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Warum ein junger Filmemacher sich sein Smartphone stehlen ließ

von Cindy Michel
Er sah ihn beim Pornoschauen und konnte fast jeden seiner Schritte nachverfolgen – so intim lernte der Filmemacher Anthony van der Meer den Dieb seines Smartphones kennen. Doch die Beziehung war einseitig, der Kriminelle wusste nicht, dass die Beute gehackt und zum virtuellen One-Way-Schlüsselloch umfunktioniert worden war. Denn das gestohlene Telefon war der Aufhänger für die Doku „Find My Phone“. Mit WIRED sprach Van der Meer über seinen YouTube-Hit und die Macht der Überwachung.

Als eine professionelle Trickdiebin Anthony van der Meers iPhone stahl, ärgerte sich der damalige Filmstudent. Über sich selbst, weil er die Tat erst bemerkt hatte, nachdem sie samt Telefon verschwunden war, und natürlich über die Kriminelle. „Es ging mir gar nicht so sehr um das Gerät, sondern viel mehr um meine ganzen persönlichen Daten, meine Bilder, Textnachrichten und Videos – alles war weg“, sagt van der Meer.

Schon bald wich die Wut der Neugier: „Ich wollte unbedingt wissen, wo mein Telefon war, wer sich vielleicht meine Bilder anschaut und was für ein Mensch die Diebin ist.“ Diese Fragen ließen den Niederländer nicht mehr los und je mehr er darüber grübelte, desto klarer wurde ihm, dass ein gestohlenes Telefon der Protagonist seines neuen Filmes sein musste. Gedacht, getan: Heraus kam die Kurzdoku Find My Phone, die seit ihrer Veröffentlichung auf YouTube Ende vergangenen Jahres schon 5.900.000 mal angesehen wurde.

Das Konzept des Films klingt einfach: Van der Meer (23) lässt sich den Köder stehlen, ein Smartphone, das er präpariert hat, um den Dieb heimlich damit auszuspähen. Dazu muss das Android-Gerät so modifiziert sein, dass der Filmemacher per Fernsteuerung Fotos, Videos und Audiomitschnitte aufnehmen kann. Außerdem will er jederzeit die Position des Gerätes orten und sich Zugriff auf sämtliche Telefondaten verschaffen können. All diese Dinge macht die Cerberus-App möglich, ein Tool, das als Anti-Diebstahl-Lösung für Android-Smartphones beworben wird.

Damit Cerberus bei einem System-Update nicht gelöscht oder gar gefunden werden kann, blockiert van der Meer unter anderem die OTA-Update-Funktion. Diese drahtlose Aktualisierung greift immer dann, wenn das Telefon ans Netz geht. „Wie genau wir das gemacht haben, möchte ich nicht erläutern, denn mit einem derartigen Telefon-Hack kann man auch viel Mist anstellen“, sagt Van der Meer.

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„Ich wollte über den Diebstahl eines Telefons berichten und das Leben des Diebes kennenlernen“, berichtet der Niederländer. Der etwa 20-minütige Film, der dabei heraus kam, ist extrem nah dran am Kriminellen und die Einblicke, die sich Van der Meer verschafft hat, sind extrem intim – wenn auch nicht immer so, wie sie sich in der Realität schließlich offenbaren. Das Bild, das sich Anthony anhand der Daten von dem Dieb ausgemalt hat, muss er letztlich revidieren: „Daten allein reichen nicht aus, um einen Menschen kennen zu lernen“, sagt er heute.

WIRED hat mit dem jungen Filmemacher über Find My Phone gesprochen, über die verschiedenen Einblicke und Sichtweisen, die der Film offenbart, über Objektivität und Authentizität im Doku-Film sowie die Angst vor einem Überwachungsstaat. Außerdem verriet Van der Meer, dass noch in diesem Jahr eine Fortsetzung von Find My Phone erscheinen wird. „Da geht es dann aber um mein iPhone, das Telefon, das mir tatsächlich geklaut wurde und die Inspiration zu diesem Projekt war.“

WIRED: Überall wird gerade über Fake News in den sozialen Medien diskutiert. Gab es Zuschauer, die die Authentizität von Find My Phone angezweifelt haben?
Van der Meer: Es gab tatsächlich viele Kommentare, deren Verfasser meinten, der Film sei gescriptet. Einige glaubten zu wissen, dass ich ihn nur gemacht hätte, um für Cerberus zu werben. Andere meinten, ich wolle Fremden- und Islamfeindlichkeit schüren, weil der Dieb eine arabische Nummer hatte. Es macht mir wirklich Sorgen, dass so viele Leute so etwas vermutet haben.

WIRED: Wie widerlegt man solche Kommentare?
Van der Meer: Das ist leider gar nicht so einfach. Ich bin aufrichtig und ehrlich in meinem Film. Aber wie beweist man, dass etwas real ist, wenn es zur Realität gehört, dass Menschen dir nicht glauben wollen? Das ist in etwa so, als würdest du versuchen, jemanden davon zu überzeugen, dass ein blaues Auto blau ist. Die Crux daran ist, dass er dir aber gar nicht glaubt, dass da ein Auto steht, obwohl ihr beide direkt darauf blickt.

WIRED: Find my Phone ist ein Fall, der gelöst werden will. Hattest du die Detektivrolle, die du dabei einnimmst, beabsichtigt?
Van der Meer: Mit dem Film wollte ich verdeutlichen, wie riskant Smartphones für die Privatsphäre sein können, wie einfach man sie mit ihnen verletzen kann. Ich wollte zeigen, wie viele und vor allem welche Art Daten über dich gesammelt werden können, wenn jemand dein Smartphone hackt. Und du hast Recht, ich war wirklich irgendwie ein Detektiv.

Je mehr ich über den Dieb erfuhr, desto größer wurde mein Mitleid mit ihm

WIRED: Hast du dich nicht auch wie ein Stalker gefühlt?
Van der Meer: Es gab Zeiten, da war es schwierig weiterzumachen. Ich fand mich inmitten eines moralischen Dilemmas wieder: Je mehr ich über den Dieb erfuhr, desto größer wurde mein Mitleid mit ihm. Ich weiß nicht, ob das Wort Stalker meine Gefühlslage genau beschreibt, aber ich habe mich sicher nicht immer als einfacher, neutraler Detektiv gefühlt. Was mich aber nie verlassen hat, war die Gewissheit, dass ich Filmemacher bin und dass das meine alleinige Motivation ist.

WIRED: Es gibt einen extrem intimen Moment in deinem Film – als der Dieb auf deinem Telefon Pornos schaut.
Van der Meer: Die App hat mir nicht erlaubt, ihn live durch die Kamera zu beobachten, auch wenn das grundsätzlich möglich wäre. Also wusste ich gar nicht so recht, was er da eigentlich macht, als ich das Videos zum ersten Mal öffnete. Ich dachte, vielleicht kommt er gerade aus der Dusche oder zieht sich fürs Bett aus. Später habe ich seine Telefonliste analysiert und mit Videos und Fotos verglichen, die ich gemacht hatte. Und siehe da, plötzlich machte sein leises Stöhnen Sinn: Etwa zur gleichen Zeit, als das Video aufgenommen wurde, hatte er sich einen Porno gekauft.

WIRED: Du findest heraus: Ich sehe diesem Mann direkt ins Gesicht, während er einen Porno schaut und er hat nicht die leistes Ahnung davon. Ziemlich heftige Erkenntnis, oder?
Van der Meer: Ich hatte gemischte Gefühle, als ich es merkte. Zum einen war das Video natürlich großartiges Material, um meinen Standpunkt zu untermauern, dass man jeden jederzeit durch sein Smartphone beobachten kann. Zum anderen fühlte ich mich schlecht. Es war einer der Momente, der mich am Projekt zweifeln ließ. Im Schnitt entschied ich mich aber meistens, das Material zu verwenden.

WIRED: Und irgendwann hast du Sympathie für deinen Dieb empfunden.
Van der Meer: Es war eher Mitleid. Nachdem ich seine Daten analysiert hatte, fing ich an zu interpretieren. Seine Situation war schlecht, entweder er übernachtete in einem Obdachlosenheim oder bei einem Freund. Auf den Fotos, die ich von ihm machte, sah er viel älter aus als später in der Realität. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass man meist nach unten blickt, wenn man mit dem Smartphone hantiert. So bekommt man eine Art Doppelkinn und damit sieht man nicht nur älter, sondern auch viel trauriger aus. Es sah aus, als könne er niemandem etwas zuleide tun. Und zumindest konnte ich anhand seiner Unterhaltungen auf Englisch nichts Gegenteiliges feststellen. Die arabischen Gespräche habe ich nicht übersetzt. Ich habe diesen Mann zwei Wochen lang jeden Tag gesehen. Ich dachte, ich kenne ihn.

WIRED: Aber als du ihm dann in der Realität, ohne One-Way-Display-Schutz, direkt in die Augen blickstest, hattest du Angst?
Van der Meer: Ich war vor allem überrascht. Seit einigen Tagen war er nicht mehr online gewesen, aber telefonisch zu erreichen. Deswegen dachte ich, er sei im Ausland. Ich machte mich auf den Weg zum Haus seines Freundes in Amsterdam. Zusätzliches Filmmaterial für den Schnitt zu haben, schadet nie. Gerade als ich die Kamera angemacht hatte, öffnete sich die Haustür. Er und ein anderer Typ kamen aus der Wohnung, der Dieb blieb stehen und beobachtete mich, während der andere auf mich zukam und in leicht aggressivem Ton wissen wollte, was ich da mache. Ich erzählte was von Universität und Fotoprojekt. Er schien mir zu glauben und ließ mich in Ruhe, ich packte meine Kamera ein und verschwand so schnell wie möglich. Seine aggressive Aura zerstörte das Bild, das ich bis dato von dem armen, einsamen älteren Herrn hatte.

WIRED: Deine These hat sich also nicht bestätigt?
Van der Meer: Ich habe viel über diesen Mann gelernt, wahrscheinlich mehr, als er jemals über sich erzählen würde. Ich habe ihn während seiner intimsten Momenten gesehen. Aber eben nur durch die Daten, die ich gesammelt habe. Diese Informationen waren immer nur Momentaufnahmen. Mir fehlte der Kontext.

WIRED: Daten allein reichen also doch nicht aus, um einen Menschen kennenzulernen?
Van der Meer: Daten allein reichen nicht aus, es kommt darauf an, wie man sie interpretiert. Man muss sehr objektiv sein und nur dann Schlüsse ziehen, wenn man sie mit Informationen belegen kann. Vielleicht habe ich unbewusst gehofft, dass er ein guter Mensch ist und mir deswegen diese Vorstellung des armen, einsamen Mannes geschaffen. Als ich ihn dann im echten Leben sah, wurde mir bewusst, dass ich diese Person eigentlich überhaupt nicht kannte.

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