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Digital ist besser / Johnny Haeusler wünscht sich mehr Patina für Smartphones

von Johnny Haeusler
Es war ein Zufallsfund. Auf der Suche nach irgendwas kramte ich in einem dieser Schränke, die man eigentlich nur hat, um Dinge darin aufzubewahren, die man nie wieder braucht, aber auch nicht wegschmeißen mag.

CD-Versionen längst veralteter Betriebssyteme (für, wenn mal was ist); Verpackungen von Dingen, die man vielleicht mal verkaufen will (und für die man weder mit noch ohne Verpackung eine halbwegs erträgliche Summe bekommen würde); Unterlagen, bei denen man sich nicht sicher ist, ob man sie nun aus steuerlichen Gründen aufheben muss oder nicht. Ist das Finanzamt, oder kann das weg?

Mein alter Organizer erzählt Geschichten. Durch die Wörter und Sätze in ihm, aber auch durch seine Haptik und Form.

Johnny Haeusler

Auf der Suche nach dem erwähnten Irgendwas fiel mir ein altes, A5 großes und etwa zwei Zentimeter dickes Lederetui in die Hände, ein Filofax, ein papierbasiertes Organisationsystem für Adressen, Termine, Kalender und Notizen also. Ich nutzte so etwas, bevor es die ersten Smartpones oder, wie wir damals noch zum Apple Message Pad oder den Palm-Geräten sagten, PDAs gab (PDA stand für “Personal Digital Assistant” und war den Marketingabteilungen später vermutlich zu unpersönlich). Mich packte eine gewisse Wehmut beim Berühren des Einbands meines alten Filofax, geradezu liebevoll strich ich mit der Hand über das Leder, das von der jahrelangen Nutzung gealtert und gezeichnet war. Unter Dutzenden anderer Papier-Organizern würde ich diesen, meinen, erkennen, seine abgegriffene Form, seine Gebrauchsspuren erzählten mir Geschichten, noch viel mehr aber sein Innenleben.

Die Einträge mit verschiedenen Stiften zeigten mal mehr und mal weniger gut zu lesende, Tages- und Nachtform-abhänige Handschriften und erinnerten mich an die Momente, in denen sie entstanden waren, hektisch Hingekritzeltes wechselte sich mit sauber Gezeichnetem ab und berichtete so von meiner damaligen Gefühlslage. Durchgestrichene und neu hinzugefügte Telefonnummern und Adressen wurden zu Biografien, und immer wieder verlegte Termine nebst Randnotizen brachten wichtige Gespräche und Treffen zurück, die Jahre her waren. Dieser Organizer erzählte Geschichten. Nicht allein durch die in ihm enthaltenen Worte und Sätze, den Content also, sondern durch Haptik, Form und indivuelle Veränderung.

Leder, Stoffe, Filz sollen der kalten Elektronik Leben einhauchen, sie mit Stil altern lassen.

Johnny Haeusler

Die Erkenntnis, dass uns bestimmte Materialien wie Leder oder Naturfasern emotional besser binden können und sich auch wärmer, besser anfühlen als Glas oder Metall, ist natürlich keine neue. Nicht ohne Grund bieten alteingessene Unternehmen wie Filofax und auch junge Startups Smartphone-Einbände in Hülle (haha!) und Fülle an. Leder, Stoffe, Filz sollen dem Massenprodukt unsere ganz persönliche Note ermöglichen, sich abnutzen. Sie sollen der kalten Elektronik Leben einhauchen, sollen sie mit Stil altern lassen. Dabei wäre es doch noch viel schöner, wenn die Geräte selbst die Chance hätten, alt und eigen zu werden.

So wie das iPhone 5 eines meiner Bekannten Thomas, welches er niemals in eine Schutzhülle gesteckt hat und das durch Kratzer, kleinere Dellen und oxidiertes Metall (angeblich passierte das bei einer frühen Serie) geradezu verwahrlost wirkt. Und sehr sexy. Ungern denkt Thomas dennoch über ein neues Smartphone nach. Er will das nicht, er muss. Das Gerät ist zwar für digitale Verhältnisse mit zwei Jahren steinalt, doch es hat die Schonungslosigkeit seines Besitzers ganz offensichtlich gut überlebt, sein Ende ist also nicht deshalb in Sicht, weil es kaputtgegangen wäre. Sondern weil es technisch überholt wurde von zwei neueren Generationen des gleichen Produkts. Schnellere Prozessoren und größere Screens bieten neuer Software mehr Rechenleistung und Platz, diesen Hardware-Anforderungen kann ein zwei Jahre altes Gerät nur noch kurze Zeit gerecht werden. Thomas mag das Äußere seines Smartphones so, wie es ist, doch dessen technische, innere Gebrechlichkeit wird ihn bald zu einem Upgrade zwingen. Er wird, wie die meisten Vielnutzer digitaler Technologien, am Erneuerungszyklus teilnehmen müssen. Das ist nicht nur schade für Thomas, sondern auch unökologisch und wenig nachhaltig.

Ich wünsche mir ein Smartphone nach Baukastensystem, bei dem ich das Innere nach und nach aufrüsten kann, während das Äußere mit mir altert.

Johnny Haeusler

Gerade in Zeiten, in denen die Verpackung der Hardware nur noch kosmetischen Updates unterzogen wird (hier ein bisschen flacher, dort ein bisschen runder), wäre es sinnvoll, wenn das Gehäuse eines Smartphones die Hülle ist, und nur seine Innereien erneuert werden können. Leistungsfähigere Chips, bessere Kameralinsen, ausdauendere Batterien, mehr Speicher: Ich wünsche mir ein Baukastensystem, mit dem ich die technische Seite meines Smartphones nach und nach aufrüsten und verändern kann, das Äußere jedoch, für das ich mich entschieden habe, altert mit mir. Und bekommt dabei Patina. Ganz einfach umzusetzen scheint ein solcher Smartphone-Baukasten nicht, sonst wären Googles Project Ara, Phonebloks oder die ZTE-Studie Eco-Mobius längst aus der Konzeptphase raus und auf dem Markt. Doch sie werden kommen, die modularen Geräte, deren Äußeres wir über den Zeitraum einer Marketing-Kampagne hinaus behalten, festhalten, ankratzen und leben lassen können.

Das erfüllt meinen Wunsch nach den alternden, Geschichten erzählenden Inhaltsformen zwar noch immer nicht. Doch ich bin sicher: Auch daran wird gearbeitet, nicht nur aus ästhetischen oder mediennostalgischen Gründen. Suchergebnisse, die auf den ersten Blick ihr Alter erkennen lassen? Eine schlampig gemachte Website von einer professionellen schon am Link erkennen können? Wir werden es erleben. Und irgendwann auf der Suche nach irgendwas in einem dieser Schränke vielleicht ein sehr altes Smartphone finden, das uns schönste Erinnerungen zurückbringt. 

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