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Dieses Videospiel könnte das erste sein, das einen Oscar gewinnt

von Cindy Michel
Ein Kurzfilm, der ein Videospiel ist, das die ganze Welt darstellt: Everything von David O'Reilly ist das erste Game, das die Chance auf einen Oscar hat. WIRED traf den Regisseur auf der Berlinale und fragte ihn, warum er ein Stück Software entwickelt hat, das eigentlich eine philosophische Abhandlung sein soll.

Es dauert einige Zeit, bis David O'Reilly nach seinem Talk die Bühne bei den Berlinale-Talents verlassen kann. Noch bevor er das Mikro am Ende der Session für zukünftige Filmemacher ablegen kann, stürmen etliche Besucher auf ihn zu. Sie wollen mit ihm über sein neues Projekt sprechen oder wissen, ob er nicht mal Zeit für einen Kaffee hätte. Ein Mädchen schenkt ihm ein blinkendes Miniaturpferd als Schlüsselanhänger. Nein, der Popstar unter den Spieleentwicklern sei er nicht, sagt O'Reilly, dann schon eher ihr Philosoph.

„Philosophie ist extrem wichtig für mich und mein Leben“, sagt der Animationsfilmer und Spieleentwickler. Das zeigt sich auch in seinem neuen Werk: einem Kurzfilm, der eigentlich ein Computerspiel ist. Für die Berlinale montierte O'Reilly Aufnahmen seines Games Everything zu einem Zehnminüter, der in der Sektion Shorts lief. Nun hat er mit diesem den Jurypreis beim Wiener Kurzfilmfestival VIS Vienna Shorts gewonnen und landete damit auf der Longlist der möglichen Oscar-Nominierten. Mit etwas Glück wäre Everything das erste Videospiel, das den renommierten Academy Award gewinnt.

Das Game ist eine Simulation der Welt, gesehen aus der Perspektive von allen und allem: Atomen, Einzellern, Pflanzen, Tieren, Planeten und Galaxien. Der Religionsphilosoph Alan Watts begleitet die Reise durch dieses Universum als Sprecher. Im WIRED-Interview erklärt David O'Reilly, wie er vom Filme- zum Spielemacher wurde und warum Everything das perfekte Medium für Philosophie ist.  

WIRED: Dafür, dass es ein Spiel über Philosophie sein soll, ist Everything erstaunlich wenig kompliziert.
David O'Reilly: Wir in der westlichen Welt haben immer noch den seltsamen Glauben, dass Philosophie unheimlich kompliziert und komplex sein muss. Dass sie den Akademikern und Geisteswissenschaftlern vorbehalten ist. Früher, in der alten Welt, waren philosophische Abhandlungen sehr barock. Genauso ausladend und schwerfällig wie die Mode oder die Möbel waren auch die Schriften und die Sprache. Heute sollte das anders sein. Unsere Sprache ist klarer und weniger blumig und unsere Mittel und Wege, zu kommunizieren, sind vielfältiger geworden. 

WIRED: Also ist Everything viel mehr eine philosophische Abhandlung als ein Spiel?
O'Reilly: Es ist beides, es ist alles, das hängt von der Perspektive ab. Aber ja, natürlich ist es eine philosophische Abhandlung. Es beschreibt, was in der Welt passiert und wie die Dinge dabei miteinander in Verbindung stehen. Und im übertragen Sinne auch, wie wir Menschen in der Welt agieren, wo wir uns sehen und wie wir über andere denken. Es geht um das Du und das Nicht-Du, um das Du und die Welt. Und genau das erforsche ich durch das Medium Videospiel.

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WIRED: Warum ausgerechnet ein Videospiel?
O'Reilly: Weil Videospiele dafür perfekt sind. Ein Computerspiel spielt man immer aus einer bestimmten Perspektive. Auch die Philosophie zeigt, vereinfacht gesagt, nur verschiedene Sichtweisen auf die Welt. Es war einfach logisch, diese der Philosophie so ähnliche Grundeigenschaft des Computerspiels für eine philosophische Abhandlung zu nutzen. Sie zu einer Art Point-of-View-Simulator zu machen. 

WIRED: Bist du also ein Spieleentwickler-Philosoph?
O'Reilly: Vielleicht. Das hört sich zwar schrecklich an, aber ich glaube, es stimmt. Ich habe versucht, die Philosophie in einem Videospiel zu inkarnieren. Die Gedanken und Ideen sind in Everything nicht nur Info-Material im Spiel, sondern sie sind das Spiel selbst. Sie sind das Gewebe des Spiels, sein Konzept und seine Seele.

WIRED: Ist Everything denn ein typisches Computerspiel geworden? Bei deinem ersten Game Mountain haben viele das ja noch vehement bestritten.
O'Reilly: Vielleicht nicht typisch, aber sehr viel typischer als Mountain. Es basiert zwar auf einem Sandkastenprinzip, aber es gibt bestimmte Pfade, denen man als Spieler folgen sollte, um Dinge zu bekommen. So spielt man für seine Figuren verschiedene Fähigkeiten frei. Wahrscheinlich bin ich wirklich einer der wenigen, die Mountain als „richtiges Videospiel“ bezeichnen würden. Aber natürlich ist es das nicht. Es ist eine Simulation der Natur, die automatisch im Hintergrund ablaufen soll. Überraschenderweise haben sich aber doch Fans dafür gefunden. Zum Glück, denn zum Ende der Produktion war ich total pleite. Ich hatte nicht mal mehr Geld, um meine Miete zu bezahlen. Und dann erschien dieses Spiel und plötzlich hatte ich etwa eine halbe Million Dollar auf meinem Konto.

WIRED: Was hast du mit dem Geld gemacht?  
O'Reilly: Ich habe es genommen und komplett in meine neue Idee investiert, in das, was heute Everything ist.

WIRED: Der Look von Everything erinnert an Filme aus den 70ern, die mit Point-of-View-Shots und Perspektiven spielen. Haben dich bestimmte Werke beeinflusst?
O'Reilly: Ja, vor allem der Experimentalfilm Powers Of Ten von Charles und Ray Eames. Ein Zehnminüter, der eigentlich keine Handlung hat, zumindest nicht in dem Sinn, wie wir es kennen. Am Anfang sieht man aus der Vogelperspektive ein Pärchen beim Picknick auf einer Wiese. Die Kamera zoomt raus, immer weiter und weiter, bis man ganz New York sieht, dann die Erde und die Galaxien. Und dann wird der Zoom umgekehrt und der Blick geht wieder auf die Erde, beschleunigt zurück auf das Pärchen. Schließlich dringt die Kamera in ein Kohlenstoffatom in der Haut des Mannes ein. Durch diesen Film erkennt man, wie klein man wirklich ist und wie nichtig unsere alltäglichen Probleme im großen Ganzen sind. Man bekommt plötzlich eine andere Sicht auf die Dinge und entfernt sich von der egozentrischen Perspektive. 

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WIRED: Und das willst du mit Everything auch schaffen?
O'Reilly: Ja. Aber letztlich basiert es vor allem auf den Schriften des Religionsphilosophen Alan Watts, der ja auch der Sprecher im Spiel und Film ist. Einer seiner Sätze, mit dem auch der Film beginnt, beschreibt es perfekt: „Das menschliche Wesen ist sich einer Hierarchie von Wesen über ihm und unter ihm bewusst. Das bedeutet, wer auch immer du bist, wo auch immer du bist und was auch immer du bist, du bist immer in der Mitte. Das ist das Spiel.“

WIRED: Welche Philosophien sind noch eingeflossen?
O'Reilly: Viele, im Grunde genommen all die Dinge, an die auch ich glaube und nach denen ich mein Leben zu gestalten versuche. Etwa der Glaube, dass alle Religionen auf dem selben Ursprung beruhen – und somit im Kern sehr ähnlich sind.

WIRED: Wie zeigst du diesen Glauben konkret im Spiel?
O'Reilly: Studien besagen, dass das Herz eines jeden Säugetieres (abgesehen vom Menschen, Anm. d. Red.), vom kleinsten bis zum größten, im Leben durchschnittlich eine Milliarde mal schlägt. Das Herz einer winzigen Maus schlägt aber einfach schneller als das eines riesigen Wals, und der Wal wird auch älter als die Maus. Das bedeutet für mich, auch wenn die Lebenszeit unterschiedlich lang ist, müsste die Lebenserfahrung gleich sein. Und da setzt Everything an, im Spiel erlebt man das ganz konkret an der Einheit der Zeit: Wenn der Spieler mit einem großen Tier die Welt erforscht, verläuft sie einfach langsamer, als wenn er das mit einem kleinen, wie etwa der Maus tut, deren Herz ja auch viel schneller schlägt.

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