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In Mexiko kämpfen die Bürger digital gegen die Folgen des Erdbebens

von Sonja Peteranderl
Hunde-Memes, Vermissten-Finder, virtuelle Karten: In Mexiko spielt der digitale Aktivismus gerade eine Schlüsselrolle bei der Erdbeben-Rettung.

Stundenlang gruben Rettungskräfte in Mexiko-Stadt unter den Trümmern der Enrique-Rebsámen-Schule nach verschütteten Kindern. Frida Sofía, die angeblich nach Wasser gerufen und ihre Finger bewegt hatte, wurde zum Hoffnungssymbol von Mexiko. Mexikaner feuerten die Hilfskräfte und das Mädchen stundenlang auf Twitter an – bis sich herausstellte, dass sie gar nicht existiert, nur ein Hoax war. Jetzt hat die Netzgemeinschaft eine neue Heldin gefunden, die Mexiko motivieren soll: die „echte“ Frida – eine Labradorhündin, die mit Schutzbrille und Pfotenschonern nach Überlebenden des Erdbebens sucht.

Mexiko befindet sich im Ausnahmezustand – doch die Katastrophe hat das Land auch vereint

Der landesweit berühmte Rettungshund hat inzwischen mehrere Twitter-Accounts, es zirkulieren Tausende von Memes, mit denen die Mexikaner sich Mut machen. Die Grafikdesign-Studentin Sofia Ron aus Guadalajara hat Frida-Sticker entworfen, die in Mexiko und anderen Ländern verkauft werden, und deren Umsatz in die Erdbebenhilfe fließt. Mehrere Tausende Euro hat ihre Studentengruppe schon gesammelt. „Ich habe die Sticker erst an der Uni gedruckt und verkauft, wir haben sie in der Gruppe an der Uni verbreitet und dann wurde die Nachfrage immer größer“, sagt Sofia Ron. „Die sozialen Netzwerke sind ein Weg, um ein Bewusstsein für die Notlage zu schaffen und schnell zu helfen, selbst wenn wir uns nicht direkt an den betroffenen Orten befinden, wie Mexiko-Stadt, Morelos, Puebla oder Oaxaca.“ Niemals in der mexikanischen Geschichte sei die Zivilgesellschaft so informiert, vereint und kommunikationsstark gewesen wie jetzt, twitterte der mexikanische Filmregisseur Alfonso Cuarón.

Mehr als 300 Menschen sind bei dem Erdbeben am 19. September 2017 gestorben, immer noch wird unter Trümmern nach Vermissten gesucht. Tausende Gebäude sind eingestürzt oder einsturzgefährdet und haben viele Mexikaner obdachlos gemacht. Mexiko befindet sich seit dem Erdbeben im Ausnahmezustand – doch die Katastrophe hat das Land auch vereint. Alle packen an, um sich gegenseitig zu helfen, und mit sozialen Netzwerken und digitalen Initiativen werden viele Hilfsaktionen koordiniert. „Mexiko ist gerade sehr solidarisch, man hilft auch Menschen, die man nicht kennt“, sagt Ron – die sozialen Netzwerke dienten dabei als „Treffpunkt für das ganze Land“.

Unter Hashtags wie #BrigadaDigital oder #SismoMx gingen erste Notrufe am Tag des Erdbebens auf Twitter viral: An Dutzenden Straßenecken mussten schnell Menschen aus Trümmern gegraben werden, hier fehlten Betonsägen oder 20 Freiwillige, die eine eingestürzte Mauer abtragen, dort Decken für obdachlose Familien.

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Per Crowdsourcing fahnden Mexikaner nach vermissten Familienangehörigen und Freunden, Gerettete werden in eine Google-Liste eingetragen, oder in einem editierbaren Personenregister, das inzwischen mehr als 25.000 Einträge enthält. Online entstand auch eine Art Laternenpfahl für vermisste und gefundene Haustiere: Der Twitterkanal Mascotas Sismo CDMX mit inzwischen über 14.000 Followern postet Fotos von Hunden, die in den Trümmern gefunden wurden oder sich in der Stadt verirrt hatten – und veröffentlichen Aufrufe von Besitzern, die ihre Tiere bei dem Beben verloren hatten.

Mit Hashtags wie #revistamigrieta („Prüfe meine Risse“) bieten sich Architekten an, kostenlos Schäden in Häusern zu begutachten – und klären Bürger mit Illustrationen in sozialen Netzwerken auf, welche Risse in der Wand Warnungen sind, dass ein Haus akut einsturzgefährdet ist. „Helft mir, die Schutzkräfte der Stadt melden sich nicht“, wandte sich etwa Romulo Gomez Lopez an das Projekt, mit einem Foto, auf dem eine Wand mit einem quer verlaufenden Riss zu sehen ist. Solche Crowdsourcing-Aktionen, die Bürger und Experten unbürokratisch zusammenführen, können weitere Katastrophen verhindern.

Wir erledigen Arbeit, die die Regierung nicht übernehmen kann

Miguel Salazar, Codeando México


In den Tagen seit dem Erdbeben hat sich der digitale Aktivismus rasant professionalisiert. Initiativen versuchen, eine Übersicht im Chaos der sozialen Netzwerke und der Hilfsmeldungen aus verschiedenen Städten zu schaffen, sie koordinieren den Bedarf an Hilfspunkten sowie Freiwilligen digital – mit virtuellen Karten und Listen, die regelmäßig aktualisiert werden.

Hilfsbereite Hacker, Programmierer und Tech-Experten organisieren sich in einem Slack-Kanal der Initiative Codeando México und entwickeln auch über Ländergrenzen hinweg gemeinsam digitale Projekte, die durch bestehende Hilfsangebote und Informationen navigieren. „Wir erledigen Arbeit, die die Regierung nicht übernehmen kann, aber wir arbeiten mit dem Staat zusammen und koordinieren uns“, sagt Miguel Salazar, der Koordinator der Erdbeben-Initiative bei Codeando México. „Wenn dieses tragische Ereignis etwas gebracht hat, dann ist es, dass wir alle unter derselben Flagge arbeiten, egal welchen Hintergrund wir haben.”

2000 Freiwillige sind dem Slack-Kanal von Codeando México inzwischen beigetreten. „Mehr als die Hälfte sind letzte Woche dazugekommen“, so Salazar. „Wir haben auch Helfer, die nicht auf Slack sind, aber zu GitHub-Projekten beitragen.“ Der Slack-Kanal ist rund um die Uhr aktiv, weil die Freiwilligen in verschiedenen Zeitzonen von der ganzen Welt aus zuarbeiten. Nicht nur Programmierer, sondern auch Social Media Manager, Projektmanager oder Designer haben sich der Bewegung angeschlossen. „Wir beweisen, dass es eine Tech-Community gibt, die bereit ist, ihre Zeit, ihren Code und ihre Energie zu investieren, um Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme zu finden“, sagt Salazar. „Es öffnen sich gerade neue Türen für Partizipation: Jeder, egal woher, egal zu welcher Uhrzeit, kann in Projekte involviert sein, die sinnvoll sind.“ 

SismoMx.org ist eine zentrale Online-Anlaufstelle für Helfer und Betroffene, es gibt einen SMS-Update-Service für Freiwillige. Auf Basis von aktuellen Bedarfslisten werden auch automatisch Zettel für einzelne Straßen oder lokale Helferposten generiert, die sich online verteilen oder ausdrucken lassen – damit nicht alles per Hand erstellt werden muss und Helfer ihre Zeit in sinnvollere Aktivitäten stecken können. Plattformen wie Como Ayudar México, „Wie Mexiko helfen“, erleichtern es Unterstützern aus dem Ausland, schneller Spenden an Hilfsorganisationen zu übermitteln, die in Mexiko Verschüttete bergen oder Häuser wieder aufbauen wollen.

Die Initiative Verificado19s mit mehr als 200 Freiwilligen, darunter auch Journalisten, prüft Meldungen aus dem Internet auf ihren Wahrheitsgehalt. Verifizierte Aufrufe postet die Gruppe auf Twitter. Auch auf einer interaktiven Karte finden Helfer und betroffene Bürger die Infos über Erdbebenhilfe und Bedarf in den betroffenen Bundesstaaten. Enttarnte Fakenews, die rund um das Erdbeben zirkulieren, werden online von dem Projekt BanFakenews in einer Übersichtsliste gesammelt.

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Das digitale Gefälle wird allerdings auch beim Online-Erdbebeneinsatz in Mexiko offenbar: Die meisten Hilfsmaßnahmen und Freiwilligen aus dem Internet konzentrieren sich auf die Hauptstadt von Mexiko und den Hauptstadtbezirk, nicht nur, weil die Erdbebenschäden dort massiv sind, sondern auch, weil dort die Notlage sichtbarer ist – nicht zuletzt durch die digitale Präsenz. Nach Oaxaca oder Morelos kam die Hilfsbrigade nicht ganz so schnell und im selben Umfang wie in der Hauptstadt. „Hier in Mexiko-Stadt gibt es viele romantische Hilfsszenen“, sagt die Freiwillige Yunuén Huana. „Aber in Oaxaca haben die Leute nichts zu essen – viele Freiwillige wollen ihre Komfortzone nicht verlassen.“ In Morelos etwa campierten Familien im Freien, Hilfsgüter kamen erst nicht an. Videos hielten dort auch fest, wie Polizisten Freiwilligen Hilfsgüter abnahmen. Inzwischen ist aber auch etwa eine digitale Bedarfsliste für Morelos entstanden, die Hilfsgüter und Freiwillige dorthin bringen soll, wo die Not am größten ist.

Das Nachbeben der Katastrophe wird noch andauern. Das Anti­-Korruptions-Netzwerk Mexicanos contra la Corrupción will jetzt den Umfang der Erdbebenschäden an Häusern vermessen. Der mexikanische Investigativjournalist Daniel Lizzáraga ruft Betroffene mit dem Hashtag #Miedificio („Mein Gebäude“) auf, Details von Schäden an ihren Häusern einzureichen – so soll eine unabhängige Datenbank der Schäden entstehen. Digitale Projekte könnten zukünftig auch tracken, ob die Spenden für Lebensmittel oder für den Wiederaufbau von Häusern tatsächlich dort ankommen, wo sie sollen – oder an anderer Stelle versickern.

Kann die Solidaritätswelle das Land verändern – oder handelt es sich nur um einen kurzen Moment der Einheit? „Vielleicht bleiben einige Stützpfeiler, die wir gerade aufbauen, bestehen“, hofft Sofia Ron, die Erfinderin der Frida-Sticker. „Ich glaube aber nicht, dass die Einheit für immer anhält, es ist eher temporär.“ Miguel Salazar von Codeando México ist dagegen überzeugt, dass das Gemeinschaftsgefühl, das das zerrissene Land gerade an einem Strang ziehen lässt, eine nachhaltigere Wirkung haben könnte. „Was gerade passiert, vereint uns nicht nur als Gesellschaft, sondern zeigt uns auch, zu was wir selbst fähig sind, wenn wir uns organisieren, und für ein gemeinsames Ziel zusammenarbeiten“, sagt Salazar. „Ich hoffe, dass wir uns diese Lektion auch für die Zukunft merken.“

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