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In Eve Online betreiben Gamer echte Wissenschaft

von Achim Fehrenbach
Computerspieler verbringen viel Zeit mit ihrem Hobby. Forscher machen sich das zunehmend zunutze und werben sie als wissenschaftliche Helfer an. Zum Beispiel im Weltraum-Game Eve Online.

Die Drifter zählen zu den rätselhaftesten Kreaturen von Eve Online, einem Massively-Multiplayer-Online-Game (MMO) mit Schwerpunkt auf Handel und Kampf im Weltraum. Unvermittelt tauchten sie im Universum auf. Eigentlich weiß man nur, dass sie weit fortgeschrittene Technologien besitzen – und dass sie den Eve-Spielern äußerst feindlich gegenüberstehen. Die geringen Kenntnisse über die Drifter machen sie nur noch gefährlicher – und genau deshalb hat die Hilfsorganisation Sisters of Eve beschlossen, sie im Project Discovery zu erforschen. Spieler, die mithelfen, werden belohnt.

Project Discovery hat einen realen wissenschaftlichen Hintergrund: die Klassifizierung von Proteinen. Es ist der bislang umfangreichste Versuch, so genannte Citizen Science mit einem Computerspiel zu verbinden. Die Bürgerwissenschaft hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, weil bessere Messmethoden der Forschung immer mehr Daten bescheren. Die Analyse dieser Daten ist aber oft zeitraubend, deshalb setzen Forscher zunehmend auf die Mitarbeit von Laien. Bürgerwissenschaftler sortieren Berge an Daten und können dann von sich behaupten, einen Beitrag zur Forschung geleistet zu haben.

Beispiele für wissenschaftliches Crowdsourcing gibt es viele: In Galaxy Zoo klassifizieren Laien Galaxien anhand von NASA-Aufnahmen, in Snapshot Serengeti bestimmen sie Tierarten und in Planet Four suchen sie Geysire auf dem Mars. Der Erfolg solcher Projekte hängt stark von der Motivation der Teilnehmer ab, schließlich investieren diese eine Menge Zeit. Um die Motivation hochzuhalten, setzen die Macher zunehmend auf Gamification, also den Einbau spielerischer Elemente. Bekannte Projekte sind Foldit zur Protein-Optimierung und Eyewire zur Kartierung des Gehirns. Zeitraubende Analysen inszenieren sie als spannende Rätsel

Auch Project Discovery setzt auf Gamification. Mit dem Unterschied, dass es an ein Spiel andockt, das bereits lange existiert. Eve Online startete 2003 und hat nach wie vor hunderttausende Abonnenten. Es ist für seine gewaltigen Schlachten mit tausenden Teilnehmern und für seine hochkomplexen Handelskreisläufe bekannt.

Eve-Spieler verbringen unzählige Stunden in den Weiten des simulierten Weltraums. Würden sie nur einen Bruchteil der Zeit mit Citizen Science verbringen, könnte das der Forschung enorm weiterhelfen – so jedenfalls die Grundidee von Project Discovery. Vier Partner schlossen sich dafür zusammen: Eve-Online-Betreiber CCP Games aus Reykjavik, die dortige Universität, der schwedische Human Protein Atlas sowie die schweizerische Firma Massively Multiplayer Online Science (MMOS).

Emma Lundberg ist Dozentin an der Königlich Technischen Hochschule in
Stockholm. Die junge Wissenschaftlerin ist mitverantwortlich für den Human Protein Atlas (HPA), eines der größten Forschungsprojekte Schwedens. „Wir arbeiten an einer biologischen Datenbank, die Forschern in aller Welt als Open Source zur Verfügung steht“, sagt Lundberg im WIRED-Interview. „Unser Ziel ist eine Kartierung der Proteine im menschlichen Körper. Mit dieser Datenbank sollen Forscher erkennen können, wie ein ganz bestimmtes Protein im Körper verteilt ist.“ Als MMOS-Mitbegründer Attila Szantner sie mit der Idee für ein Bürgerwissenschaftsprojekt kontaktierte, war Lundberg sofort begeistert: „Mir war klar, dass unsere Bilder perfekt zu diesem Vorhaben passen.“

Unser Ziel ist eine Kartierung der Proteine im menschlichen Körper

Emma Lundberg

Der HPA umfasst rund 13 Millionen Mikroskop-Aufnahmen, jeden Monat verzeichnet er 150.000 Zugriffe aus aller Welt. Lundberg erläutert, warum der Atlas so wichtig ist: „Das menschliche Genom wurde vor rund 15 Jahren kartiert. Wir wissen jetzt, dass es ungefähr 20.000 verschiedene Gene gibt. Diese Gene dienen als Blaupausen für die Proteine: Also für Makromoleküle, die die meisten Funktionen in unserem Körper erfüllen.“

Ein prominentes Beispiel sei das Signalmolekül Insulin, zuständig für den Blutzuckerspiegel, sagt Lundberg. „Um die Kartierung des Genoms wirklich gut nutzen zu können, möchten wir auch gerne die Funktion aller Proteine kennen, für die sie codieren – nur so können wir verstehen, wie der menschliche Körper auf molekularer Ebene funktioniert.“ Damit lassen sich dann auch Krankheiten besser bekämpfen, sagt Lundberg. „Die meisten Medikamente zielen auf Proteine ab.“

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Project Discovery hatte also schon früh ein lohnendes Ziel: die Klassifizierung von Proteinen aus dem Human Protein Atlas. Offiziell angekündigt wurde das Projekt auf dem Eve Fanfest 2015, doch bis zum Start sollte es da noch ein Jahr dauern. „Unser Ziel war, Project Discovery nahtlos in Eve einzubetten. Es musste also zur fortlaufenden Handlung des Spiels passen“, sagt Linzi Campbell, Game-Designerin bei CCP. Das isländische Studio löste diese Aufgabe, indem es die Drifter erfand und den Sisters of Eve die Leitung des Forschungsprojekts zuteilte; eine Drifter-Autopsie erbrachte genügend „DNA“ für die künftige Erforschung. 

Die größte Herausforderung war aber, die Protein-Klassifizierung als Minispiel anzudocken. Denn eines sollte Project Discovery natürlich machen: Spaß. Die Mikroskop-Aufnahmen aus dem HPA sind in verschiedene Bereiche unterteilt, zum Beispiel subzelluläre Bilder und Bilder von Gewebeproben.

Für Project Discovery wurden zunächst 250.000 subzelluläre, mit Kontrastmittel eingefärbte Samples in Eve Online eingespeist. Um teilnehmen zu können, mussten Spieler zunächst ein Tutorial über das NeoCom-Menü aufrufen. Das eigentliche Minispiel besteht darin, die eingefärbten Proteinmuster – es gibt 27 davon – den strukturellen Kategorien zuzuordnen, also Kern, Zytoplasma oder Zellperipherie. „Im Gegenzug erhält der Spieler eine Reihe von Belohnungen“, erläutert Campbell. „Er sammelt Erfahrungspunkte – und sobald er ein höheres Level erreicht, erhält er analysis credits, die er gegen Booster, Kleidung und andere Items eintauschen kann. Das Gameplay selbst ist also ziemlich einfach.“

Ohne Spamming und Manipulation konnte die Forschung ungestört weitergehen

Hjalti Leifsson

Schon schwieriger war es, die Qualität der Klassifizierung zu gewährleisten. Schließlich handelte es sich bei den Teilnehmern um Laien mit ausgeprägtem Spieltrieb. „Anfangs haben wir die Genauigkeit der Spieler am Community-Durchschnitt gemessen“, erzählt Campbells Kollege Hjalti Leifsson. „Wenn also jeder Spieler dieselbe Kategorie wählte, lag jeder richtig – selbst dann, wenn das Bild gar nicht in die Kategorie passte.“ Die Game-Designer änderten das Verfahren schon sehr bald. „Stattdessen haben wir den Spielern Trainings-Samples gegeben und ihre Genauigkeit danach bewertet, wie sie mit diesen Samples umgingen“, so Leifsson. „Das hat dem Spamming und der Manipulation des Systems einen Riegel vorgeschoben – und die Forschung konnte ungestört weitergehen.“

Mitentscheidend für den Spielspaß ist das interne Rating: Project Discovery zeigt an, wie genau die Spieler die Proteinmuster klassifiziert haben. „Wenn man da 99,99 Prozent erreicht, hat man das Gefühl, etwas geschafft zu haben“, sagt Leifsson. „Je genauer man ist, desto mehr Belohnungen erhält man – und desto mehr Items kann man damit kaufen.“ Insgesamt habe es nur geringe Probleme mit Hackern und Trollen gegeben. „Die Eve-Spieler sehen das Minigame generell sehr positiv.“

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Der Erfolg gibt Project Discovery jedenfalls recht. Anfangs gingen die Forscher davon aus, dass die Spieler sechs bis zwölf Monate brauchen würden, um die 250.000 Bilder zu klassifizieren. „Sie haben das ganze Sample aber in drei Wochen geschafft“, erzählt Campbell stolz. Seit dem Start im März 2016 haben die Spieler das Sample bereits viele Male durchlaufen – und insgesamt mehr als zehn Millionen Klassifizierungen beigesteuert.

Menschen und KI besitzen unterschiedliche Stärken

Emma Lundberg

Das Kategorisieren der Proteine macht zweifellos Spaß. Gleichwohl stellt sich natürlich die Frage, ob künstliche Intelligenz diese Aufgabe nicht doch deutlich schneller und genauer bewältigen könnte. Ist Project Discovery am Ende eher ein Prestige-Projekt für Eve Online als sinnvolle Citizen Science? „Ich denke, dass Menschen und KI – was die Klassifizierung betrifft – unterschiedliche Stärken besitzen“, sagt Emma Lundberg. „Es gibt 27 subzelluläre Muster – und diese 27 Muster können auf verschiedenste Weise zusammen auftreten, es gibt also viele verschiedene Kombinationen.“ Die KI habe nach wie vor Probleme mit dem Erkennen solch gemischter Muster, so die Forscherin. „Menschen sind evolutionsbedingt sehr gut darin, Muster mit ihren Augen zu erkennen. Ich glaube nicht, dass wir das Projekt nur mit KI hätten umsetzen können.“ Auch wenn die künstliche Intelligenz definitiv unparteiischer sei als jeder Mensch. 

Am 4. Dezember startet eine neue Version des Human Protein Atlas, sie wird dann auch die Klassifizierungen der Spieler enthalten. Doch wie geht es weiter mit Project Discovery? Bis jetzt haben die Spieler ja „nur“ subzelluläre Bilder analysiert. „Wir haben aber auch Bilder von Proteinmustern in Gewebe-Abschnitten, deren Klassifizierung noch komplexer ist“, sagt Lundberg. Dieser Datensatz könnte die Grundlage für die zweite Phase von Project Discovery sein. „Wir wissen jetzt, dass die Spieler hochqualitative Daten beisteuern können“, so Lundberg. „Vom Game-Design her wäre das aber schwieriger: Wie lässt sich eine komplexere wissenschaftliche Frage im Spiel operationalisieren?“ Linzi Campbell kann sich gut vorstellen, ein weiteres Teilprojekt in die Eve-Story einzubetten. Die bisherige Forschung soll jedenfalls Auswirkungen auf die Handlung haben: Womöglich erhalten die Spieler fortschrittliche Technologien, mit denen sie die Drifter künftig besser bekämpfen können.

Emma Lundberg sieht Project Discovery als Pionierprojekt: „Ich hoffe, dass wir Andere inspirieren können, auf dem Gebiet der Citizen Science und Science Gamification Ähnliches zu leisten.“ Einem Bericht zufolge soll CCP bereits in Gesprächen mit Gearbox sein, um ein solches Spiel in Borderlands einzubauen. 

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