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Dieser Autor schreibt seinen Roman gerade live im Netz

von Angela Gruber
Der Autor Joshua Cohen streamt die Arbeit an seinem neuen Buch „pckwck“ ins Netz. Zuschauer können seine schreiberische Entblößung live verfolgen — und die Entscheidungen des Schriftstellers beeinflussen.

Wenn Joshua Cohen nachdenkt, legt er seinen linken Zeigefinger auf die Oberlippe und runzelt die Stirn. Er kratzt sich am Kopf. Er faltet die Hände, als sei er im Gebet, und starrt in die Luft. Dann raucht er eine. Sein Arbeitstag als Romanautor ist in dreieinhalb Stunden vorbei. Er fängt an, zu tippen. 336 Menschen sehen ihm dabei zu.

Es gibt keinen Filter mehr zwischen Autor und Publikum.

Cohen streamt die Arbeit an seinem neuen Roman „pckwck“ live ins Netz. Es ist ein Projekt der völligen schreiberischen Entblößung. Cohen zeigt den Lesern per Webcam nicht nur, was er selbst gerade macht. Sie können auch in Echtzeit verfolgen, was er schreibt. Jeder gerade erst gedachte Satz, den er vielleicht schnell wieder löscht, jeder Vertipper: Es landet alles direkt im Internet. Es gibt keinen Filter mehr zwischen dem Autor und seinem Publikum. Einen tieferen Blick in seinen Schreibprozess als Cohen hat wohl noch nie ein Schriftsteller gewährt. „Der Autor besitzt keinerlei Recht auf Privatsphäre“, schreibt deswegen auch sein Verlag Useless Press.

Der Amerikaner Cohen, geboren 1980, hat schon mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman „Witz“, den Erzählband „Vier neue Nachrichten“ und zuletzt „Book of Numbers“. In seiner Arbeit beschäftigte er sich auch schon vor „pckwck“ mit den Verstrickungen eines Lebens, das zunehmend in einer digitalen Welt stattfindet. Jetzt macht Cohen sich uns sein Schreiben im Netz selbst zum Gegenstand.

Die Zuschauer wissen bei seinem aktuellen Projekt genau, an welcher Stelle im Manuskript er gerade hängt. Ein grüner Cursor zeigt es ihnen an. Wem der Entwurf gefällt, der kann auf die Stelle im Text tippen und eine Kaskade an Herzchen steigt über die Seite, ähnlich wie bei der Streaming-App Periscope. Rechts neben dem Text ist eine anonyme Kommentarspalte. Im Sekundentakt tauchen neue Beiträge der Beobachter auf.„Sieht nach Schreibblockade aus.“ „Ist das ein Bier?“ „Ich höre ja immer Gansta Rap, wenn ich arbeite.“ „Glaubt ihr, er liest das hier alles? Da kann ja kein Mensch schreiben.“

Der Titel „pckwck“ verweist auf Cohens literarisches Vorbild, den Debütroman von Charles Dickens, „The Pickwick Papers“. Cohens Buch soll eine Adaption des Dickens-Werks werden. Während im Original der Gelehrte Samuel Pickwick auf Reisen durch England allerlei Abenteuer erlebt, lässt Cohen seinen (vermutlichen) Protagonisten, den wegen Meineids angeklagten Shamil Al-Waked aus Frankreich, eine (bislang) ziemlich unübersichtliche Geschichte erzählen. Teils in Prosa, teils in Form direkter Dialoge.

Für sein Buch hat Cohen sich nur fünf Tage Zeit gegeben. Am Montag, den 12. Oktober, startete er sein Projekt. Am morgigen Freitag will er fertig sein. Ein Countdown über dem Webcam-Bild zählt herunter, wie viel Zeit er noch zu schreiben hat. „Writer live“ steht in roter Schrift über der Uhr, wenn Cohen bei der Arbeit ist. Pro Tag ist er fünf Stunden online, danach ist Schreibpause.

Cohen hat sich seine eigene kleine Schreibhölle geschaffen.

Das Netz verleitet zur Prokrastination, heißt es oft. Nur noch kurz Facebook checken, dann geht es weiter. So gesehen hat Cohen sich seine eigene kleine Schreibhölle geschaffen, mit Herzchen, die über die Seite flimmern oder eben nicht, und einer ständig blinkenden Kommentarspalte. Gleichzeitig baut er damit den sozialen Druck auf, der ihn am Schreibtisch halten könnte.

Ob mit Cohens Versuchsanordnung bis morgen ein großer Roman entsteht, ist ungewiss. In der Schublade kann er das Geschriebene aber nicht mehr verschwinden lassen, das weiß er selbst wohl auch: „Das Netz ist wie verschwitzte Schuhe“, sagt einer von Cohens Protagonisten in der Erzählung „Emission“: „Was da mal drin ist, lebt ewig.“ 

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