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Entscheidung gegen die Netzneutralität: Europa hat leider Politik mit Lücken gemacht

von Max Biederbeck
Am Dienstag hat das Europäische Parlament (EP) die neuen Regelungen zur Netzneutralität verabschiedet. Kritiker werfen den Abgeordneten vor, den gleichen Zugang zum Netz damit aufs Spiel zu setzen. Ein Blick auf die Verordnung zeigt: Die Auswirkungen auf unser soziales, wirtschaftliches und politisches Leben sind schwerwiegend. Die Parlamentarier könnten einen schweren Fehler begangen haben.

Es ist so eine Sache mit Gesetzestexten. Der Hauptabsatz liest sich verständlich, er gibt eine klare Ansage: Das geht und das nicht. Auch in der heute vom EP verabschiedeten Verordnung zur Netzneutralität steht so ein Satz: Provider müssen den Verkehr im Netz gleich behandeln, „ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger“. Inhalte dürften keine Rolle spielen, heißt es, egal welche Anwendungen oder Dienste man benutzt und welches Endgerät. Klingt spitze: Alle sind gleich, echte Netzneutralität, offenes Internet. Aber wie gesagt, es ist so eine Sache mit Gesetzestexten. Ein Absatz steht nie für sich allein und die „Abers“ sind zahlreich.

Ergänzungen können sinnvoll sein, um eine Verordnung genauer zu machen und sie für den Einzelfall zuzuschneiden. Oft finden sich darin aber auch Widersprüche, die aus politischen Kompromissen heraus entstanden sind und durch die Einflussnahme von wirtschaftlichen Lobbygruppen. Die besagten „Abers“ zur neuen Netzneutralitäts-Verordnung sind so ein Fall: Sie sind schwammig formuliert und ihre rechtliche Definitionen unzureichend.

Der Gesetzestext der Regelung spricht umständlich von Überholspuren für „Spezialdienste“, macht unterschiedliche Daten-Kategorien möglich und legt Maßnahmen für eine „drohenden Netzüberlastung“ fest. Ein ausdrückliches Verbot des oft diskutierten und problematischen Zero-Ratings (also der Möglichkeit für Provider, bestimmte Dienste vom Datenvolumen auszunehmen, wie es T-Mobile etwa mit Spotify getan hat) beinhaltet er jedoch nicht nicht. So entstehen zahllose Lücken und Hintertürchen — und am Ende eben doch ein Zweiklassen-Internet: alles andere als gleich, keineswegs neutral und schon gar nicht offen. Aber der Reihe nach.

Wird HD-Video bald zum Spezialdienst, der wichtiger ist als andere Daten?

Provider werden in der Verordnung grundsätzlich daran gehindert, sogenannte Überholspuren einzurichten. Unternehmen sollen keine Möglichkeit haben, sich „Platz auf der Straße“ einzukaufen und ihre Daten schneller zu verschicken als kleinere Wettbewerber, die sich das nicht leisten können. Eine Ausnahme gibt es für „Spezialdienste“, also Services, die „keine Internetzugangsdienste sind“. Gemeint sind zum Beispiel Krankenhäuser, die auf ein möglichst schnelles Netz angewiesen sind, um ihre Daten zu übertragen. Eigentlich wird diese Art von Dienst schon lange in der Netzpolitik diskutiert. Im jetzt vorliegenden Text wird allerdings erschreckend schlecht definiert, wie genau so ein Dienst aussehen soll. Dadurch können alle möglichen Firmen ihre Angebote zu Spezialdiensten machen, HD-Videos zum Beispiel als spezieller Dienst am Kunden definiert werden. Die Überholspur kommt so zurück.

Das Zero-Rating funktioniert ähnlich. Diskriminierung entsteht hier durch eine Art Kostenlos-Angebot. Wenn bestimmte Inhalte nicht mehr auf das gebuchte Datenvolumen angerechnet werden, entsteht ein unfairer Wettbewerb. Große Anbieter können ihre Produkte attraktiver machen, indem sie für die „Daten-Flat“ ihrer Kunden kostenlos werden. Im Sinne der Frage: Lade ich mir eine 50-MB-App herunter, die mein Datenvolumen auffrisst, oder eine, die mich keine Daten kostet? Das Zero-Rating kann den Providern auch als Vorwand dienen, den Umfang ihrer Datenflats zu verkleinern. Es gäbe also weniger Service für das gleiche Geld.

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In Zukunft können Anbieter außerdem Kategorien für Datenpakete aufstellen und die Surfgeschwindigkeiten für jede von ihnen festlegen. Verschlüsselte Daten können so eine Kategorie sein, Video-Verbindungen oder Spiele eine andere. Die Verordnung sieht vor, dass Daten-Geschwindigkeiten nur nach technischen Aspekten hin verändert werden dürfen. Ob Anbieter aber tatsächlich diskriminieren oder nicht, lässt sich kaum nachweisen. Droht außerdem die oben erwähnte „Netzüberlastung“ — tatsächlich oder angeblich —, dürfen Datenwege sogar ganz blockiert werden. Wann diese Bedrohung wirklich gegeben ist, bleibt fraglich.

Bei der Lesung im Parlament hat es zahlreiche Änderungsanträge gegeben — unter ihnen auch durchaus die richtigen Vorschläge, um die genannten Lücken zu schließen. Immerhin 200 Abgeordnete, vor allem von den Grünen und Sozialisten stimmten diesen zu. Eine Mehrheit der Parlamentarier entschied sich aber dazu, die Verordnung durchzuwinken.

Vor allem netzpolitische Organisationen wie die Digitale Gesellschaft oder European Digital Rights (EDRi) haben in den letzten Monaten öffentlichkeitswirksam gegengesteuert. „Diese Regeln bedrohen den Fortschritt, die Meinungsfreiheit, Privatssphäre und Europas Fähigkeit, die digitale Wirtschaft anzuführen“, schreibt etwa Tim Berners-Lee, Erfinder von HTML und Begründer des World Wide Web.

Ihre Lobbyarbeit im Namen der Netzneutralität hatte bei den Abgeordneten aber keinen Erfolg. Das Parlament hat nicht weniger entschieden als die Frage, ob Europa seine Grundwerte auch in die digitale Gesellschaft übertragen kann — und ob bei allem wirtschaftlichen Interesse von Netzprovidern und Anbietern trotzdem eine Politik ohne Lücken möglich ist. Scheinbar nicht. Die Parlamentarier haben nicht das nötige Verständis und Rückrat aufgebracht, Stopp zu sagen. Das ist bedenklich und deutet auf die Gefahr hin, dass auch zukünftig Entscheidungen des EP im Licht von Geschäfts- und nicht Gesellschaftsinteressen stehen. Den Menschen selbst bleibt jetzt nur noch das klassische Stoßgebet, dass schon oft geholfen hat, wenn es um netzpolitische Fragen in der EU geht: Europäischer Gerichtshof hilf!

UPDATE: Dieser Kommentar wurde nach der Entscheidung des Europäischen Parlaments am Dienstag, 27. Oktober, auf seine jetzige Version geändert. 

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