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Digital ist besser / Johnny Haeusler fürchtet, dass seine Lieblingsmusik online verloren geht

von Johnny Haeusler
Eigentlich glaubt Johnny Haeusler an den Titel seiner WIRED-Kolumne: „Digital ist besser“. Beim Stöbern in seiner Plattensammlung fragt er sich diese Woche jedoch: Ist das wirklich immer so?

Es war mal wieder Zeit für eine dieser analogen Aufgaben, über die jüngere Generationen nur verwundert den Kopf schütteln: Platten sortieren. Vinyl-Alben. Plastikscheiben, die Musik gespeichert haben, welche man aber nur mit einem sogenannten „Plattenspieler“ abrufen kann. Und die man eben ab und zu in eine nachvollziehbare Reihenfolge im Regal bringen muss, damit man die gewünschte Musik schneller findet.

Keine Sorge, das wird keiner dieser „Früher war alles besser“-Artikel. Ich bin sehr dankbar darüber, dass ich nicht mehr Tonnen von Kunststoff durch die Gegend schleppen muss, sondern einen Teil der Musik, die ich liebe, immer in meiner Hosentasche dabei haben kann. Weshalb ich meine Vinyl-Sammlung vor einigen Jahren von mehreren tausend auf wenige hundert Platten reduziert habe. Ganz weg kommt das Zeug wahrscheinlich nie, an einigen Alben hänge ich halt sehr. Lasst mir dieses bisschen Nostalgie (und dass ich inzwischen wieder neues Vinyl hinzukaufe, das hat mit diesem Text nichts zu tun).

Beim Versuch, die aktuelle Sammlung weiter zu minimieren, fiel mir jedoch etwas auf. Normalerweise sortiere ich Alben oder Singles recht sorglos aus, bei vielen bin ich recht sicher, dass ich sie nie wieder anhören werde. Sollte ich mich irren, denke ich dann immer, habe ich ja jederzeit wieder digitalen Zugriff darauf. Aber das ist ein schwerwiegender Irrtum.

Ein großer Teil der Kultur der letzten Jahrzehnte hat es nicht ins Digitale geschafft.

Etwa sieben von zehn meiner Alben, die ich aus Platzgründen aussortieren wollte, konnte ich online nicht finden. Weder bei Spotify noch bei Apple Music noch bei Amazon, und erst recht nicht via BitTorrent. Sicher geht die Nachfrage nach diesen Alben gegen Null, vielleicht ist die Rechtslage unsicher, vermutlich ist das ein oder andere Label von damals längst pleite und so kümmert sich halt niemand darum, ob beispielsweise die Schweizer Band Hungry For What digital verfügbar ist. Auch die Singles der Briten von 25th of May sind schlecht auffindbar. Immerhin haben sich in beiden Fällen aber Menschen die Mühe gemacht, ein paar alte Videos der Bands zu YouTube zu laden.

Vermutlich brauchte es in der Geschichte der Menschheit immer Privatinitiative, um Kulturgüter zu retten, speziell was Liebhaberstücke oder Raritäten angeht. Trotzdem hat mich die Erkenntnis ins Grübeln gebracht, dass es ein großer, vielleicht sogar der größte Teil der Kultur der letzten Jahrzehnte eben nicht automatisch ins Digitale geschafft hat, und ich habe die betreffenden Platten behalten. Und noch etwas anderes brachte mich dazu: Selbst wenn die jeweiligen Schallplatten digital und auch jenseits von YouTube verfügbar wären – würde ich mich jemals wieder an sie erinnern, wenn nicht beim Duchstöbern der eigenen, über Jahrzehnte angesammelten Vinyl-Kollektion? Wohl kaum. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich online zufällig über die Happy Hate me Nots, Baby Chaos oder Eight Dayz, die Band des ehemaligen Profi-Skaters Claus Grabke, stolpere, ist sehr klein.

Das Digitale nimmt uns die Sichtbarkeit, den Zufall, die Erinnerung an unsere kulturelle Sozialisierung.

Auf eine gewisse Art nimmt uns das Digitale die Sichtbarkeit, den Zufall, die Erinnerung an unsere sehr individuelle kulturelle Sozialisierung. Und damit ein Stück unserer eigenen Geschichte. Playlists gehen verloren, jeder Song sieht gleich aus, wenn er in einer Datenbank steckt, und eine alte musikalische Liebe ist von einer neuen zumindest visuell und durch die Abwesenheit jeglicher Haptik nicht zu unterscheiden. Ähnliches gilt, nebenbei bemerkt, auch für Fotos. Es gibt keinen alten Karton voller vergilbter Bilder, kein viel zu oft angefasstes und daher abgenutztes Plattencover in einem Betriebsystem. Es gibt nur Daten, und die sind alle gleich.

Ich bin und bleibe Kulturoptimist. Und ich bin noch nicht sicher, welche genauen Auswirkungen die oben beschriebenen Tatsachen auf unser Leben haben werden. Dass sie frei aller Konsequenzen sind, bezweifle ich aber.

Letzte Woche startete Johnny Haeusler einen nicht ganz ernst gemeinten Beschwichtigungsversuch: Ist doch alles gar nicht so schlimm mit der Netzneutralität! 

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