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Es gibt gefährlichere Sprache im Internet als nur Hassrede

von Chris Köver
Kakerlaken, Viren, Ungeziefer: Schon bevor es zu physischer Gewalt gegen eine Minderheit kommt, äußert sich Hass durch Worte in Unterhaltungen, Posts und Interviews. Genau das beobachtet die Anwältin und Professorin Susan Benesch. Sie will wissen: Unter welchen Bedingungen folgen gefährlichen Worten noch gefährlichere Taten? Ein Interview.

Auf die Worte hinter der Gewalt stieß Susan Benesch zum ersten Mal in den 90igern. Sie arbeitete als junge Anwältin in Ex-Jugoslawien und Ruanda und dachte sich: Niemand wacht doch morgens mit der Idee auf, jetzt mal seinen Nachbarn zu ermorden. Es muss da etwas passieren, so erkannte Benesch, bevor es zur Bereitschaft zum Töten kommt. Aus dem Gedanken enstand eine Forschungsidee: Wäre es möglich, Muster von Sprache zu erkennen, die einem Genozid, einer ethnischen Säuberung oder einem Lynchmob vorausgehen? Wichtiger noch: Wäre es mit rechtzeitigen Interventionen möglich, solche Gewalt zu verhindern?

Seit sechs Jahren beschäftigt sich Benesch, ehemals Reporterin für den Miami Herald, hauptberuflich mit dieser Frage. Als außerordentliche Professorin am Berkman Klein Center in Harvard leitet sie das Dangerous Speech Project. Ihr Team untersucht auf der ganzen Welt, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Aussagen zu Massengewalt führen. In Kenia etwa beobachtete sie 2013 monatelang den Präsidentschaftswahlkampf, der in der Vergangenheit immer wieder in heftiger Gewalt mündete. Aber auch in ihrem Heimatland, den USA, findet Benesch zunehmend solche Muster gefährlicher Sprache. Etwa als Donald Trump indirekt zu Gewalt gegen Hillary Clinton aufrief oder den scheidenden Präsidenten Barack Obama als Verräter bezeichnete. Solche Verrohung der Sprache, so ist Benesch überzeugt, könne auch in den Vereinigten Staaten irgendwann in Gewalt umschlagen.

In Deutschland nutzen Populisten ebenso gerne das gesprochene Wort, um die öffentliche Diskussion zu radikalisieren. Die Lutz Bachmanns, Björn Höckes und Frauke Petrys hierzulande bedienen nur zu gerne die Unzufriedenheiten und Ängste ihres Publikums mit einer bestimmten Sprache. Distributionskanäle, die für dieses Publikum zur einzigen oder primären Nachrichtenquelle aufsteigen – von Compact und RT Deutschland bis zur Jungen Freiheit – tun den Rest. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte.

Ein Bürgerkrieg droht deshalb in Deutschland sicher nicht, ebenso wenig in den USA. Im Interview mit WIRED erklärte Benesch aber, warum die „gefährliche Sprache“ der Populisten ihre Unterstützer nicht nur radikalisiere, sondern sie auch gewalttätiger gegenüber allen mache, die nicht zur eigenen Bezugsgruppe gehören.

WIRED: Ist gefährliche Sprache das gleiche wie Hassrede?
Susan Benesch: Nein. Es gibt eine Schnittmenge, aber viele gefährliche Aussagen fallen nicht in die Kategorie Hassrede – oft verfolgt ein Sprecher gar nicht die Absicht, Hass zu schüren.

WIRED: Sondern?
Susan Benesch: Nehmen wir an, ich erzähle ihnen folgendes: Eine Gruppe, mit der sie schon lange im Konflikt stehen, hortet Macheten. Das wäre doch für Sie schon Anlass genug, um Ihre eigene Bereitschaft zur Gewalt zu erhöhen. Immerhin würden Sie sich existentiell bedroht fühlen. Das ist dennoch keine Hassrede.

Sie reagieren aufgrund ihres intellektuellen und sozialen Kontextes  nicht neutral auf eine Information

Susan Benesch

WIRED: Nein, Sie würden eine Tatsache ausnutzen, um mich aufzuwiegeln.
Benesch: Genau das ist gefährliche Sprache. Sie muss allerdings nicht bewusst eingesetzt werden. Angenommen, ein Forscher findet belastbare Hinweise dafür, dass schwarze Menschen zu einem bestimmten Verhalten neigen, das Sie negativ finden. Er veröffentlicht das, hält es als Wissenschaftler für eine objektive Darstellung seiner Forschung. Aber Sie reagieren aufgrund ihres intellektuellen und sozialen Kontextes darauf nicht neutral, sondern mit wachsendem Hass auf diese Gruppe – und einer höheren Bereitschaft zur Gewalt.

WIRED: In Deutschland wird gerade diskutiert, ob Hassrede gegen Geflüchtete, Migranten und jüdische Menschen auf Social Media zu solch einem Anstieg der Gewalt gegen diese Gruppen führt.
Benesch: Diese Debatte hat ein Problem. Hassrede ist eine riesige Kategorie und sie ist nicht klar definiert. Zwei Menschen können ganz unterschiedlicher Auffassungen darüber sein, ob eine Aussage Hassrede ist oder nicht.

WIRED: Also brauchen wir eine klarere Definition?
Benesch: Die gibt es gar nicht. Erstens: Was ist überhaupt Hass? Das ist überraschend schwer zu sagen. Wie stark muss das Gefühl von Hass sein, damit es Hassrede ist? Muss es ein anhaltendes Gefühl sein oder reicht ein kurzer Moment des Hasses? Wenn ein Teenager zu seiner Mutter sagt: Ich hasse dich, stimmt das womöglich in dem Moment, aber wahrscheinlich nicht mehr eine Stunde oder einen Tag darauf. Das zweite Problem: Wessen Hass ist gemeint? Der Hass im Kopf des Sprechers? So wird der Begriff meist verwendet.

WIRED: Das ist doch eine recht klare Definition.
Benesch: Sie greift aber zu kurz. Ebenso gut könnte man mit Hassrede die Absicht bezeichnen, bei einem anderen Menschen Hass zu schüren oder bei jemandem das Gefühl hervorzurufen, gehasst zu werden. Umgekehrt ist nicht jede Äußerungen von Hass gleich Hassrede. Zu sagen: Ich hasse dich, ist noch keine Hassrede. Das wird es erst, wenn ich sage: Ich hasse dich und all euch Deutschen. Der Hass muss sich auf eine Gruppe beziehen, zu der Sie gehören.

WIRED: Diese Gruppen lassen sich bestimmt ebenso schwierig zusammenfassen.
Benesch: Schon welche Gruppen überhaupt gemeint sind, variiert, zumindest juristisch gesehen. Im kenianischen Gesetz kann Ethnizität die Grundlage von Hassrede sein, nicht aber sexuelle Orientierung, Geschlecht oder Behinderung. In anderen Nationen stehen auf dieser Liste auch Religion, Nationalität, Geschlecht, Behinderung, sexuelle Orientierung und viele weitere Kategorien.

WIRED: Warum variiert das so stark?
Benesch: In der Praxis beruht die Definition von Hassrede immer auf den Normen einer Gesellschaft und auf dem Kontext. Ist es Hassrede, den Propheten zu zeichnen? Ist es Hassrede, Christiane Taubira, die ehemalige französische Justizministerin, die schwarz ist, als Affen zu zeichnen? Das Satire-Magazin Charlie Hebdo hat genau das getan – allerdings um damit den Rassismus der Front National zu kritisieren, deren Politiker gegen Taubira hetzten. Das ist das vielleicht größte Problem im Zusammenhang mit Hassrede: Kontext ist der wichtigste Faktor. Wichtig ist meiner Meinung nach auch zu betonen: Ein Großteil von Hassrede ist überhaupt nicht gefährlich.

Hochgradig hasserfüllte Sprache kann also im richtigen Kontext völlig ungefährlich sein

Susan Benesch

WIRED: Wie das?
Benesch: Ich könnte Ihnen jetzt sofort eine ganze Reihe von bösartigen Dingen sagen, die darauf abzielen, ihren Hass gegen eine Gruppe zu schüren. Das würde bei Ihrer politischen Gesinnung, wie ich sie einschätze, nicht die Bereitschaft zur Gewalt gegen diese Gruppe erhöhen. Es würde auch nicht dazu führen, dass sie solche Gewalt gutheißen. Sie sind als Pubklikum sozusagen gegen meine Hetze geimpft. Hochgradig hasserfüllte Sprache kann also im richtigen Kontext völlig ungefährlich sein.

WIRED: Vielleicht gibt es empfänglichere Publika als mich?
Benesch: Dann kann immer noch der Redner der Falsche sein. Ich selbst zum Beispiel habe gar nicht genug Einfluss, um irgendjemanden aufzuhetzen. Ich bin keine besonders bekannte Professorin, bin nicht sonderlich charismatisch, ich habe wenig Mittel, zur Gewalt aufzuwiegeln.

WIRED: Milo Yiannopoulos, der ehemalige Breitbart-Redakteur, kann dagegen allein mit seinen Tweets und Artikeln im Netz Menschen sehr erfolgreich gegen andere aufhetzen, wie er in der Vergangenheit bewiesen hat.
Benesch: Milo Yiannopoulos hat wesentlich mehr Einfluss als ich – allein was seine Reichweite auf Social Media angeht. Außerdem hat er Charisma und in der Folge ein großes Publikum.

WIRED: In Deutschland hat die Regierung gerade ein Gesetz beschlossen, um auf diese Weise die sich ausbreitende Hassrede im Netz zu bekämpfen. Bringen solche juristischen Verbote ihrer Meinung nach etwas?
Benesch: Ich bin eine Vertreterin der Meinungsfreiheit und halte nichts davon, Hassrede zu verbieten, um sie zu unterbinden. Ich glaube auch nicht, dass das funktioniert.

WIRED: Was funktioniert denn?
Benesch: Es gibt viel effektivere Strategien, etwa die Autorität eines Sprechers zu untergraben – zum Beispiel mit Humor. Meine größte Sorge im Zusammenhang mit Hassrede-Gesetzen ist allerdings eine andere: Die Regeln selbst werden als politischen Waffe eingesetzt. Ungarn etwa hat ein Hassrede-Gesetz. Die Behörden nutzen es aber ausschließlich, um Roma für anti-ungarische Hassrede anzuklagen. Das klingt wie ein Witz, aber es ist wahr. Das Gesetz wird genau gegen die Minderheiten gekehrt, die es schützen soll. Und gleichzeitig sehen wir Videos ungarischer Skinheads, die ihre Gefolgschaft dazu aufrufen, Molotowcocktails in die Fenster von Roma zu werfen.

Wir beobachteten Fälle in Indien oder Myanmar, wo sich ein gefährliches Gerücht erst viral ausbreitete und es dann plötzlich zu Ausschreitungen kam.

Susan Benesch

WIRED: In Ungarn ist der Hass auf Roma und Juden über Jahrhunderte angewachsen. Lässt sich da so einfach sagen: Sprache ist die Ursache der Gewalt?
Benesch: Gefährliche Sprache ist in jedem Fall eine Vorstufe von Gewalt. Ob es auch die Ursache ist, können wir nicht belegen. Wir beobachteten aber Fälle in Indien oder Myanmar, wo sich ein gefährliches Gerücht erst viral ausbreitete und es dann plötzlich zu Ausschreitungen kam. Dort gab es genug Anlass zu glauben, dass das eine kausal mit dem anderen zusammenhängt. In anderen Fällen sehen wir eher eine langsame konstante Zunahme gefährlicher Sprache in der Öffentlichkeit, bevor es zu Übergriffen kommt. Menschen werden dann zum Beispiel als Ungeziefer bezeichnet oder auf andere Weise entmenschlicht.

WIRED: In Deutschland hat diese Rhetorik seit dem Herbst 2015 stark zugenommen. Geflüchtete Menschen werden zum „Flüchtlingsstrom“ oder zur „Flut“. So eine Sprache war auf einmal auch für gemäßigte Politiker oder Medien akzeptabel.
Benesch: Diese Verschiebung im Diskurs sehen wir in vielen Fällen: Eine relevant große Menge von Menschen ändert ihr Empfinden dafür, was ausgesprochen werden darf. Das wiederum führt dazu, dass die Hemmschwelle für bestimmte Aussagen sinkt. Die Folge: Die Spanne dessen, was wie gesagt werden kann, verschiebt sich. Die, die vorher schon scharf gesprochen haben, werden jetzt noch schärfere Aussagen treffen. Die vormals höflichen Omas sagen Dinge, die sie bis dahin nicht gesagt hätten. Entscheidend sind nicht so sehr die Ränder, sondern die sogenannte formbare Mitte. Die verändert ihren Ton.

WIRED: Spielt Bildung denn keine Rolle dabei, wie beeinflussbar ein solches Mitte-Publikum ist?
Benesch: Das wollen viele gerne glauben, dass Bildung schützen kann. Leider ist es nicht wahr, das hat uns etwa Deutschland im Laufe der Geschichte gezeigt. Viele Nazis waren hochgebildet.

WIRED: Sie verwendeten bereits Begriffe wie Redner, Publikum und Kontext. Welche weiteren Faktoren spielen eine Rolle in ihrer Analyse dessen, wie gefährlich eine Aussage ist?
Benesch: Vertrauen ist sehr wichtig. Dabei spielt der Sprecher eine Rolle, aber vor allem der Kanal, über den eine Botschaft verbreitet wird. Wenn ich zum Beispiel häufig Fox News schaue, werde ich empfänglicher für die Nachrichten auf Fox News. Auch die Sprache ist entscheidend. In Kenia haben mir viele gesagt: Wenn ich eine Nachricht auf English oder Kisuaheli höre, höre ich sie mit dem Kopf. Wenn ich sie in meinem Dialekt höre, höre ich sie mit dem Herzen. Aussagen im eigenen Dialekt oder auch nur in einem vertrauten Slang zu hören, macht sie für uns glaubwürdiger – und uns damit empfänglicher für ihre Botschaft. Denn Sprache steht für eine soziale Gruppe und ich bin eher bemüht, das zu tun, was meine Identität als Teil dieser Gruppe zementiert.

WIRED: Jemanden sprachlich aus dieser Gruppe auszuschließen, ist deshalb eine der effektivsten Strategien, um Hass zu schüren?
Benesch: Ja, einige Fälle von gefährlicher Sprache erwähnen die andere Gruppe gar nicht. Stattdessen beschreiben sie Mitglieder der eigenen Gruppe als Verräter. Simon Bikindi war vor dem Genozid einer der bekanntesten Popstars in Ruanda. Der Refrain eines seiner Lieder lautete: „Ich hasse Hutu, diese enthutuisierten Hutu.“ Er ist selbst Hutu und hetzte damit keineswegs gegen seine eigene Gruppe. Er wollte jene Hutu, die Tutsi nicht genug hassten, als Verräter darstellen. Auch Trump bedient sich dieser Strategie, wenn er davon spricht, Amerika für die Amerikaner wieder großartig zu machen. Oder Barack Obama und Hillary Clinton im Wahlkampf zu Verrätern der amerikanischen Interessen erklärt.

WIRED: Sie sagen, keine Nation, Kultur oder Religion habe ein Monopol auf gefährliche Sprache. Sie könne überall und zu jeder Zeit auftreten. Woran liegt das?
Benesch: Sie ist nicht fest in uns verdrahtet. Wenn sie überall auftauchen kann, dann weil sie praktisch ist. Sie fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Loyalität der eigenen Unterstützer. Das ist ein viel einfacherer Weg, um Macht zu sichern, als tatsächlich etwas für seine Unterstützer zu tun.

WIRED: Reden statt Handeln?
Benesch: Wenn dein Volk keine Elektrizität, keine Schulen und Arbeit hat, kannst du dafür sorgen, dass sich das ändert. Oder du sagt: Andere sind schuld an unserer Misere! Was meiner Meinung nach fest verdrahtet ist: Wir sind als Menschen eusoziale Wesen, das heißt, wir identifizieren uns sehr stark über eine Gruppe. Wir sind loyal und verhalten uns altruistisch gegenüber den Mitgliedern unserer Gruppe. Diese Zugehörigkeit ist ungeheuer wichtig für unsere Identität. Allerdings muss diese Identifikation nicht über Hass auf andere hergestellt werden. Es ist nur der einfachste Weg.

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