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Deutschland braucht keine neue Digitale Agenda – sondern ein Netzwerk

von Max Biederbeck
Die Digitale Agenda der alten Bundesregierung läuft aus. Bald gibt es eine neue Regierung, und die braucht einen anderen Plan – Wenn Jamaika wirklich zusammenkommt, muss die neue Koalition im Digitalen verstehen: Es braucht ein Netzwerk. 

Wenn Thomas Prehn die Arbeitslosigkeit hacken will, plant er dafür 14 Tage ein. Der 43-jährige Direktor des Mind Lab in Kopenhagen gründet dann ein „Öffentliches Startup“: Drei Tage recherchiert er mit seinem Team aktuelle Probleme, spricht mit Betroffenen, stellt Fragen: „Wie können wir Arbeitslose im Amt besser vernetzen? Brauchen sie Mentoren? Welche Software könnte es den Beamten leichter machen?“ Aus den Antworten entwickeln Prehns Forscher Ideen, nach zwei Wochen schlagen sie dem Arbeitsminis­terium fünf Projekte vor. Drei davon setzt die Verwaltung um – bis Prehn und seine Leute einen noch besseren Weg finden.

Der Staat Dänemark hat das Mind Lab vor 15 Jahren ge­gründet. Anfangs hatte es die Auf­gabe, kreative Ideen und Design-Projekte zu fördern. Vor zwei Jahren aber verwandelte die Regierung es in einen Innovationsmotor. Seitdem dient das Lab als Schnittstelle zwischen Ministerien, Wirtschaft und Gesellschaft. International gilt es als Vorzeige-Institution, wenn es um das Thema Digitalisierung geht. „Die Welt verändert sich zu schnell für große Pläne, wir müssen die Öffentlichkeit jeden Tag mit konkreten Projekten anpassen“, sagt Prehn.

Im Jahr 2014 hat Deutschland einen dieser womöglich zu großen Pläne auf den Weg gebracht. Damals verabschiedete die Regierung Merkel ihre „Digitale Agenda“, die nun ausläuft. Sie versprach „Schnelles Internet für alle. Überall“, und „Made in Germany wird digital“. Drei Jahre später erschallen Erfolgsmeldungen aus den drei Minis­terien, die den digitalen Wandel verantworten: Der Aufbau von Strukturen für IT-Sicherheit und Startup-Förderung komme gut voran. Auch Zahlen des Digitalverbands Bitkom bestätigen: Von 121 geplanten Maßnahmen sind 81 umgesetzt.

Doch wenn man Experten fragt, sehen die großen Aufholbedarf. Sie loben zwar, dass in Deutschland die Digitalisierung endlich angepackt werde, in der Forschung, in Großunternehmen. Der Staat aber hänge immer weiter hinterher. „Für die Zukunft der Arbeit oder die digitale Bildung gibt die Agenda bei Weitem nicht genug Impulse“, sagt Gesche Joost, Internetbotschafterin Deutschlands bei der EU.

Roland Wolf, Vorstand des Unternehmer-Netzwerks German Competence Centre against Cyber Crime, mahnt: „Bei der IT-Sicherheit gibt es ein massives Gefälle zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen. Da muss noch viel getan werden.“ Und Clark Parsons, Geschäftsführer der Wirtschafts-Denkfabrik Internet Economy Foundation, glaubt: Wenn Deutschland „einen mutigen Schritt in eine erfolgreiche digitale Zukunft gehen will, braucht das Land mehr als eine Digitale Agenda“.

Wir brauchen ein Netzwerk ohne parteipolitische Agenda, das ein Bild der digitalen Gesellschaft gestaltet

Gesche Joost

Der gut gemeinte Plan von einst fängt neu entstehende Debatten heute kaum auf. Die Agenda verhandelte die Konflikte zwischen Sicherheit und Privatsphäre ebenso wenig wie die zwischen Meinungsfreiheit und Schutz des Individuums. Sie klärte auch nicht, wie digitale Bildung in den Schulen ankommen soll, oder wie die Arbeit in Zeiten zunehmender Automatisierung neu gedacht werden kann. Die Bürokratie wollte sie digitalisieren, doch wie das in der föderal organisierten Bundesrepublik funktionieren soll, ist bis heute unklar.

So kommt es, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen bei der Digitalisierung weit abgeschlagen dasteht. Das zeigt der Innovationsindikator 2017, der unter anderem vom Bundesverband der Deutschen Industrie herausgegeben wird. Die Bundesrepublik belegt darin Platz 17, weit hinter den USA und Großbritannien. Die Kritik des Indikators: Noch immer gibt es keine ausreichende Breitbandversorgung, die öffentliche Verwaltung und ein Großteil der Schulen bleiben offline. Lehrpläne spiegeln die Lebenswelt der Schüler nicht wider. Kleine Unternehmen verzichten aus Sorge vor Überforderung lieber auf Technologie, statt ihre Vorteile zu nutzen.
Was muss passieren, damit sich das ändert?

Das digitale Deutschland braucht weniger einen neuen Plan als eine neue Organisation. Ina Schieferdecker, Leiterin des Fraunhofer-Instituts FOKUS, fordert einen Strategen direkt im Bundeskanzleramt, der den Ministerien übergeordnet sein soll: „Er muss mit einem breit aufgestellten Digitalisierungsrat zusammenarbeiten, der gesellschaftliche Implikationen mitdenkt.“ So ein Rat solle nicht nur ethische Debatten verhandeln, sondern konkret beim Einsatz von Technologie helfen: „Es geht um Themen wie öffentliche IT in den Ämtern, sichere Bürgerkonten, Haftung der Softwarehersteller gegenüber ihren Kunden und Ausfalldatenbanken für Kraftwerke und Krankenhäuser. All das müssen wir gemeinsam planen.“

Für den Aufbau einer Institution für diese Herausforderungen könnte die Agenda immerhin bereits die Grundlage gelegt haben: Bis Ende des Jahres soll in Berlin das Deutsche Internet-Institut eröffnet werden (auch Schieferdeckers Fraun­hofer-FOKUS ist betei­ligt). Dabei handelt es sich eigentlich um eine Forschungseinrichtung. Doch der Auftrag des Instituts erinnert ans dänische Mind Lab. Es soll „die Gesellschaft und ihre Institutionen, Unternehmen und Politik mit praxisnahen Anwendungsmodellen“ unterstützen, so das Bundesbildungsministerium, das das Institut hauptsächlich finanziert.

Statt eine neue Digitale Agenda 2020 auszuarbeiten oder über ein eigenes Internetministerium nachzudenken, sollte die neue Bundesregierung sich auf diesen Gedanken konzentrieren: Das Internet-Institut sollte nicht nur forschen, sondern vor allem verbinden. „Wir brauchen ein Netzwerk ohne parteipolitische Agenda, das ein Bild der digitalen Gesellschaft gestaltet“, sagt Gesche Joost. Deutschland bekäme so eine Schnittstelle für alle Spieler der Digitalisierung – mit einem starken Anschluss an die Gesellschaft. Die wartet längst: 74 Prozent der Bürger sind dem think tank Nesta zufolge begeistert von den Chancen der vernetzten Welt.

Das neue Internetinstitut sollte nicht nur forschen, sondern verbinden

Ein Leuchtturm-Projekt in Berlin zeigt, wie sich der Staat mit Bürgern zusammentun kann, wenn er will: Der Prototype Fund ist ein Förderprogramm, das vom Bildungsministerium mit einem Budget ausgestattet ist und dies unbürokratisch an Projekte verteilt. So können Ideen unkompliziert umgesetzt werden, von Apps für Geflüchtete über interaktive Wahl-O-Mate bis zu Software für Freiwillige. Die Nachfrage ist enorm, das Fund-Budget musste gerade verdoppelt werden. „Große Förderprogramme schließen den Einzelnen oft aus“, sagt Julia Kloiber von der Open Knowledge Foundation, eine der Gründerinnen des Funds. „Innovation funktioniert aber nicht über einen 60-Seiten-Antrag und Wochen des Wartens.“

Projekte wie das Internet-Institut und der Prototype Fund muss die neue Regierung vernetzen. Sie sollte auch die für Schulen zuständigen Kultusministerien der Länder dazuschalten und Initiativen einbinden, die sich um Themen wie die Zukunft der Arbeit kümmern, um Netzpolitik oder IT-Sicherheit.

Solch ein Netzwerk wäre zwar ein Angriff auf althergebrachtes Ressort- und Hoheitsdenken. Es wäre aber an der Zeit, die Zuständigkeiten in Deutschland neu zu strukturieren, wenn es um die Digitalisierung geht: Die ist politisch weder ein Thema für Einzelministerien noch eine klassische Querschnitt­aufgabe – sie stellt die Organisation unseres Gemeinwesens grundsätzlich infrage. Wenn sich alle unter einem Dach finden, kann die Politik schneller verstehen, besser reagieren, vorausblickender gestalten. Im Idealfall sogar mit Hacks, wie sie das Mind Lab anstellt.

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