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Konzerne zerstören die Netzneutralität in Schwellenländern — Europa muss dagegenhalten

von Dominik Schönleben
Wir in Europa müssen ein Vorbild für Netzneutralität sein. Sonst werden Schwellenländer nie die Chance auf ein freies Netz haben — wie aktuell das Beispiel Indiens zeigt. Ein Kommentar.

Die Netzneutralität war ein Unfall. Hätten große Konzerne vorhergesehen, wie sehr das Internet unser Leben und unsere Zukunft bestimmen würde, dann hätten sie es nie so weit kommen lassen. Doch weil das Netz nicht von Großkonzernen, sondern von Idealisten, Forschern und Nerds geschaffen wurde, war es eine Technologie, die schon in ihrer Grundlage auf gegenseitiges Vertrauen und Freiheit ausgelegt war.

Nicht die Relevanz oder der Preis eines Datenpakets bestimmte dessen Route im Netzwerk der IP-Adressen, sondern der kürzeste Weg. Direkt eingegriffen wurde nur, wenn etwas schief ging oder irgendjemand dem Netz direkt schadete. So werden heute etwa Übertragungen mit dem Torrent-Protokoll auf ein vernünftiges Maß gedrosselt, weil sie sonst das komplette Netz verstopfen würden.

So funktioniert das Internet bis heute, oder tat es zumindest bis letzte Woche Dienstag, als das Europäische Parlament das neue Gesetz zur Netzneutralität vorstellte. Was die Telekom schon 2013 versucht, dann aber einen Rückzug gemacht hatte, ist jetzt vom EU-Parlament legitimiert worden: Einerseits ist es laut Gesetzestext möglich „Spezialdienste“ gegen Bezahlung schneller durchs Netz zu leiten. Aber auch sogenanntes Zero-Rating ist nicht ausgeschlossen, also die Möglichkeit, dass die Angebote bestimmter Anbieter nicht gegen das mobile Datenvolumen gerechnet werden, wenn sie dafür bezahlen. Das Zweiklassen-Internet wird damit Realität.

Dahinter steht der perfide Versuch, mehr Kontrolle über das Netz zu erlangen.

Anstatt ein Vorbild für Entwicklungs- und Schwellenländer in Sachen Netzneutralität zu sein, ist Europa gerade dabei, das Internet in eine Plattform für privilegierte Großkonzerne umzubauen. Immerhin: Während Konzerne sich diese Sonderbehandlung in Europa mit Lobbyarbeit erkämpfen müssen, haben sie in Ländern, die noch kein flächendeckendes Internet besitzen ein viel leichteres Spiel. Dort könnte der Kampf um die Netzneutralität schon verloren gehen, bevor die Bevölkerung überhaupt etwas mit dem Begriff anfangen kann. Eine gefährliche Entwicklung, wie sich aktuell zum Beispiel in Indien zeigt.

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verteidigte dort vor knapp einer Woche sein Projekt Free Basics, das früher Internet.org hieß und Millionen Menschen mit einem kostenlosen Basis-Internet versorgen soll. Was gehört nach Facebooks Definition zu den Basics des Internets? AccuWeather, Wikipedia, Google und natürlich Facebook — insgesamt 38 Angebote, handverlesen vom Social-Media-Konzern. Zuckerberg erklärte in Neu-Delhi, dass er es als seine moralische Pflicht sehe, das Land mit kostenlosem Internet zu versorgen. Doch hinter dem vorgeschobenen Idealismus steht in Wirklichkeit der perfide Versuch, mehr Kontrolle über das Netz zu erlangen — bevor die Bevölkerung sich gegen diese feindliche Übernahme zu wehren weiß.

Zwar gab es in Indien Widerstand gegen Free Basics, weshalb Facebook das Angebot für weitere Unternehmen öffnete. Wirkliche Netzneutralität blieb aber ein unerfüllter Traum für die Nation, die zu den am schnellsten wachsenden Schwellenländern bei der Adaption des Internets gehört. Telekommunikations-Unternehmen wollen dort weiterhin für die Nutzung bestimmter Anwendungen wie WhatsApp Zusatzentgelte verlangen und die Regierung hält das für eine gute Idee.


Die Menschen in Indien werden an ein völlig anderes Internet gewöhnt.

Die Grundproblematik bleibt also gleich: Wenn Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländer ihren ersten Kontakt mit dem Internet über das kostenlose Angebot von Facebook haben, werden sie irgendwann an ein völlig anderes Internet gewöhnt sein, als wir es sind. Anstatt an das freie Netzwerk, das es jedem ermöglicht eigene Inhalte zu verbreiten und die von anderen aufzustöbern, wird ihnen eine Limitierung auf bestimmte Angebote oder Firmen völlig normal erscheinen. Weitere Services müssen dann im Paket oder einzeln hinzugekauft werden.

Es entsteht von Grund auf ein System, dass mehr mit einem Kabelnetzbetreiber für Fernsehsender zu vergleichen ist als mit einem Versorgungsanbieter von Strom oder Wasser. Das vollwertige Internet mit all seinen obskuren Blogs und winzigen Startup-Firmen wäre dann ein Premiumservice, auf den nur noch die wenigsten und privilegiertesten Menschen zurückgreifen könnten. Den meisten würde hingegen das Basis-Angebot ausreichen, sie würden das System Facebook nie verlassen.


Das ist besonders bedenklich, wenn man realisiert, wie Facebook immer mehr seiner Angebote so gestaltet, dass man die eigene Plattform nicht mehr verlassen muss. Selbst Nachrichten werden als Instant Articles demnächst direkt in die Timeline injiziert. Im Free-Basic-Internet werden dann alle Bedürfnisse der User über die Facebook-eignen Plattformen abgedeckt und gesteuert — das restliche Internet wird zum Zusatzprodukt für Poweruser.

Wir in Europa finden die Vorstellung von einem solchen Internet befremdlich, aber für die Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern ist sie gerade dabei, zum Normalfall zu werden — sie haben es nie anders gekannt.


Das Internet hätte in Europa als Grundrecht definiert werden können.

Nicht nur Facebook betreibt Projekte, die das freie Netz untergraben: Google Free Zone bringt Services des Suchmachinenkonzerns kostenlos auf die Philippinen, nach Südafrika, Indien, Sri Lanka sowie seit Kurzem auch nach Nigeria und Kenia. Eine klarer Versuch, um Facebook auf den sich entwickelnden Märkten zuvorzukommen. Und Project Loon — Googles Versuch, das Internet per Stratosphären-Heißluftballon an die entlegensten Orte der Welt zu bringen — ist keine reine Philanthropie der Gründer Larry Page und Sergey Brin, sondern nur der letzte Mosaikstein, um direkt von Anfang an mit dabei zu sein, wenn ein Land neu erschlossen wird. Project Loon ist keine Zukunftsvision mehr, erste Verträge mit Sri Lanka und Indonesien gibt es schon. Facebook hatte ähnliches mit Drohnen vor, die ersten sollen nach Aussage des Konzerns „bald“ starten.

Vor der EU-Entscheidung gegen die Netzneutralität hätte Europa noch ein Vorbild für die sich entwickelnden Länder sein können. Das freie Netz hätte ein Symbol unserer Demokratie sein, das Internet als Grundrecht und Instrument der geistigen Freiheit definiert werden können. Stattdessen ist es zum Wirtschaftsgut geworden, mit dem Großkonzerne Handel treiben können.

Wenn wir in Europa schon den Kampf um die Netzneutralität aufgegeben haben, dann werden ihn auch wirtschaftlich schwächere Länder nicht gewinnen können. Der Sieg der Konzerne in der EU ist ein Vorbote dafür, wie Unternehmen das Internet nach neuen Regeln definieren und wie sie ihre Vision des Netzwerks in andere Länder exportieren werden. In Entwicklungs- und Schwellenländern wird sich das Netz unter anderen Vorzeichen verbreiten als bei uns. Leider sind die Ideale von Facebook und Google nicht die jener Wissenschaftler, denen wir das Netz verdanken — auch wenn Mark Zuckerberg uns das gerne glauben machen möchte.


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