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„Die EU-Gerichte müssen uns im Netz besser verteidigen“, sagt Menschenrechtler Nils Muižnieks

von Max Biederbeck
In der vergangen Woche hat der Europarat die Datensammelwut von nationalen Polizeibehörden und Geheimdiensten scharf kritisiert. WIRED Germany sprach mit dem verantwortlichen Ratskommissar für Menschenrechte Nils Muižnieks. Er sagt, es gebe immer noch kein ordentliches Recht, das uns im Internet vor staatlicher Willkür schützt.

WIRED: Die EU-Kommission will die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen. Aus dem Büro des Innenkommissars hören wir, es ginge nicht mehr um das „Ob“ sondern nur noch um das „Wie“. Sie selbst haben vergangene Woche ein Stellungspapier veröffentlicht, das genau diese Sammelwut stark kritisiert. Die scheinen nicht auf Sie hören zu wollen.
Nils Muižnieks: Die sollten vor allem auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) hören. Der hat im April entschieden, dass jegliche anlasslose Massenüberwachung nicht rechtmäßig ist. Jedes Vorhaben der Kommission muss sich nach diesem Urteil richten. Es darf kein neues Gesetz geben, das unsere Privatsphäre und damit unser Menschenrecht verletzt.

WIRED: Trotz der EuGH-Entscheidung geht die Datensammelwut weiter. Müssen wir den digitalen „Unrechtsstaat“ fürchten?
Muižnieks: Ich denke, dass das Risiko dazu besteht. Wir haben keine ordentlichen Kontroll-Systeme für Sicherheits- und Geheimdienste. Das machten schon die Snowden-Enthüllungen klar. Auch die momentanen Berichte zur langjährigen Folter von Gefangenen durch die CIA zeigen das wieder.

Seit der Kampf gegen den Terror oberste Priorität hat, ist aus klassischer Strafverfolgung präventive Überwachung geworden.

Nils Muižnieks, EU-Ratskommissar für Menschenrechte

WIRED: Das klassische „Die machen was sie wollen“-Prinzip.
Muižnieks: Bei dem alle Alarmglocken im Kopf klingeln sollten. Seitdem der Kampf gegen Terroristen oberste Priorität bekommen hat, arbeiten Polizei und Geheimdienste immer stärker zusammen. Aus klassischer Strafverfolgung wird präventive Abwehr und Überwachung. Dabei vergessen die Behörden, dass sie fundamentale Menschenrechte verletzen. Sie üben sogar Druck auf Unternehmen aus, ihnen dabei zu helfen.

WIRED: Druck auf Unternehmen?
Muižnieks: Erst vor kurzem erzählte mir der CEO eines großen Internetportals, dass er Besuch von Geheimdienst-Mitarbeitern bekommen habe. Ich kann nicht näher auf den Fall eingehen. Aber sie sagten ihm, er solle IP-Adressen rausgeben. All seine Konkurrenten würden bereits kooperieren.

WIRED: Und? Was hat er gesagt?
Muižnieks: Nein hat er gesagt und auf seinem guten Recht bestanden, nicht alles tun zu müssen, was man von ihm verlangt.

WIRED: Guter Mann.
Muižnieks: Sein Verhalten sollte die Regel sein. Das, was man in den Staaten als „Checks and Balances“ bezeichnet, versagt in solchen Fällen oft. Das liegt daran, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht mit den technologischen Entwicklungen unserer Zeit mitgehalten hat. Es ist Zeit, dass wir da aufholen.

Staaten waschen sich gerne rein, indem sie private Unternehmen machen lassen.

Nils Muižnieks, EU-Ratskommissar für Menschenrechte

WIRED: Also ein Rechtsrahmen für das Internet?
Muižnieks: Viele Menschen reden über das Internet, als wäre es der wilde Westen.  Ein rechtsfreier Raum, in dem private Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen machen können, was sie wollen. Aber es die Pflicht von Staaten, Menschenrechte zu verteidigen. Es gibt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), den EuGH und nationale Gerichte. Dort wird Recht gesprochen, dass für alle Mitgliedsstaaten gilt. Und es sollte auch für das Internet gelten.

WIRED: Das klingt weit hergeholt. Sobald es um die Sicherheit von Einzelstaaten geht, steht das digitale Recht doch wieder hinten an.
Muižnieks: Staaten waschen sich ihre Hände gerne rein, indem sie private Unternehmen machen lassen.  Wir müssen auch diese Firmen ermutigen, nein zu sagen, wenn wieder ein staatlicher Beamter vor der Tür steht. Wir müssen dafür kämpfen, dass die „Rule of Law“ hier wieder gilt.

WIRED: Was heißt denn „wieder“? So etwas gab es doch noch nie für das Internet.
Muižnieks: Wir leben nicht in einer Anarchie. Wir haben in Europa internationale Standards und Gerichte. Vereinzelt ist an den Gerichten auch schon Internet-Rechtsprechung entstanden.

Die Rechtsstaatlichkeit im Internet entwickelt sich zu langsam.

Nils Muižnieks, EU-Ratskommissar für Menschenrechte

WIRED: Zum Beispiel?
Muižnieks: Zum Beispiel die Entscheidung des Verfassungsgerichts der Türkei. Es hat im Mai eine Regierungs-Blockade von Twitter und Youtube wieder aufgehoben. Auf internationaler Seite haben wir Fälle wie Googles „Recht auf Vergessen“, den Yildirim-Fall und den Delfi-Fall. Man kann nicht sagen, dass Rechtsstaatlichkeit im Internet kein Thema ist. Sie entwickelt sich nur zu langsam. Noch gibt es eben keine ausgereiftes Recht für das digitale Zeitalter. Wir müssen die Gerichte dazu bringen, uns im Netz besser zu verteidigen.

WIRED: Wenn ein Urteil über Google gefällt wird, dann sitzt das Unternehmen trotzdem in den USA. Wenn die NSA Daten sammelt oder Hacker aus Russland oder China unsere Informationen stehlen, dann wird europäische Rechtsprechung trotzdem keine Rolle spielen.
Muižnieks: Im Idealfall können wir andere überzeugen, dass das Menschenrecht auch im Netz universell ist. Ich gebe zu, da idealistisch zu sein. Aber wir sehen doch, dass die Gerichtsentscheidungen, gerade wie im Fall Google, tatsächlichen Einfluss auf Staaten und große Unternehmen haben. Aber wenn die USA nicht damit beginnen, nach den Regeln des Menschenrechts zu spielen, wird das natürlich nichts.

WIRED: Warum?
Muižnieks: Weil alle anderen Staaten sagen werden, solange das Land der Freiheit nicht auf Menschenrechte im Netz achtet, müssen wir das auch nicht. Die Vereinigten Staaten hatten eine so wichtige Rolle bei der Entwicklung des Internets, sie müssen jetzt auch ihre Verpflichtung ernst nehmen, es zu schützen.

WIRED: Also geht Ihre nächste Reise in die USA?
Muižnieks: Die Kommunikation zwischen der EU und den USA muss besser werden, ja. Aber es wäre ein Fehler, nur mit Regierungen zu sprechen. Es wird zu oft gedacht, sie wären die einzigen, an denen sich Menschenrechte festmachen ließen. Heute sind aber vor allem auch die großen Unternehmen wichtig. Wenn wir nicht mit denen reden, sind wir irrelevant. 

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