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Gesche Joost will, dass Politiker endlich das Netz verstehen lernen

von Chris Köver
Gesche Joost reicht es nicht, die deutsche Netzpolitik nur von außen zu kritisieren, die Design-Professorin will sie mitgestalten. Im WIRED-Interview plädiert sie für mehr Netzkompetenz in der Politik und erläutert ihre Visionen einer digitalen Gesellschaft.

Sechs Digitalexperten aus Deutschland, unter ihnen Gesche Joost, die Digitalbotschafterin der Bundesregierung, haben sich zusammengeschlossen, um den Calliope mini in die Grundschulen zu bringen: Seit 19. Dezember läuft das Crowdfunding für diese Coding-Board, das an Drittklässler gehen soll. Lehrerinnen und Lehrer dieser Altersstufe haben den Calliope mini mitentwickelt – auf Grundlage des britischen micro:bit, der 2016 an Siebtklässler in Großbritannien verteilt wurde. „Wir glauben, dass der mini für unsere Kinder, die Gründerinnen und Gründer von morgen, ein wichtiger Baustein für ihre digitale Zukunft ist“, heißt es in der Projektbeschreibung. „Nur wer weiß, was hinter den Apps und Gadgets der smarten Welt steckt, wird sich selbstverständlich und ohne Angst in ihr bewegen.“

Aus Anlass des Crowdfunding-Starts veröffentlichen wir online das Interview mit Gesche Joost aus dem gedruckten WIRED Magazin, Oktober 2016.Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Der zweite Stock eines sehr eckigen, sehr grauen Universitätsgebäudes im Berliner Westen. Am Ende eines Ganges gelangt man in einen Raum, der eher in ein schickes Startup passt als hierher: eine große, offene Küche, im Zentrum eine lange Holztafel, hohe Fenster.

Gesche Joost kommt ein paar Minuten zu früh. Sie trägt graue Jeans, Sneaker und Blazer, die blonden Haare sind nüchtern hinters Ohr gesteckt. Das Design Research Lab an der Universität der Künste ist so etwas wie ihr Arbeitszimmer: ein Ort, an dem die Design-Professorin mit ihren Studenten tragbare Sensoren entwickelt oder Technologien, die Alte, sozial Abgehängte oder Menschen mit Behinderung ins Netz holen sollen.

Doch Joosts Betätigungsfeld ist deutlich größer. 2013 war sie Beraterin fürs Digitale im Wahlkampfteam des SPD-Kandidaten Peer Steinbrück. Nach der Wahl galt sie als aussichtsreichste Kandidatin für ein neues Internetministerium – bis die Idee in den Koalitions­verhandlungen über Bord ging. Dafür ist sie heute Internetbotschaf­terin Deutschlands bei der EU.

Die 41-Jährige steckt zudem hinter der Code Week, bei der Kinder und Jugendliche eine Woche lang das Programmieren lernen, und sitzt in der Synode der Evangelischen Kirche und im Aufsichtsrat von SAP. Wie Joost das alles schafft, davon bekommt man einen Eindruck, sobald sie anfängt zu reden. In der folgen­den Dreiviertelstunde spricht sie in einem so atemberaubenden Tempo, dass man später meint, Stunden mit ihr verbracht zu haben.

WIRED: Frau Joost, wie würde das digitale Deutschland heute aussehen, wenn Sie vor drei Jahren Internetministerin geworden wären?
Gesche Joost: Ich würde das gar nicht so an meiner Person festmachen, sondern an dem Ministerium, von dem ich glaube, dass es einige Vorteile gehabt hätte. Im Moment sind viele Minis­terien formal für die Digitalisierung zuständig – Wirtschaft, Verkehr, Innenministerium, auch Bildung und Forschung –, aber jedes adressiert nur einen Teil davon. Ich sehe, dass viele Themen zwischen diese Teilbereiche fallen. Von einem Internetministerium hätte ich mir eine Digitale Agenda aus einem Guss erhofft, einen wirklich zukunftsorientierten Entwurf.

WIRED: Die Regierung hat sich immerhin eine Digitale Agenda verpasst.
Joost: Sie hat damit angefangen, aber das Resümee sieht eher mager aus. Mir fehlt zum Beispiel eine zusammenhängende Idee, wie eine Datenpolitik aussehen könnte. Was sind Konzepte für die Nutzung von Big Data und Open Data, die gleichzeitig die digitale Souveränität des Einzelnen ermöglichen? Überall entstehen Daten – im vernetzten Haus, durch Wearables an unserem Körper, im Verkehr. Wem gehören diese Daten? Welche Rahmenbedingungen gibt es für die Nutzung, und wie ermöglichen wir datengetriebene Innovation? Das ist eine Gestaltungsaufgabe. Momentan definieren internationale Konzerne diese Datenpolitik.

Bei den Vergleichen einiger Politiker stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ein Algorithmen-TÜV? Was soll das denn sein?

WIRED: Was fordern Sie?
Joost: Ich wünsche mir Politik als einen Akteur, der selbst eine zukunfts­orientierte Vision der digitalen Gesellschaft skizziert. Deutschland ist sehr gut im Maschinen- und Anlagenbau, wir haben etablierte Mittelständler, die Weltmarktführer sind. Aber Datenwirtschaft, also das, womit Facebook oder Google ihr Geld verdienen, folgt anderen Logiken, und viele haben das Ausmaß dieses neuen Wirtschaftszweigs noch nicht begriffen.

WIRED: Dass die Unternehmen den Takt vorgeben und die Politik nachzieht, ist ja nicht neu.
Joost: Ja, aber die Entwicklungen heute sind schneller. Ich glaube, dass von politischer und wirtschaftlicher Seite lange unterschätzt wurde, was da auf uns zukommt. Google macht eine Suchmaschine, Facebook macht ein Freundschaftsnetzwerk. Das klang ja erst mal harmlos. Man dachte, das sind ein paar Freaks mit T-Shirts und Turnschuhen, und hat sie belächelt.

WIRED: Die Politik versucht jetzt gegenzusteuern. Der deutsche Justizminister Heiko Maas will Facebook zu einem härteren Vorgehen gegen Hate Speech verpflichten. Die EU hat die Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet.
Joost: Diese Verordnung ist sehr wichtig, weil sie zumindest schon mal festlegt, dass sich Unternehmen beim Datenschutz an die Gesetze der Länder halten müssen, in denen sie aktiv sind. Endlich gibt es eine einheitliche Regelung innerhalb der EU statt Einzelregelungen für jedes Land. Google wird in die Mangel genommen, Facebook für das zu zögerliche Löschen von Hate Speech angegriffen. Man sieht schon: Die Politik nimmt Fahrt auf, gerade auf europäischer Ebene.

WIRED: Sie wirken dennoch unzufrieden.
Joost: Wir erleben gerade Machtspiele. Als der Piraten-Politiker Christopher Lauer auf Facebook bedroht wurde und Anzeige erstattete, hat Facebook die Politik regelrecht vorgeführt: Die Beamten des Landeskriminalamtes hätten die Anträge falsch ausgefüllt, deswegen konnte Facebook die entsprechenden IP-Adressen nicht herausgeben. Die Frage ist wie beim Armdrücken: Wer kann was durchsetzen? Das Horrorszenario ist, dass die Unternehmen irgendwann unangreifbar werden, weil sie sich ein eigenes Hoheitsgebiet geschaffen haben jenseits nationaler Gesetzgebungen.

WIRED: Auch digitale Bürgerrechte wie das Recht auf Vergessenwerden sind inzwischen auf EU-Ebene festgeschrieben. Aber wenn ich will, dass Google Bilder aus den Suchergebnissen löscht, muss ich hoffen, dass Google meinen Antrag annimmt. Warum darf darüber ein Privatunternehmen entscheiden und nicht der Staat?
Joost: Der Staat ist dafür da, Straftaten zu ahnden. Aber wenn der Staat auf Google- oder Facebook-Server zugreifen und dort Daten löschen könnte, würde das den Bogen überspannen und außerdem die Unternehmen aus der Verantwortung nehmen. Der Staat muss die Firmen anhalten, selbst zu löschen.

WIRED: Lassen sich digitale Bürgerrechte überhaupt auf EU-Ebene regeln, oder brauchen wir nicht eher ein Internetvölkerrecht?
Joost: Auf jeden Fall. Man müsste sich auf UN-Ebene einigen, was strafbar ist und was Bürgerrechte im Netz bedeuten. Das Problem ist: An wen wende ich mich, wenn meine Rechte im Netz beschnitten werden? Ist es die Polizei? Oder der Konzern, der die Bilder dann nicht löscht? Eine Ombudsperson auf UN-Ebene? Die Rechtsdurchsetzung fällt im Moment in den Zuständigkeitsbereich von Nationalstaaten. Bei uns ist das teilweise sogar je nach Bundesland unterschiedlich.

WIRED: Der Innenminister Thomas de Maiziére fordert bei seinem Besuch bei Facebook Ende August, dass soziale Netzwerke Hetze oder Aufrufe zu Gewalt bereits filtern sollten, bevor sie hochgeladen werden. Geht er damit zu weit?
Joost: Diese Uploadfilter sind ein schmaler Grat. Meinungsfreiheit ist ein sehr hohes Gut. Im Vorhinein kann da gar nichts gemacht werden. Erst wenn ein Tatbestand da ist, darf gelöscht werden. Dann allerdings sofort – und dafür muss man auch technologisch nachrüsten.

WIRED: Warum saßen Sie bei diesem Treffen nicht mit am Tisch?
Joost: Meine Rolle als Internetbotschafterin ist eine europäische. Meine Aufgabe ist es, die Digitale Agenda zwischen Brüssel und Berlin ab­zustimmen. Dass ich nicht dabei war, ist okay. Die Frage wäre eher: Müsste nicht der Internetminister oder die -ministerin dort sitzen? Und müsste man nicht in der Politik sehr viel mehr Leute mit dem entsprechenden Fachwissen haben? Bei den Vergleichen, die einige Politiker anführen, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Da wird zum Beispiel ein Algorithmen-TÜV gefordert. Was soll das denn sein?

WIRED: Warum fehlt diese Netzkompetenz in der Politik?
Joost: Leute wie meine Mitarbeiter hier am Design Research Lab haben keine Lust auf Politik, und das ist wirklich ein Problem. Die klügsten Köpfe sitzen in den zivilgesellschaft­lichen Organisationen: Initiativen wie Code Week, Betterplace, Open Knowledge Foundation. Die haben eine Meinung, treffen sich auf der re:publica und tauschen sich aus. Aber sie sind eben vollkommen unverbunden mit der Politik. Deswegen bin ich auch traurig über das Nirwana, in das sich die Piratenpartei gebombt hat.

WIRED: Werfen Sie es diesen re:publica-Besuchern vor, dass sie sich aus der Politik heraushalten?
Joost: Ja. Es reicht nicht, von außen zu kritisieren. Wir haben digital kompetente Leute, denen Parteipolitik völlig egal ist. Die würden nie in einen Ortsverein gehen. Sie organisieren sich situativ und temporär übers Netz. Man klinkt sich in Projekte ein, engagiert sich, setzt pragmatisch etwas um und geht dann vielleicht wieder raus. Das ist aber kein Parteiprogramm, dem man sich zugehörig fühlt – das sind Interessensverbände.

Es wird sich zeigen, ob dynamische Netzwerke das Zeug haben, das etablierte System zu unterwandern

WIRED: Oft wird das als „Clicktivism“ belächelt, der folgenlos bleibt.
Joost: Mir ist diese Art des Engagements sehr sympathisch. Ich finde es nicht unengagiert, sondern sehr effektiv: Man diskutiert nicht lang über ein Problem, man löst es gleich. Lebens­mittel werden verschwendet? Dann verabredet man sich halt zum Re­s­teaufkochen. Die Problematik, die ich eher sehe, ist, dass die repräsentative Demokratie auseinanderfallen könnte, wenn sich die junge Generation vom Parteiensystem abwendet. Die neuen Netzwerke sind sehr dynamisch. Sie entstehen, werden groß und verschwinden morgen vielleicht wieder. Kann man damit einen Staat machen?

WIRED: Und kann man?
Joost: Diese Frage ist bisher unentschieden. Klar gibt es Beharrungskräfte, unsere Gesellschaft organisiert sich in vielen Bereichen immer noch traditionell. Aber ich glaube nicht, dass die neuen Netzwerke nur eine kleine Elite betreffen. Politik ist hier­archisch strukturiert, vom Ortsverein bis zur Parteispitze, auch die Kirche funktioniert so. Die dynamischen Netzwerke scheinen sich parallel zu den Hierarchien zu entwickeln. Es wird sich zeigen, ob sie das Zeug haben, das etablierte System zu unterwandern.

WIRED: Die wesentlichen Entscheidungen über uns werden aber immer noch an der Spitze der traditionellen Strukturen getroffen.
Joost: Im Moment schon, aber die Macht der dezentralen Netzwerke ist nicht zu unterschätzen. Denken wir an den Arabischen Frühling oder, als Negativbeispiel, an Radikalisierung über das Netz. Die großen Parteien müssen um ihre Macht fürchten. Die Frage ist nur, ob so eine Netzwerkgesellschaft als Ersatz funktioniert. Und wir sehen darin auch ungute Dynamiken: Hate Speech, Ausschluss. Es ist nicht so, als würde sich hier nur eine bessere Welt Bahn brechen. Ich frage mich, ob eine Synthese zwischen beidem möglich ist.

Diese Mischung aus Sexismus und fehlendem Gespür für technologische Umbrüche, das macht mich fertig

WIRED: Die Visionen einer digitalen Gesellschaft, wie sie Ihnen vorschwebt, werden im Moment stärker in den Laboren von Google, Facebook oder Microsoft entwickelt als in der Politik. Steuern wir in eine Zukunft, die vor allem diesen Unternehmen nützt?
Joost: Google und Facebook sind nicht böse, das wäre zu einfach. Ich war vor Kurzem in Googles Forschungslabor X. Sie haben ein beeindruckendes Gebäude, laden junge, internationale Menschen aus der Wissenschaft und von Google selbst ein und lassen sie gemeinsam Ideen für den gesellschaftlichen Wandel entwickeln. Ob man damit was verdienen kann, ist zunächst zweitrangig. Es geht um die Fragen: Wie soll unsere Zukunft aussehen, und was brauchen wir dafür? Das macht mir einerseits Angst, weil sie mit Milliarden-Unterstützung einfach mal sagen können: Wir schicken das Internet in die Sahara und messen Blutzucker über Kontaktlinsen. Andererseits ist es richtig, dass sie gesellschaftliche Probleme angehen.

WIRED: Das Problem ist ja nicht, dass Google oder Facebook diese Probleme angehen, sondern, dass die Politik außen vor bleibt.
Joost: Ich sehe diese Entwicklungen gar nicht unbedingt als Aufgabe der Politik, eher als Gesellschaftsaufgaben. Es macht mich traurig, dass in Deutschland so vieles versandet. Erstens, weil die Forschung hier und in Europa hervorragend ist und viele der Dinge, die im Silicon Valley umgesetzt werden, hier schon seit Jahren in den Laboren schlummern. Zweitens, weil die politische Elite nicht dieses visionäre Potenzial hat. Und drittens, weil die deutsche Wirtschaft so konservativ und langsam denkt.

WIRED: Haben Sie ein Beispiel?
Joost: Hier am Design Research Lab entwickeln wir seit Jahren gestrickte Sensoren und andere Wearables, in die Microcontroller durch leitendes Garn integriert sind. Ein Thema für das Internet der Dinge. Vor sechs Jahren bin ich zu einem großen deutschen Unternehmen gegangen, um diese Entwicklungen den Führungskräften zu präsentieren. Die Antwort war: „Ah, hast du was für deinen Kleinen gestrickt?“ Diese Mischung aus Sexismus und fehlendem Gespür für technologische Umbrüche, das macht mich fertig.

WIRED: Im Moment ist viel von Terror und Gewalt die Rede, wenn es ums Netz geht. Fokussiert sich die Debatte zu stark auf die Gefahren?
Joost: Da ist was dran. Durch die Berichterstattung in den Medien ist die Wahrnehmung vieler: Cyberattacken, die Bösen aus dem Darknet, Phishing Mails, Big-Data-Überwachung und Roboter, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Das ist eine hysterische Debatte, deswegen sind viele verunsichert und haben Angst vor der Digitalisierung. Und gleichzeitig sehen wir an den Statistiken, dass die digitale Spaltung sich vertieft. Das wächst sich nicht raus, es wird schlimmer.

WIRED: Nutzen die Innenminister das gerade aus, nach dem Motto: „Wir lassen die Bösen im Internet nicht gewähren“?
Joost: Ja. Weil viele Menschen die Technik nicht verstehen, kann man schneller Ängste schüren und sich profilieren: Wir machen ein Cyberabwehrzentrum, das klingt nach Raumschiff Enterprise. Es ist eine späte Reaktion, die jetzt umso stärker ausfällt. Kompetenzen aufzubauen, ist sicher notwendig. Aber gleichzeitig sollte man positive Entwicklungen verstärken.

WIRED: Was müsste jetzt passieren?
Joost: Wir brauchen einen positiven Gegenentwurf: Wie funktioniert eine digitale Gesellschaft? Wie überwinden wir digitale Spaltung? Welche Vorteile bietet die Digitalisierung der Arbeit?

WIRED: Wie lautet Ihre Antwort?
Joost: Das Ziel der Rationalisierung war ja, schwere körperliche Arbeit und Routinetätigkeiten zu erleichtern – nun sind von den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung mehr Bereiche betroffen als anfangs angenommen. Das bietet aber auch Chancen, soziale und kreative Tätigkeiten zu stärken und neue Arbeitsmodelle zu entwickeln. „9 to 5“ war gestern, das Normalmodell der Arbeit löst sich auf. Ich dachte naiverweise, das Arbeits­ministerium hätte seit Jahren ein Whitepaper in der Schublade – tatsächlich begann dieser Prozess erst in dieser Legislaturperiode. Auch die Gewerkschaften denken über neue Möglichkeiten nach, betonen aber ebenfalls mehr Risiken als Chancen.

WIRED: Viele haben vor allem Angst um ihren Job.
Joost: Deshalb müssen Wirtschaft und Politik zusammen grundlegend neue Ideen entwickeln, wie alle teilhaben können. Auch deshalb wird das bedingungslose Grundeinkommen so heftig diskutiert – wenngleich ich nicht glaube, dass es die Lösung aller Probleme sein kann.

WIRED: Wenn selbst technisch versierte Menschen bei Themen wie Datenschutz oder Netzneutralität teils nicht mehr hinterherkommen, wie kann es dann gelingen, eine breite Masse dafür zu interessieren?
Joost: Das ist eine große politische Aufgabe. So etwas wie der Kampf um Netzneutralität ist komplex, da werden scheinbar kleinste Details diskutiert – bei denen steigen 98 Prozent der Bevölkerung aus. Die digitale Bildung bis ins hohe Alter ist ein wichtiges Thema, aber das Schlimme ist, wir schaffen es ja noch nicht mal, sie in den Schulen aufs Gleis zu bekommen.

In Großbritannien bekommen Schulkinder einen Microcontroller – hier liest man in der FAZ, wie schädlich digitale Bildung doch sei

WIRED: Läuft es andernorts besser?
Joost: Wir haben uns vor Kurzem eine Europakarte angeschaut, wo laut einer aktuellen Studie schon Grundlagen der Programmiertechnik in der Schule eingeführt worden sind oder bald eingeführt werden. In der Mitte klafft ein Loch: Deutschland. In Polen etwa gibt es eine große Initiative Coding at School. In Großbritannien bekommen Kinder in der siebten Klasse einen Microcontroller zum Programmieren. Und hier liest man in der FAZ, wie schädlich digitale Bildung doch sei.

WIRED: Haben Sie eine Lösung?
Joost: Mit ein paar Experten haben wir eine gemeinnützige Initiative gestartet: einen ganz einfachen Microcontroller, den man schon ab der Grundschule bis in die Oberstufe einsetzen kann, um spielerisch programmieren zu lernen.

WIRED: Wo soll der zur Anwendung kommen, wenn Programmieren nicht auf dem Lehrplan steht?
Joost: Wir knüpfen mit unseren Unterrichtsmaterialien an das Curriculum an. Man kann den Controller in Physik einsetzen, Mathematik oder Kunst – da ist viel möglich. Eine Forderung nach einem neuen Schulfach ist kaum durchsetzbar, das ist Länderhoheit. Deswegen versuchen wir lieber, das pragmatisch als Lehrmittel in den Unterricht zu integrieren.

WIRED: Ihre Position als Internetbot­schafterin Deutschlands bei der Europäischen Union ist ehrenamtlich, ohne wirkliche Macht, ohne Mitarbeiterstab und andere Ressourcen. Was können Sie da verändern?
Joost: Ich arbeite viel mit den Ministerien zusammen. Gerade komme ich vom Wirtschaftsministerium, wo wir besprochen haben, dass wir auf dem IT-Gipfel im November den erwähnten Microcontroller gemeinsam vorstellen. Es ist wichtig, dass die Regierung uns unterstützt. Das hat viel mehr Kraft, als wenn wir das wieder als zivilgesellschaftliche Initiative alleine machen.

WIRED: Wird es also doch noch irgendwann die Ministerin Joost geben?
Joost: Es sieht nicht danach aus. Politik ist ein anstrengendes Geschäft, in dem man in langwierigen Pro­zessen Kompromisse aushandeln muss. Hier im Lab kann ich viel dynamischer arbeiten, mit eigenen Initiativen, die dann politisch begleitet werden. Und als Internetbotschafterin habe ich gute politische Schnittstellen. Mein Modell ist im Moment, von hier aus Dinge anzuschieben und so Wirkung zu entfalten. Außerdem ist unsere angewandte Forschung zu Wearables ein großartiges Zukunftsthema, das Spaß macht!

Dieser Artikel stammt aus der Herbstausgabe 2016 des WIRED-Magazins. Weitere Themen: der Web.de-Gründer und seine Suche nach dem ewigen Leben, Künstliche Intelligenz, ein Blockchain-Krimi aus Sachsen, Udacity-Gründer Sebastian Thrun, die Zukunft des Fliegens – und ein Punk, der uns vor der NSA schützen will.

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