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Digital ist besser / Johnny Haeusler wünscht sich, dass wir im Internet auch mal schweigen können

von Johnny Haeusler
Nach den Attentaten in Frankreich erreichte die Postingfrequenz in den sozialen Medien völlig neue Höhen. Kein Wunder, schließlich erzeugt jedes Ereignis, das über begrenztes mikrolokales Interesse hinausgeht, eine riesige Fülle von Meinungen und Kommentaren bei Twitter, Facebook und Co. Das gilt für Kultur- und Sportevents (die neue Tatort-Folge, die Fuball-WM) genauso wie für schockierende Nachrichten über Tod und Verbrechen.

Die Aufregung ist nur allzu menschlich. Der Austausch mit Anderen hilft schließlich dabei, tragische und beängstigende Ereignisse zu verarbeiten. Das gleiche gilt für die umwerfend hohe Zahl an Solidaritätsbekundungen. „Je suis Charlie“ war natürlich niemals wörtlich gemeint, „Je suis Charlie“ war eine digitale Menschenkette, ein Sich-an-den-Händen-halten im Internet, ein gemeinschaftlicher, virtueller Trauerflor. Geichermaßen verständlich wie nötig und bewegend.

Die dem Medium innewohnende Notwendigkeit von Lautstärke ist eines seiner größten Mankos.

Vieles, was wir in solchen Ausnahmesituationen an Verhalten in der Zellstoffwelt an den Tag legen, findet ein Equivalent im Digitalen. Nur eines nicht: das Schweigen. Während es in Frankreich und an anderen Orten der Welt zumindest gelungen ist, sich auf eine kollektive Schweigeminute in Gedenken an die Opfer der Anschläge zu einigen, strömten die Bemerkungen im Netz unaufhörlich und lauthals weiter. Denn wer im Internet schweigt, ist nicht vorhanden.

Geradezu paralysiert von den Ereignissen in Paris folgte ich tagelang meiner eigenen Filterblase im Netz, ohne mich groß einzumischen. Ich las von Trauer, Wut und Angst. Ich las Erklärungsversuche, Rechercheergebnisse, Verlinkungen auf aktuelle Nachrichtenmeldungen ebenso wie zynische Bemerkungen und Verschwörungstheorien. Ich klickte auf Links, sah mir Videos an, las unzählige Artikel zum Thema. Und begann nach dieser erschöpfenden Tätigkeit, mein Augenmerk auf das zu lenken, was ich nicht sehen, hören oder lesen konnte. Ich versuchte, auf diejenigen in meiner Timeline zu achten, die entgegen ihres sonstigen Online-Verhaltens plötzlich fehlten. Die still waren. Die — vielleicht aus Trauer, vielleicht auch aus Überforderung — schwiegen. Was nicht gerade einfach war. 

Die dem Medium innewohnende Notwendigkeit von Lautstärke empfinde ich mittlerweile als eines seiner größten Mankos, nicht nur wegen der Ereignisse der vergangenen Tage. 

Ein Cartoon des Zeichners Peter Steiner, der bereits 1993 im Magazin The New Yorker veröffentlicht wurde, zeigt einen am Computer sitzenden Hund, der einem neben ihm sitzenden zweiten Artgenossen berichtet: „On the internet, nobody knows you’re a dog.“ Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist. Und genauso wenig bemerken wir es im Internet, wenn Menschen still sind. Achtet mal drauf. 

In der letzten Woche glaubte Johnny, die Zukunft sei retro. Davor fasste er digitale Vorsätze für 2015.

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