölkerung nach deren Datenzwilligen mit denen sie aber noch nicht gesprochen hat. Auf dieser Basis weiß man sehr genau, wen man noch ansprechen sollte und wen nicht mehr.

WIRED: In Deutschland versucht die CDU mit ihrem Projekt Connect 17 derzeit, solche Analysen für den Haustür-Wahlkampf anzuwenden und ihre Unterstützer gezielt dorthin zu schicken, wo sie Unionswähler vermutet.
Van de Laar: Im Saarland hat die CDU nach eigenen Aussagen an 75.000 Türen geklopft, was für deutsche Verhältnisse in einem kleinen Bundesland eine beachtliche Zahl ist. Die SPD hat 2013 bundesweit an zwei Millionen Türen geklopft. Man kann in den Analysen sehen, es funktioniert. In den Stimmbezirken, wo geklopft wurde, geht die Wahlbeteiligung messbar nach oben. Klar ist der Haustürwahlkampf deutlich mühsamer als eine Online-Anzeige zu schalten. Gleichzeitig ist er aber auch erst mal kostenlos, wenn man die Freiwilligen mobilisieren kann. 

WIRED: Die Strategie von Angela Merkel war über die letzten Wahlkämpfe die asymmetrische Demobilisierung: bloß keine Themen ansprechen, die die Wähler der Gegenseite aufregen und zur Wahlurne bewegen könnten. Warum macht es die CDU diesmal anders?
Van de Laar: Diesmal wird der Wahlkampf vermutlich deutlich polarisierter als 2013, denn die SPD will ja polarisieren. Die CDU muss reagieren. 

WIRED: Neben den Haustüren könnte sie auch auf anderen Kanälen reagieren, im Netz, über klassische Werbung.
Van de Laar: Was natürlich auch gemacht wird. Das Budget der deutschen Parteien ist im Vergleich zu den USA jedoch nicht besonders hoch. Ich bin von der Wirksamkeit von online Kommunikation absolut überzeugt. Allerdings ist und bleibt die effektivste Art jemanden zu überzeugen immer noch das persönliche Gespräch. Nichts ist authentischer als ein Nachbar oder Freund, der an meine Tür klopft und sagt: Vielleicht bist du nicht ganz zufrieden mit der Kitasituation. Ich weiß wie es Dir geht, meine Kinder gehen auch hier in die Kita. Lass uns darüber sprechen.

WIRED: In den USA zählt der Haustür-Wahlkampf zum Standardrepertoire der Wählermobilisierung. In Deutschland wurde er lange Zeit kaum gemacht. Warum?
Van de Laar: Einzelne Kandidatinnen und Kandidaten haben immer schon Haustür-Wahlkampf gemacht. In den letzten Wahlkämpfen hörte man jedoch oftmals noch: Du kannst doch nicht an die Tür eines Wildfremden klopfen für ein persönliches Gespräch. Natürlich kannst du das! Du musst nur deine Erwartungen anpassen. Wenn du hoffst, dass dir 99 von 100 Leuten aufmachen und alle sich freuen, ist das eine falsche Erwartungshaltung. Wenn ich aber davon ausgehe, von hundert Türen machen vielleicht 35 auf und mit 40 Prozent davon kann ich eine vernünftige Unterhaltung führen, ist das realistisch.

WIRED: Der Aufwand ist allerdings enorm, weil ich dafür sehr viele Unterstützer auf die Straße bekommen muss.
Van de Laar: Klar ist das mühsam, aber es ist deutlich effektiver als eine Anzeige. In den vergangenen Jahren fand ein Umdenken statt, weil Leute gemerkt haben: Es funktioniert. Man kann die Methoden und Kanäle aber auch kombinieren. Ich kann mit einer Postwurfsendung starten, klopfe anschließend an die Tür und spiele danach gezielte Anzeigen auf YouTube und Facebook in dem Gebiet aus. Darum geht es: Sachen auszuprobieren. Und dann zu testen was funktioniert. Lass uns in diesem Bezirk nur an Türen klopfen, dort Anzeigen schalten und klopfen und im dritten Bezirk nehmen wir noch Wurfsendungen dazu. Dann werten wir alles aus, lernen daraus, und machen das bundesweit. So wird man immer besser und effektiver. Auf diese Art haben die Demokraten in den USA in den letzten Jahren gearbeitet.

WIRED: Arbeitet irgendeine deutsche Partei bereits mit solchen Auswertungsmethoden?
Van de Laar: Wir haben das gemacht für Parteien in vergangenen Wahlkämpfen. Aber es ist natürlich schwierig, denn wenn ich in einigen Wahlkreisen alles mache und in anderen gar nichts, werden die Direktkandidaten in letzteren sich zurecht beschweren. Man kann schlecht sagen: Im Sinne des Experimentes für das große Ganze gehst du, lieber Kandidat, jetzt mal leer aus. Der andere Punkt ist: In den USA bekommen wir ein paar Monate nach der Wahl das Wählerregister zurück und sehen genau, ob jemand wählen gegangen ist oder nicht. Entsprechend kann rückverfolgt werden, welches „Treatment-Programm“ die jeweilige Gruppe erhalten hat (z.B. Haustür, Facebook, YouTube, TV-Werbung) und ob es etwas signifikant verändert hat. In Deutschland können wir das nur heruntergebrochen auf 1000 Leute in einem Stimmbezirk betrachten und auswerten: Was haben diese oder jene Maßnahmenpakete für diesen Wahlbezirk gebracht? Da ist es schwerer nachzuvollziehen, wer am Ende noch eine zusätzliche Ansprache gebraucht hätte.

WIRED: In Deutschland ist der Datenschutz viel strenger, niemand kann hier auf dem freien Markt Datensätze zu einzelnen Wählern kaufen. Woher wissen die Parteien überhaupt, wo sie im Haustür-Wahlkampf klingeln müssen?
Van de Laar: In Deutschland bekommt man über den Bundes- oder Landeswahlleiter die Daten aus den vergangenen Wahlen, aufgeschlüsselt nach Wahlkreis und Stimmbezirken. Das ist deutlich unspezifischer als in den USA – dennoch kann man damit schon viel erreichen. Wenn ich etwa sehe, in diesem Bezirk hat meine Partei einen hohen Stimmenanteil, die Wahlbeteiligung ist aber niedrig, weiss ich, dass da noch Potential ist. Nur: So ein Stimmbezirk sind immer noch 1000 Leute. Wenn ich will, kann ich noch auf die Ebene von Baublöcken runterbrechen, die nächst kleinere geografische Einheit. Da habe ich allerdings keine offiziellen Zahlen mehr. Die Prognosen basieren dann auf den Soziostrukturdaten zu diesem Block, also Schätzungen zu Altersdurchschnitt, Einkommen, Bildung oder Geschlecht. 

WIRED: Ein wesentlich gröberes Modell als in den USA. Welche Unterschiede entstehen daraus?
Van de Laar: Streuverlust. In den USA weiss man relativ genau, an welche Tür man klopft. In den USA wird jedem Wähler einen Score zwischen 0 und 100 zugeordnet, je nach Wahrscheinlichkeit, ob die Person Obama oder Romney, Clinton oder Trump wählt. Anschließend konzentriert man sich dann ausschließlich auf die Wähler, die noch unentschlossen sind, bzw. auf diejenigen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Obama wählen würden – aber nur eine sagen wir eine 23-prozentige Wahrscheinlichkeit hatten, überhaupt wählen zu gehen. 

WIRED: Die CDU will mit Connect 17 nach eigener Aussage vor allem ihre klassische Wählerschaft mobilisieren. Warum konzentrieren sie sich nicht auch auf Unentschlossene?
Van de Laar: Ich kenne die Interna der CDU nicht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass CDU-Wähler zur Wahl gehen, ist im Vergleich zu anderen Parteien relativ hoch, das sieht man nach jeder Wahl. Die Wähler und Wählerinnen der CDU sind im Schnitt älter – und ältere Wähler haben die höchste Wahlbeteiligung. Die Sorge, die die CDU haben könnte, ist dass einige nicht mehr zufrieden sind mit der Kanzlerin und diesmal zu Hause bleiben könnten, auch wenn sie sonst immer CDU gewählt haben. Das Problem ist aber meiner Meinung nach nicht die Eingrenzung der Zielgruppe, sondern der Kampagnendauer: Alle gucken immer auf die Mobilisierungsphase, die letzten Wochen und Tage vor der Wahl, weil es heisst, die Leute entscheiden sich in den letzten Tagen. Das halte ich für äußerst fragwürdig. Ein Großteil ist bereits entschlossen, lange bevor er zur Wahlurne geht. Die Frage ist also, wie kann ich jetzt schon Stimmung für meine Partei machen? Wie kann ich die Leute, die im Moment noch unentschlossen sind, überzeugen? Da hilft das Haustür-Gespräch natürlich ebenfalls. Insofern verschenkt eine Strategie, die nur darauf zielt, die eigenen Wähler kurz vor der Wahl zu mobilisieren, unheimlich viel Potential. Bei Obama 2012 haben wir ein Jahr vorher mit dem Wählerkontakt begonnen – die sogenannte „Persuasion-Phase“. 

WIRED: Welche weiteren Methoden aus dem US-Wahlkampf könnten deutsche Parteien für sich nutzen?
Van de Laar: Ganz rudimentäre Dinge. Etwa dass man, wenn man einen E-Mail Newsletter an die eigenen Unterstützer verschickt, die Betreffzeile A gegen B testet, um herauszufinden, was die höhere Öffnungsrate bringt. Das ist aus Sicht der Datenschutzes völlig unproblematisch. Jedes Onlinemarketing-Unternehmen verwendet solche Methoden. Das gleiche gilt für A/B-Tests auf der Webseite: Welcher Button, welche Headlines funktionieren?

WIRED: Wird das gemacht?
Van de Laar: Absolut. Bei einigen Parteien ist viel im Umbruch und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen ist vorhanden. Parteien können in diesem Wahlkampf jedem Bürger denselben Brief zuschicken oder gezielt, unterschiedliche Zielgruppen nach demografischen Merkmalen und Wählerpotentialanalysen ansprechen. Dienstleister wie die Deutsche Post bzw. Post Direkt verfügen über die hierfür notwendigen Datensätze.

WIRED: Dann gibt es ja doch Datensätze, auf die man zugreifen kann.
Van de Laar: Ja. Allerdings sind die Daten deutlich unspezifischer als in den USA. Deutsche Datendienstleister selektieren auf Basis der Soziostrukturdaten. Anschließend erfolgt eine Schätzung, ob jemand eher SPD, CDU, Grüne, Die Linke, FDP oder AfD wählt. Außerdem bleiben die Wählerdaten wie Name und Anschrift  immer bei der Post – sie werden quasi verpachtet. Die Parteien können dann sagen: Ich möchte alle männlichen Wähler zwischen 30 und 40 in Berlin kontaktieren oder nur Frauen zwischen 50 und 60 in diesen spezifischen Straßenzügen.

WIRED: Wie Facebook-Targeting, nur analog.
Van de Laar: Und genau wie bei Facebook ist das eine Blackbox. Man kann die Daten nicht selbst einsehen oder bearbeiten. Wie die jeweilige Zielgruppe ermittelt und ob sie wirklich erreicht wurde, weiß niemand. Ich glaube, die Motivation der deutschen Parteien, in so etwas zu investieren, wäre wesentlich größer, hätten sie tatsächlich Zugriff auf den Datensatz der 61 Millionen Wählerinnen und Wählern. Das ist ja vererbbares Wissen, so eine Datenbank wird immer besser und effektiver: In diesem Wahlkampf kann man anfangen, im nächsten darauf aufbauen. Wenn ich dagegen nur Leute anschreibe, dann ist das Geld weg und es macht den Datensatz nicht besser.

WIRED: Wäre es wünschenswert, die Daten aller Wähler stünden auch in Deutschland zur Verfügung?
Van de Laar: Natürlich nicht. Wenn sie allerdings in einer Parteizentrale für die Kampagne arbeiten, dann ist ihr Auftrag, so effizient wie möglich mit den begrenzten zeitlichen und finanziellen Ressourcen umzugehen, um die Wahl zu gewinnen. Aus Sicht der Werbeagenturen sind mehr Daten ebenfalls besser, weil es für sie mehr Geld bedeutet. Je mehr Zielgruppen ich identifizieren kann, umso mehr Spots brauche ich auch: für Frauen, Männer, für junge, für ältere Frauen. 

WIRED: Aber spare ich nicht auch Geld, weil ich meine Anzeigen viel zielgenauer schalten kann?
Van de Laar: Klar. Allerdings darf man die Kosten für die Produktion der unterschiedlichen Anzeigen für die jeweilige Zielgruppe nicht unterschätzen. 

WIRED: Zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, dass Wahlen nicht mehr von Kandidaten gewonnen werden, sondern von unauffälligen Leuten in Hinterzimmern, die mit Algorithmen den Wahlkampf optimieren. Über Hillary Clintons Algorithmus Ada wurde berichtet als sei es ihre Geheimwaffe.
Van de Laar: Ich würde das Gegenteil behaupten. Wenn man sich Clinton gegen Trump anschaut, kann man schwer behaupten, die Wahl wurde von Nerds oder Algorithmen gewonnen. Clinton hat sehr viel in ihr Datenteam investiert und wir wissen, wie die Wahl ausgegangen ist. Trump hat deutlich mehr in Daten und Umfragen investiert als er zugegeben hat, das zeigt sich jetzt durch die Veröffentlichung seiner Kampagnenausgaben. Aber der wichtigere Punkt war: Clinton konnte nie wirklich artikulieren, warum sie für die Präsidentschaft kandidiert. Sie wirkte auf mich oft unauthentisch. Dazu kam wie die Kampagne auf den Skandal um ihren E-Mail-Server reagiert hat.  Es ist nie gelungen das Vertrauensdefizit wieder auszugleichen. Sie war unglaubwürdig und nicht bereit, sich zu entschuldigen. Da helfen die besten Spots und Datensimulationen nichts.

WIRED: In den USA geht es darum, einzelne Bundesstaaten im Alles-oder-Nichts-Verfahren zu gewinnen. In Deutschland zählt am Ende das absolute Ergebnis einer Partei durch die Zweitstimme. Bräuchte man hierzulande überhaupt solche aufwändigen Algorithmen für die Potentialanalyse?
Van de Laar: In den USA geht es um die Frage: Wie komme ich auf 270 Wahlmänner und das ist am Ende Arithmetik. Demokraten würden niemals auch nur einen Cent in New York oder Kalifornien in den Wahlkampf investiere. Das wäre Verschwendung da diese Staaten und deren Wahlmänner für Demokraten sicher sind. In Deutschland kann ich hingegen nicht sagen: In Wahlkreis 106 in Düsseldorf gebe ich kein Geld aus, weil der SPD-Kandidat dort ohnehin keine Chance auf ein Direktmandat hat. Ich brauche ja noch die Zweitstimme für das absolute Ergebnis der Partei. 

WIRED: Könnte man die Chance auf Überhangmandate per Datenauswertung optimieren?
Van de Laar: Theoretisch ja. Es zählt ja am Ende nicht nur das absolute Ergebnis der Partei. Viele Kandidaten sind in engen Wahlkreisen, die sie direkt gewinnen müssen. Das Erststimmen-Ergebnis von 2013 gibt darüber Aufschluss. Anschließend würde man sich die Höhe der Differenz zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten ansehen – besonders für Kandidaten, die nicht über die Liste abgesichert wären. In vielen Fällen haben Kandidaten ihren Wahlkreis mit weniger als 2000 Stimmen Unterschied verloren. Wo so wenige Stimmen entscheiden, ob jemand in den Bundestag einzieht, wäre es komplett unverantwortlich, Leute nicht zu mobilisieren. Wenn ich etwa weiss, die Wahlbeteiligung in meinem Wahlkreis war zuletzt niedrig, kann ein Kandidat jeden Tag von jetzt bis September an 200 Türen klopfen.

WIRED: Welche Partei setzt diese Strategien in Deutschland heute schon am effektivsten ein, um ihre Ressourcen im Wahlkampf zu verteilen?
Van de Laar: Das werden wir vermutlich erst nach der Wahl erfahren. Keine Partei verrät jetzt schon die Strategie. Entscheidend ist es die Daten nicht nur zu erheben und zu analysieren, sondern sie aufzubereiten und den WahlkämpferInnen vor Ort zugänglich zu machen. Einige Parteien, unter anderem die CDU, SPD und Grüne haben beispielsweise in interaktive Karten investiert um wählerpotentiale auf Open-Street-Maps abzubilden. Hier können Wahlkämpfer bis in die Stimmbezirke zoomen und ihr „Einsatzgebiet“ auswählen. Da steht dann: überdurchschnittlich viele Familien oder überdurchschnittlich viele Senioren.

WIRED: Wie werden diese Karten erstellt?
Van de Laar: Man kombiniert die Geometrie der jeweiligen Wahl- und Stimmbezirke mit den Informationen der vergangenen Wahlen (Bundestag und ggf. Landtag und Europawahlen). Darüber hinaus können Informationen wie z.B. Soziostrukturdaten analysiert werden. Diese erhält man entweder über die Gemeinden oder durch Anbieter wie Microm oder die Post. Vorstellbar wäre auch noch aktuelle Umfragen hinzuzufügen, allerdings gestaltet sich das auf Wahlkreisebene äußerst schwierig. Anschließend werden unterschiedliche Merkmale gewichtet und analysiert. Das Resultat ist eine Landkarte, die die wichtigsten Stimmbezirke mit dem höchsten Wählerpotential meiner Partei hervorhebt und die wichtigsten Straßenzüge für die UnterstützerInnen visualisiert.

WIRED: Die CDU sammelt inzwischen mit der Connect-17-App auch echte Daten an der Haustür. Die Unterstützer können dort eingeben: Unter dieser Hausnummer öffnete eine Frau, schätzungsweise um die 60 und sie war der CDU eher zugeneigt oder eher abgeneigt.
Van de Laar: Ich bin sehr gespannt, welche Erfahrungen die CDU mit ihrer App macht. In den Wahlkämpfen 2009 und 2013 wurde immer beteuert wie unvorstellbar es sei, mit einer App an der Haustür zu stehen und Daten zu erheben. Gleichzeitig ist es einen Schritt näher an den heiligen Gral: ein Daten-Modell, das mit jedem Wählerkontakt klüger und genauer wird. Genau das hat auch die Obama-Kampagne umgesetzt: 2012 haben wir jeden Tag frische Daten aus dem ganzen Land erhalten und unser Modell und Scoring jede Nacht neu berechnet.

WIRED: Die CDU trainiert mit ihren Freiwilligen an einer interaktiven Haustür verschiedene Szenarien – von der totalen CDU-Anhängerin bis zum Extremfall des Wutbürgers, der mit der Polizei droht.
Van de Laar: Freiwillige haben oft großen Respekt die eigene Komfortzone zu verlassen und bei einem Wildfremden an die Tür zu klopfen. Die meisten Konversationen verlaufen allerdings überaus positiv. Wenn Sie an hundert Türen klopfen, werden Sie feststellen, dass kaum jemand unfreundlich ist oder die Tür ins Gesicht schlägt. Leute sagen höchstens: Ich habe keine Lust, bitte gehen Sie. Insofern: Ich würde im Training auf dieses Szenario weniger Fokus setzten.

WIRED: Warum würde eine Partei überhaupt Pressearbeit damit machen, dass sie innovative Methoden im Wahlkampf einsetzt?
Van de Laar: In erster Linie Earned Media. Und es funktioniert – wir sprechen ja auch gerade darüber!

WIRED: Wo gibt es ihrer Meinung nach noch Möglichkeiten im digitalen Wahlkampf, die noch nicht ausgeschöpft werden?
Van de Laar: Das größte Potential steckt in Rapid Response, also schnell auf aktuelle, politische Themen einzugehen und somit den Deutungsrahmen im öffentlichen Diskurs zu definieren. Dafür eignen sich vor allem die digitalen Medien. Denken Sie nur wie viel Vorlauf es braucht, um ein Plakat zu drucken, da vergehen oft Wochen. Ganz anders im Netz aber auch auf digitalen Werbetafeln. Sechs Wochen später weiß niemand mehr, was passiert ist.

WIRED: Die SPD hat bereits im vergangenen Wahlkampf mit solchen Methoden gearbeitet und zum Kanzlerduell Google-Ads in Echtzeit geschaltet.
Van de Laar: Wenn man „Kanzlerduell“ gegoogelt hat, bekam man Ads zu Webseiten mit Botschaften des Kandidaten angezeigt. Viel kann in so einem Duell auch vorbereitet werden. Die Kandidaten studieren viele Ihrer besten Punchlines bereits vorher ein. So hat es auch Obama gemacht. Damals wurden viele der Anzeigen, Share-Pics auf Facebook und anderer Content bereits vorproduziert und nur auf den richtigen Moment gewartet um damit live zu gehen.

WIRED: Sie sagen, in der Politik geht es vor allem um einfache Botschaften. In dieser Hinsicht wird es für SPD und CDU fast unmöglich sein, gegen den Populismus der AfD anzukommen.
Van de Laar: Die Prämisse, einfache Botschaften seien schlecht, ist falsch. Komplexe Inhalte, um die es im Wahlkampf geht, müssen runtergebrochen werden. Vor allem muss ein Aufhänger sowie persönlicher Bezugspunkt gefunden werden. Gerhard Schröder hat es geschafft immer wieder seine persönliche Geschichte zu erzählen und die unterschiedlichen Politikfelder in kurze und prägnante Botschaften zu verpacken. Obama gelang das auch, meistens. Bei Hillary Clinton wusste ich dagegen nie genau, was sich hinter ihrem „Stronger Together“ verbirgt. Was wollte Clinton inhaltlich in diesem Wahlkampf? Bei Trump gab es da keinen Zweifel: Muslime raus. Mauer zu Mexiko. Weg mit Obama-Care. Kandidaten müssen deutlich machen, dass Wahlen Konsequenzen haben. Zu häufig wird lediglich auf das eigene Parteiprogramm hingewiesen. In den USA wird der Kontrast deutlich stärker betont: Was sind die Konsequenzen, eines Wahlerfolgs des politischen Gegners? Das gilt auch für den Bundestagswahlkampf: Keine Mobilisierung ohne Polarisierung.

WIRED: Die SPD würde sagen, sie steht für soziale Gerechtigkeit.
Van de Laar: Richtig. Doch was bedeutet das konkret? Soziale Gerechtigkeit ist eine Worthülse die ausgefüllt und definiert werden muss. Was genau ist gerecht und was ungerecht? Oft wird gesagt, dass Martin Schulz noch mehr Inhalte liefern muss. Allerdings geht es aus meiner Sicht weniger um Fünf-Punkte-Pläne, sondern darum, anhand von konkreten Anekdoten zu illustrieren, wie die politischen Ansätze unser Leben und Gesellschaft verändern und besser machen werden. Mobilisierung entsteht durch Emotion. Emotion durch Empathie. Um Empathie zu erzeugen, müssen wir die harten Zahlen, Daten und Fakten wieder in Geschichten die das tägliche Leben wiederspiegeln einbetten.

WIRED ist Medienpartner der re:publica 2017 und berichtet hier vom 8. bis 10. Mai live von der Konferenz in Berlin.

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