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„Fallout 4“ ist Freiheit als Videospiel

von Oliver Klatt
Es gibt Videospiele. Und es gibt Videospiel-Welten. Erstere schicken einen auf vorgegebenen Pfaden durchs Abenteuer. Und letztere eröffnen dem Spieler einen schier endlos erscheinenden Handlungsspielraum. Die Entwickler der Bethesda Game Studios sind Meister solcher ausufernden Welten: mit Titeln wie „Morrowind“ und „Skyrim“ haben sie Maßstäbe in Sachen Größe und Spielerfreiheit gesetzt. „Fallout 4“ übertrifft sie alle.

Wie in den bisherigen Teilen der Rollenspielreihe kämpft man auch in „Fallout 4“ in einem postnuklearen Amerika ums nackte Überleben. Ein Atomkrieg hat die Menschheit im Jahr 2077 in die Barbarei zurückgebombt. Städte sind zu Zivilisationsruinen zerbröckelt, Plünderer und verstrahlte Mutanten treiben darin ihr Unwesen.

Und auch „Fallout 4“ zeigt diesen selbstverschuldeten Albtraum wieder aus Sicht des Retro-Futurismus — einer parallelen Geschichtsschreibung, in der die Science-Fiction der 50er Jahre Wirklichkeit geworden ist. In der Mode dominieren abgewetzte Anzüge und Fedoras. Autos, Roboter und Gebrauchsgegenstände zeigen jenen Schwung und jene Verspieltheit, die zeitgenössisches Produktdesign vermissen lässt. Das bedeutet: Ständig hat man beim Spielen Zukunft und Vergangenheit gleichzeitig vor Augen — ein stilistischer Kniff, der seit jeher den Charme der Serie ausmacht.

Diesmal muss das Boston des Jahres 2287 als Schauplatz einer gescheiterten Utopie herhalten. 210 Jahre hat die Hauptfigur von „Fallout 4“, deren Geschlecht und Aussehen man zu Beginn selbst bestimmen kann, tiefgefroren in einem Atombunker verbracht. Der eigene Sohn, den man damals ebenfalls vor dem Strahlentod retten konnte, ist jedoch spurlos verschwunden. Eine Suche beginnt, die den Spieler quer durch das Boston Commonwealth führt und ihn Bekanntschaft mit freundlichen Maschinenmenschen und finsteren Ungeheuern machen lässt — ihn von einer lebensbedrohlichen Situation in die nächste schubst.

Immer wieder nimmt die Geschichte dabei unvorhersehbare Wendungen. Und immer wieder bestimmen die eigenen Entscheidungen den Fortgang des Abenteuers und hinterlassen Spuren in der Spielwelt. Denn „Fallout 4“ ist keine lineare Erzählung, sondern ein System aus Beziehungen, das sich in Abhängigkeit vom Spielerverhalten verändert. Allianzen wollen geschmiedet, Feindschaften gepflegt werden. Ständig gilt es abzuwägen, ob man auf sein Gewissen oder doch lieber auf den Überlebensinstinkt hören sollte.

Jeder Klumpen Altmetall erhöht die Chance, einen Tag länger zu überleben.

Man kann sich militanten Gruppierungen wie der Brotherhood of Steel oder den Minutemen anschließen, die mit Waffengewalt für Ordnung im radioaktiv verseuchten Ödland sorgen wollen. Man kann sich aber auch mit Drogen vollpumpen und als skrupelloser Einzelkämpfer durchschlagen. Man kann den eigenen Charme spielen lassen und herumreisende Händler davon überzeugen, einem den verstrahlten Schrott abzukaufen, für den man im halb verschütteten U-Bahn-System von Boston sein Leben riskiert hat. Oder sich in vorzeitliche Computersysteme mit DOS-Oberfläche hacken, Schlösser knacken und einer Reporterin bei der Wahrheitsfindung behilflich sein. Sowie mit Dieben und Mördern gemeinsame Sache machen oder zum Retter des Commonwealth aufsteigen. Man kann der Haupthandlung des Spiels folgen oder sich in unzähligen Nebenmissionen verlieren, die schon nach wenigen Stunden die Quest-Liste überquellen lassen.

Im Kern geht es jedoch wie in den meisten Rollenspielen auch in „Fallout 4“ vor allem ums Jagen und Sammeln. Im Kampf hat man die Wahl zwischen klassischer Shooter-Mechanik in First- oder Third-Person-Perspektive sowie dem eher taktisch ausgelegten V.A.T.S.-Modus, der die Zeit verlangsamt und es einem erlaubt, einzelne Körperteile von heranhastenden Angreifern ins Visier zu nehmen. Hat man eine solche Konfrontation wieder einmal haarscharf überstanden und die letzte Kugel im Hirn eines Supermutanten platziert, ist der Stress jedoch noch längst nicht vorbei. Denn dann wird jeder leblose Körper und jede zerbeulte Blechkiste nach brauchbaren Materialien und Munition durchsucht.

Ressourcen sind kostbar in einer Welt ohne Industrie und Infrastruktur. Jede gefundene Waffe, jedes Kleidungsstück, jeder Klumpen Altmetall erhöht die Chance, einen Tag länger am Leben zu bleiben. Andererseits kann man aber nur ein begrenztes Gewicht an Fundstücken mit sich schleppen. Postnuclear Problems.

Es ist erstaunlich befriedigend, Arbeit in ein Stück Ödnis zu investieren.

Zum Glück gibt es eine Strategie-Komponente in „Fallout 4“ — die wichtigste Neuerung gegenüber früheren Teilen der Serie. Erstmals ist es nun möglich, Siedlungen zu errichten, zu managen und zu verteidigen. In der Nähe herumliegender Unrat und unterwegs eingesammelter Ballast können in Behausungen, Mobiliar und Elektrotechnik umgeformt werden. Per Knopfdruck verwandelt sich „Fallout 4“ dann in einen Level-Editor, mit dem man sich ein kleines Stück der „Fallout“-Welt so macht, wie es einem gefällt.

Desto ertragreicher und sicherer eine Siedlung, desto glücklicher sind ihre Bewohner und desto mehr verirrte Wastelander finden ihren Weg in den Schoß der Gemeinde. Es ist erstaunlich befriedigend, Zeit und Arbeit in ein Stück Ödnis zu investieren und es bis zur Wohnlichkeit hochzupäppeln. Was auf den ersten Blick etwas unübersichtlich daherkommt, entpuppt sich schnell als süchtig machende Gameplay-Ergänzung irgendwo zwischen dem Heimeligkeitsfaktor von „Harvest Moon“ und der Baukastenfreiheit von „Minecraft“.

Aber so willkommen dieser konstruktive Aspekt von „Fallout 4“ auch ist: Er macht es einem nicht gerade leichter, sich zwischen all den Gameplay- und Story-Optionen zu entscheiden, die das Spiel einem anbietet. Die enorme Vielzahl an Möglichkeiten kann einen schlichtweg überfordern. Auch die unnötig komplexe Menüstruktur trägt bisweilen zur Desorientierung bei. Hinzu kommen Grafik- und Dialog-Glitches, die das Spiel zwar nie unspielbar machen, aber einen dennoch für Momente aus dem Spielfluss reißen. „Fallout 4“ — genau wie die Zukunft, die es zeigt — hat einen ausgesprochenen Hang zum Chaos.

Eine Einladung an den Spieler, dieser Welt seine eigene Geschichte zu geben.

Um das Spiel atmen zu lassen und ein Gespür für dessen Weite und Schönheit zu finden, empfiehlt es sich daher, die Hauptmission auch mal links liegen zu lassen und das ständige Betteln von Auftraggebern und Hilfsbedürftigen zu ignorieren. Mehr als alles andere ist „Fallout 4“ nämlich die Einladung an den Spieler, dieser Welt seine eigene Geschichte zu geben. Freiheit bedeutet in Bethesda-Games immer auch, sein eigenes Tempo und seinen eigenen Spielstil zu finden. Wenn man sich wieder einmal nur mit dem Nötigsten ausgestattet auf eigene Faust in die leidgeprüfte Landschaft in und um Boston aufmacht, ohne zu wissen, was einen erwartet, ist das spielgewordener Entdeckergeist. Es geht darum, Geheimnisse zu bergen und Augenblicke zu erleben, die einen in Staunen versetzen, hysterisch zum lachen bringen oder einen panisch das Weite suchen lassen.

Hat man etwa im Radio seines Pip-Boy — der klobigen „Fallout“-Version einer Smartwatch — den Sender für klassische Musik ausgewählt, kann es passieren, dass man „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss im Ohr hat, während man im malerischen Abendrot eine Horde Zombies zerplatzen lässt oder ein Versteck brutaler Wegelagerer in Schutt und Asche legt. Hochkultur trifft dann auf Trash-Horror, traditionelles Kunstverständnis auf die Lust am Kaputtmachen. Wem das zu anstrengend ist, der setzt sich einfach auf das Dach eines Wolkenkratzers und genießt die Aussicht. Oder verbringt zwei Stunden damit, auf dem monochromen Bildschirm des Pip-Boy das Text-Rollenspiel „Grognak and the Ruby Ruins“ zu spielen — eine von fünf Retro-Game-Hommagen, die man im Spielverlauf finden kann.

Hin und wieder können die ausladende Größe der Spielwelt und die ständigen Anfeindungen, die einem aus ihr entgegenschlagen, dazu führen, dass man sich einsam fühlt. Aber auch dieses altbekannte Problem von Open World Games haben die Macher von „Fallout 4“ endlich in den Griff bekommen: Von Beginn an ermutigt das Spiel einen dazu, sich in Begleitung auf den Weg zu machen. Ob mit dem treuen, stets enthusiastisch voranpreschenden Hund Dogmeat, einem stoischen Roboter oder einem Menschen: Zu zweit ist man stärker, traut sich mehr und fühlt sich weniger allein. Da stört es auch kaum, dass man hin und wieder auf die Gefährten warten muss, wenn sie wieder einmal an einer Wand oder einem Felsvorsprung hängen geblieben sind.

Zum ersten Mal weht so etwas wie Menschlichkeit durch ein Bethesda-Game.

Auch die Gesichtszüge und Animationen der Figuren — zwei der größten Schwachpunkte bisheriger Bethesda-Titel — sind diesmal überzeugend genug, um an ihnen Emotionen und Persönlichkeitsmerkmale ablesen zu können. Es ist offensichtlich, dass sich die Entwickler bei ihrer Ausgestaltung und den Gesprächen, die man mit ihnen führen kann, ein Beispiel an Titeln wie „Rage“ von Id Software und Segas „Binary Domain“ genommen haben. Zum ersten Mal weht so etwas wie Menschlichkeit durch ein Bethesda-Game. Und das nicht zuletzt dank einiger synthetischer Zeitgenossen, deren innere Zerrissenheit zwischen Selbstbewusstsein und Maschinenexistenz immer wichtiger wird, desto weiter man hinter die Kulissen der postnuklearen Zukunftsvision vordringt.

In einer realen, von Naturgesetzen und gesellschaftlicher Normen durchdeterminierten Welt schafft es ausgerechnet ein Computerprogramm wie „Fallout 4“, dass man sich für einige Stunden am Stück vollkommen frei fühlt und den Eindruck bekommt, machen zu können, was man will. Darin liegt der Reiz seines offenen, einladenden Game-Designs. Genau darum ist „Fallout 4“ mehr als ein Videospiel. Es ist eine Parallelwelt, in die man trotz all der Schrecken, die sie für einen bereithält, immer wieder gerne zurückkehrt.

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„Fallout 4“ ist für PC, Playstation 4 und Xbox One erhältlich. 

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