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Cyborg in der Sinnkrise : Der Arthouse-Anime „Ghost In The Shell“ macht auch nach 19 Jahren noch nachdenklich

von Oliver Klatt
Ein Frauenkörper stürzt sich vom Dach eines Wolkenkratzers. Fensterglas zersplittert, Schüsse fallen, der Kopf eines Diplomaten — halb Mensch, halb Maschine — zerplatzt. Polizisten, die den Mann gerade wegen Spionage festnehmen wollten, sehen entgeistert zu, wie die todbringende Frauengestalt wie in Zeitlupe weiter in die Tiefe sinkt. Ein mildes Lächeln hat sich auf ihr Gesicht gelegt. Dann wird sie eins mit dem Häusermeer.

So beginnt „Ghost In The Shell“, der Zeichentrickfilm nach dem gleichnamigen Manga von Masamune Shirow, der 1995 in den Kinos angelaufen ist und nun zum ersten mal auf Blu-ray herauskommt. Neben „Akira“ gilt die im Jahr 2029 angesiedelte Zukunftsvision von Regisseur Mamoru Oshii als das Filmkunstwerk, das dem Anime-Genre im Westen zum Durchbruch verhalf. In einem Japan, das aus zwei weiteren Weltkriegen als industrielle Supermacht hervorgegangen ist, erzählt „Ghost In The Shell“ die Geschichte des weiblichen Cyborgs Motoko Kusanagi. Zusammen mit ihren Kollegen von der Antiterroreinheit Sektion 9 macht sie Jagt auf den „Puppenspieler“ — einen Hacker, der sich Zugriff zu den elektronisch aufgerüsteten Gehirnen von Menschen verschafft und ihnen seinen Willen aufzwingt.

Auf den ersten Blick hat der Film alle klassischen Anime-Zutaten: Gewalt, Waffen-Fetisch, konfuse Handlung.

Oberflächlich betrachtet verfügt „Ghost In The Shell“ über alle Zutaten von Sci-Fi-Animes, die Fans zu „Otakus“ und kritische Zuschauer zu Kostverächtern werden lassen: genussvolle Gewaltdarstellung, die Fetischisierung futuristischer Waffen, ein gaffender Blick auf die weibliche Anatomie und eine etwas konfuse Handlung, die sich erst beim zweiten oder dritten Ansehen vollständig erschließt.

Doch dazwischen nimmt er sich immer wieder Zeit für ruhige, beinahe meditative Passagen .

Doch tatsächlich macht „Ghost In The Shell“ vieles anders. Action und Brutalität setzen zwar starke Akzente, doch dazwischen nimmt sich Regisseur Mamoru Oshii immer wieder Zeit für ruhige, beinahe meditative Passagen. Etwa dann, wenn Motoko mit ihrem Kollegen Batou nach Feierabend auf ihrem Boot ein paar Biere zischt und dabei das Dilemma des modernen, durchtechnologisierten Menschen auf den Punkt bringt: „Informationen und Netze, auf die mein Cyberbrain zugreift — das alles ist ein Teil von mir und macht mein Bewusstsein aus. Und gleichzeitig beschränkt es mich immerzu.“ Und das ist nicht der einzige philosophische Exkurs über das Verhältnis von Körper und Geist, Mensch und Maschine, den „Ghost In The Shell“ zu bieten hat.

Kein Wunder also, dass der Film viele Zuschauer zum Nachdenken gebracht hat. Allen voran die Wachowski-Geschwister, die für ihren Film „Matrix“ mehrere Momente aus dem Anime übernommen haben, wie man in einer direkten Gegenüberstellung gut erkennen kann. Aber auch „Ghost In The Shell“ selbst ist nicht gerade arm an Verweisen. Neben offensichtlichen Parallelen zu William Gibsons „Neuromancer“ und Ridley Scotts „Blade Runner“ hat man sich auch Anregungen in der Realität geholt. Um eine glaubhafte Metropole der Zukunft zu entwerfen, reisten die Zeichner nach Hongkong und ließen sich von der Architektur und den Lichtverhältnissen vor Ort inspirieren. Wie sehr die chinesische Freihandelszone und die Welt von „Ghost In The Shell“ sich ähneln, zeigen ein Fotovergleich von Randomwire und dieses Youtube-Video.

Die Blu-ray, die nun zum 25. Jubiläum der Manga-Vorlage erstmals in Deutschland erhältlich ist, bietet eine hervorragende Bild- und Tonqualität. Niemals zuvor sah „Ghost In The Shell“ so gut aus oder hörte sich besser an. Ansonsten hat die Version aber leider wenig Neues zu bieten. Ein bescheidenes Booklet und ein halbstündiges (durchaus informatives) Making-Of sind die einzigen Extras, die man dem Zeichentrickklassiker spendiert hat. Angesichts der kulturellen Bedeutung von „Ghost in the Shell“ wäre sicher mehr drin gewesen. Die beiden deutschen Synchronfassungen — eine alte und eine neu eingesprochene in besserer Audio-Qualität — erfüllen ihren Zweck. Doch auch wer des Japanischen nicht mächtig ist, sollte lieber den Originalton wählen. Denn von den drei enthaltenen Sprachversionen treffen die deutschen Untertitel den nachdenklichen, bisweilen sarkastischen Tonfall des Films am besten. 

Die Jubiläums-Edition von „Ghost In The Shell“ ist bei Nipponart erschienen. Im Januar und Februar 2015 werden dort auch die beiden Staffeln der Anime-Serie „Ghost In The Shell: Stand Alone Complex“ auf Blu-ray veröffentlicht. 

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