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Zwei Hunde kämpfen und ein Handy wird zur Waffe

von Johnny Haeusler
Es beginnt mit zwei knurrenden Hunden und endet in einem bizarren Bedrohungs-Szenario. Unser Kolumnist Johnny Haeusler hat zum ersten Mal miterlebt, wie ein Smartphone als Waffe gegen ihn zum Einsatz kam.

Ein früher Sommerabend ohne Regen, meine Frau Tanja und ich sind mit unserem kleinen Hund im Kiez unterwegs. Er läuft seit ein paar Minuten an der Leine, als uns eine junge Frau entgegenkommt. Ihr Blick klebt auf dem Smartphone in ihren Händen. Auch sie hat einen Hund dabei, auch er ist klein, noch trotten beide ruhig auf uns zu.

Als die Frau den anderen Hund bemerkt, ist es zu spät. Sie versucht noch, das Halsband ihres Tiers zu fassen zu bekommen. Sie kennt Situationen wie diese offenbar. Trotzdem kommt sie zu spät, ihr Hund stürzt sich knurrend und zähnefletschend auf unseren, beginnt ihn zu beißen.

Tanja versucht, die Tiere mit dem Fuß zu trennen, auch die Frau zieht ihres schließlich am Halsband zurück. Ein kurzer Schreck, aber alles geht gut. „Sie brauchen eine Leine“, sagt Tanja zu der Hundehalterin. Ich erwarte einen kurzen Satz der Entschuldigung und will schon weitergehen, stattdessen wird die Frau laut. Sie könne uns anzeigen, weil Tanja ihren Hund getreten habe. Sowas nenne man Tierquälerei. Ich bin sauer und sage: „Ok, lassen Sie uns sofort die Polizei rufen.“ Sie beginnt daraufhin hektisch auf ihrem Smartphone zu tippen. Doch sie ruft nicht die Polizei. Wir brauchen viel zu viele Sekunden um zu merken: Die Frau macht Fotos von Tanja.

„Was soll das? Hören Sie sofort auf damit!“, sagt meine Frau noch, doch die Hundebesitzerin hastet davon. Ich bin ziemlich perplex, Tanja beginnt, der Frau zu folgen, ich hinterher, Tanja versucht, mit der Frau zu reden und fordert sie auf, die Fotos zu löschen. Doch die Frau spricht nicht mehr mit ihr, stattdessen verbirgt sie ihr Gesicht hinter ihrer Hand und tut so, als würde sie telefonieren. Sie vermeidet es, Tanja ins Gesicht zu schauen.

Ich spüre: Ich will ‘zurückschießen‘

Ich bin verdattert und etwas hilflos, will verhindern, dass das Ganze eskaliert und rufe den Namen meiner Frau, um sie zu stoppen. Gleichzeitig verstehe ich ihren Wunsch, die Frau aufzuhalten, mit ihr zu reden und sie dazu zu bringen, die Fotos zu löschen. Wir halten fest: Die Hundehalterin hat inzwischen Fotos und den Vornamen meiner Frau.

Aber das Schlimmste ist: Sowohl Tanja als auch ich zücken nun beim Laufen unsere eigenen Smartphones, um ebenfalls ein Foto von der Frau zu machen. Ich spüre: Ich will „zurückschießen“, will irgendetwas gegen diese Frau in der Hand haben. Und komme mir dabei so albern wie schlecht vor, doch mir fällt keine andere Möglichkeit ein, mich gegen diese Übergriffigkeit zu wehren.

Die Frau scheint die Situation jedoch nicht zum ersten Mal zu erleben, wendet ihr Gesicht weiter ab und beschleunigt ihren Schritt. Die Situation ist absurd, aber wir können die Sache nicht so einfach sein lassen. Aufhalten können wir die Frau nicht, dazu müssten wir sie festhalten, keine wirkliche Deeskalation. Doch auch auf unsere Angebote, in Ruhe zu reden, reagiert die junge Dame mit lautstarken Rufen: Wir sollen sie in Ruhe lassen, wir würden sie belästigen. Wir geben verdattert auf, die Sache ist aussichtslos. Aber was ist da eigentlich gerade passiert?

Beim Beruhigungsbier danach sind wir aufgewühlt und verzweifelt. Keiner von uns beiden wäre jemals auf die Idee gekommen, sein Handy in solch einer Situation zu zücken, es in gewisser Hinsicht als „Waffe“ zu benutzen. Für die Frau schien es dagegen keine erstmalige Situation gewesen zu sein, der plötzliche Abbruch des Gesprächs und die „Flucht“, nachdem sie Fotos gemacht hatte, das ständige Verbergen des eigenen Gesichts – das alles hatte eine gewisse Routine, die uns wirklich verdutzt zurückgelassen hat.

Und dann dieses eklige Gefühl, plötzlich einer unkontrollierbaren Selbstjustiz ausgeliefert zu sein. Wir beruhigen uns gegenseitig, die Frau war einfach aufgebracht und hat sich bestimmt wieder beruhigt, vielleicht sind die Fotos verwackelt oder sie hat sie schon längst wieder gelöscht.

Und wenn nicht? Jemand macht ein Foto vom Gesicht einer Person und veröffentlicht es mit den Worten „Diese Frau hat meinen Hund gequält“ – würde es jemanden wundern, wenn dieser Facebook-Eintrag tausendfach geteilt werden würde? Angenommen, es gäbe dazu noch ein verschwommenes Foto von Tanjas Fuß und dem Hund der Frau – wie schnell wäre das wohl ein eindeutiger Beweis?

Die Google-Fotosuche findet derzeit noch keine Personen beim Hochladen eines Fotos, sondern nur visuell ähnliche Bilder. Dass eine zielgerichtete Personen-Suche aber technisch längst möglich ist, wissen wir alle. Und wenn der heimliche Schnappschuss erstmal genügt, um Namen und mehr über eine fremde Person herauszufinden, dann muten aktuelle Diskussionen um Privatsphäre lächerlich an.

Wenn unsere Smartphones als Waffen fungieren und sowohl Kommunikation als auch Lösungen in Situationen wie der beschriebenen nicht mehr gesucht werden, dann steuern wir auf eine selbstrichtende Gesellschaft zu, die eine Episode aus Black Mirror sein könnte.

Für uns war dieses Erlebnis ein völliges Novum, wir gehören zu einer Generation, in der man Probleme oder Streitigkeiten entweder im Gespräch selbst löst oder – wenn es gar nicht anders geht – indem man die Polizei zu Rate ruft. Wir fragen uns aber, ob es nicht längst eine jüngere Generation gibt, für die der Einsatz von Smartphone-Kameras als „Beweis-“ oder Druckmittel längst Alltag ist.

Und wir fragen uns auch, wohin das führen wird. Während Smartphone-Kameras einerseits und zweifelsohne wichtige Beweisbilder bei Verbrechen oder Übergriffen liefern können, benötigen sie immer den Kontext der Entstehung  und eine möglichst unabhängige Bewertung. Die alleinige Aussage einzelner Personen kann nicht genügen, zumal die Glaubwürdigkeit von stillen oder bewegten Bildern mit dem Voranschreiten der Technik auch nicht größer wird.

Doch ein Blick in einschlägige Facebook-Debatten um wirkliche oder behauptete Vergehen genügt, um zu erkennen, dass manchen Menschen all diese Umstände egal sein könnten. Und wenn nicht mehr ein Gericht, sondern Facebook zum Ort der einseitigen Verhandlung von Streitfällen wird, dann möchte man lieber nicht auf der Anklagebank sitzen.

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