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Nach Köln: Wir brauchen nicht mehr Überwachung, sondern ein besseres Strafrecht

von Chris Köver
Nach den gewalttätigen Übergriffen von Köln fordern derzeit alle von der Polizei bis zur Bevölkerung eine Ausweitung der Videoüberwachung. Dabei ist der Kölner Hauptbahnhof längst flächendeckend mit Kameras ausgestattet. Warum wurden also nicht viel mehr Täter längst identifiziert? Intelligentere Überwachungstechnik könnte helfen, sagen Experten der Deutschen Polizeigewerkschaft. Dabei ist das Problem nicht zu wenig Überwachung, sondern zu wenig rechtlicher Schutz.

100 Beamte der Kölner Polizei arbeiten in der Ermittlungsgruppe „Neujahr“ derzeit daran, nachzuvollziehen, was in der Silvesternacht am Hauptbahnhof der Stadt genau passiert ist. 20 Täter haben sie bislang identifiziert — bei mehr als 500 Anzeigen allein in Köln eine eher nüchterne Bilanz.

Wie kann an einem Ort, der so mit Kameras gespickt ist wie der Kölner Hauptbahnhof derartiges passieren?

Wie kann es sein, fragt man sich, dass an einem Ort, der so mit Kameras gespickt ist wie der Kölner Hauptbahnhof, derartiges passieren kann, ohne dass man im Anschluss die Täter schnell und einfach identifizieren kann? Jedes Gleis, jede Ecke des Bahnhofs wird videoüberwacht.

Und in der Tat, es gibt mehr als genug Aufnahmen der fraglichen Nacht. Die Polizei wertet derzeit 350 Stunden Videomaterial aus. Genau in diesem Satz steckt aber auch schon das Problem: Die Polizei wertet aus. Sprich: Beamte der Ermittlungsgruppe sitzen vor Videos und schauen diese an. Dabei gibt es längst technische Lösungen, die das wesentlich schneller und besser könnten. Die keine Pause brauchen, nie müde werden, immer bei der Sache sind.

Intelligente Videoanalyse (IVA) nennt sich das und es ist ein derzeit boomendes Geschäftsfeld. Auf der ganzen Welt schneiden Millionen Überwachungskameras den Alltag mit. Die meisten dieser Bilder laufen aber ins Leere, denn wer sollte das alles überhaupt anschauen?

Eine Lösung für dieses Problem versprechen sogenannte intelligente Kameras. Statt einfach stur einen Ausschnitt mitzuschneiden und an eine Zentrale zu übermitteln, denken sie mit. Das können sie durch eine Software, die direkt in die Kamera integriert ist und verschiedene Verhaltensmuster erkennt. Jemand stellt einen Koffer ab, der dort nicht hingehört, übertritt eine Linie oder bewegt sich sehr schnell auf eine andere Person zu, passiert also eine„atypische Situationen“, kann die Kamera diese erkennen und reagiert, indem sie auf das Geschehen aufmerksam macht.

Stellen Sie sich vor, ich sitze vor 30 Bildschirmen und soll die alle im Auge behalten. Das schafft kein Mensch.

Wolfgang Blindenbacher, Leiter der Kommission Verkehrssicherheit bei der Deutschen Polizeigewerkschaft

Wolfgang Blindenbacher ist Leiter der Kommission Verkehrssicherheit bei der Deutschen Polizeigewerkschaft und Experte für Videoüberwachung. „Stellen Sie sich vor, man sitzt vor einer Vielzahl von Bildschirmen und soll sie alle im Auge behalten,“ sagt er. „Das schafft kein Mensch.“ Intelligente Kameras würden dem Sicherheitspersonal einen Teil der Arbeit abnehmen und damit die Überwachung der Gesamtsituation erleichtern. Stellt jemand einen Koffer ab, wo der nicht stehen soll, lungert an einer verdächtigen Stelle herum oder sinkt ein Mensch zu Boden, lenkt die Technik das aufgenommene Bild auf einen zentralen Bildschirm — direkt vor die Augen des Menschen, der dort sitzt. „Alle Aufnahmen werden auch gespeichert und können im Anschluss für die Beweissicherung verwendet werden“, sagt Blindenbacher.

Das Problem: Am Kölner Hauptbahnhof gibt es gar keine intelligenten Kameras. Die etwa 80 Kameras der Deutschen Bahn, die auf dem Bahnhofsgelände installiert sind, sind von der nicht-intelligenten Sorte — das bestätigt die Bundespolizei, die unter anderem für die Sicherung der Bahnhöfe zuständig ist. Das heißt, die Kamera schneidet einen Ausschnitt mit und übermittelt das Bild an eine Zentrale. Nach relativ kurzer Zeit müssen diese Bilder wieder gelöscht werden, es sei denn, sie werden für eine Ermittlung gebraucht, wie jetzt in Köln.

Noch schwieriger wird es auf dem Gelände vor dem Bahnhof, etwa der Domplatte, wo es ebenfalls zu gewalttätigen Übergriffen kam. Denn während der Bahnhof als Eigentum der Deutschen Bahn von dieser überwacht werden darf, gilt das Drumherum als öffentlicher Raum — und hier sind die Auflagen viel strenger. Laut Polizeigesetz NRW darf die Polizei „öffentlich zugängliche Orte“ nur dann mit Video überwachen, wenn es dort wiederholt zur Straftaten kommt und „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden.“ In Köln, das bestätigt die Deutsche Polizeigewerkschaft NRW, überwacht die Polizei bislang keinen öffentlichen Ort unter diesem Paragraphen.

Nichts deutet darauf hin, dass intelligente Kameras die Situation in Köln hätten verhindern können.

„Ich bin davon überzeugt, dass wir an sogenannten kriminogenen Punkten mehr intelligente Videoüberwachung brauchen“, sagt Blindenbacher und beruft sich auf die beiden Argumente, die besonders gerne für mehr Überwachung angeführt werden: erstens Prävention und zweitens Straftaten im Anschluss besser aufklären zu können. Auch die Bevölkerungsmeinung kippt gerade in diese Richtung. Nach einer aktuellen Umfrage der ARD sind 82 Prozent der Befragten für eine Ausweitung der Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen. Das ist als Reaktion verständlich, Menschen versprechen sich davon mehr Sicherheit. Nur deutet nichts darauf hin, dass mehr oder intelligentere Kameras die Situation in Köln hätten verhindern können oder jetzt zur Aufklärung beitragen würden.

Prävention ist eines der beliebtesten Argumente für mehr Überwachung. Der Effekt wird aber von Wissenschaftlern angezweifelt. „Abschreckungseffekte von Videoüberwachung sind zumindest zweifelhaft, auf jeden Fall aber stark vom Kontext abhängig“, sagt Tobias Matzner, der an der Universität Tübingen das Projekt „Ethik der intelligenten Videoüberwachung“ leitet. In Köln haben sich die Täter offensichtlich weder von den Kameras noch von den anwesenden Polizisten beeindrucken lassen.

Für eine Kamera sieht das, was in Köln passiert ist, nicht viel anders aus als das Gedränge im Bahnhof zu jedem Großereignis.

Und was ist mit dem Argument der Aufklärung? Auch hier bleiben viele technische Fragen offen. Würde diese Software überhaupt erkennen, wenn jemand bedrängt und betatscht wird? Für eine Kamera sieht das, was in Köln passiert ist, nicht so viel anders aus als das Gedränge im Bahnhof zu jedem beliebigen anderen Großereignis. Da steht weder ein „Objekt im Feld“ noch fällt das in die Kategorie „Jemand sinkt zu Boden“. Könnten die smarten Algorithmen Gesichter erkennen und damit die Aufklärung erleichtern?

All diese technischen Details sind aber letztlich gar nicht der Knackpunkt. Denn der Fehler liegt woanders. Selbst wenn sich die mutmaßlichen Täter morgen selbst auf der Wache stellen würden, könnten sie für ihre gewalttätigen Angriffe wahrscheinlich nicht verurteilt werden. Raub und Diebstahl sind in Deutschland strafbar. Einer Frau überraschend an die Brust, den Po oder zwischen die Beine zu fassen, ist hingegen kein Straftatbestand.

Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen in Deutschland (BFF) schreibt dazu: „Dem BFF sind schon lange zahlreiche Fälle bekannt, in denen Frauen an öffentlichen Orten belästigt, begrabscht und an Geschlechtsteilen angefasst wurden. In der Regel enden diese Taten für die Täter straflos, weil aufgrund der Überrumpelung der Betroffenen keine Nötigungsmittel angewendet werden müssen, um die sexuelle Handlung zu begehen.“ Solche Überraschungsangriffe, so die Erfahrung der Beratungsstellen und Rechtsanwältinnen, sind nicht durch den Straftatbestand der sexuellen Nötigung erfasst — und damit straffrei. Das ist nur eine von mehreren Lücken im aktuellen Sexualstrafrecht.

Der Fehler im System ist also nicht zu wenig Überwachung, sondern die Lücke im Gesetz. Um diese zu schließen, brauchen wir keine intelligenten Videoüberwachungssysteme, sondern eine intelligentere Politik. Vielleicht werden wir die nach Köln bekommen. 

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