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Syriens geheime Kamera-Revolutionäre

von Max Biederbeck
Der Krieg vergisst die Menschen. Zu Beginn der syrischen Revolution 2011 rebellierten junge Syrer für die Demokratie. Davon übrig sind Bomber, Kalaschnikows, Sarin-Giftgas und Islamisten unter schwarzer Maske. Hinter den Kulissen arbeiten sie aber weiter, die Demonstranten von damals: Syriens geheime Kamera-Revolutionäre fordern das Gesicht ihres Landes zurück.

Der Schatten zögert kurz, bevor er in die Kamera spricht. „Eigentlich haben sie mich gut behandelt. Sie haben mich nicht geschlagen, nur meine Zigaretten genommen“, erklärt er. Die Handlanger des Islamischen Staats haben ihn abgeholt, sein Haus durchwühlt. Dann zwängten sie ihn in einen weißen Transporter. „Jeder hier fürchtet sich vor diesen weißen Wagen, mit denen sie die Aktivisten entführen“, erzählt der Sprecher im Dunkeln. Die IS-Leute kutschierten ihn quer durch die Stadt, sperrten ihn weg. Die ersten vier Tage gab es nichts zu essen, aber das sei normal. „Nach einer Woche zeigten sie uns dann das Video des verbrennenden jordanischen Piloten Moaz al-Kasasbeh und sagten: Freut euch! Der Tod erwartet alle Verräter.“ Blende. Schwarz.

Der erste Clip der Trilogie „Voyage to the Islamic State“ ist eine vier Minuten lange Bestandsaufnahme. Keine Hintergrundmusik, keine Erklärungen. Das Interview mit dem anonymen Aktivisten ist nur wenige Wochen alt. Filmemacher des syrischen Untergrundnetzwerks Abbounadarra drehten es mitten in der IS-Hochburg Raqqa. Gerade kämpft dort die ganze Welt. Russische Bomber, französische und amerikanische. IS-Soldaten und Assad-Infanteristen. Am vergangenen Freitag hat auch der deutsche Bundestag beschlossen, Tornado-Aufklärer und eine Fregatte nach Syrien zu schicken.

Es fällt in diesem internationalen Battle Royale schwer, den Überblick zu behalten. Westliche Medien schicken keine Reporter mehr. Zu gefährlich. Die wenigen, die sich trauen, sind geradezu vernarrt in den Kampf. In den Islamischen Staat, in die Assad-Truppen und die kurdischen Peschmerga. Gut gegen Böse — War Porn. Wer alternative Bilder sehen will, muss auf verwackelte YouTube-Videos aus dubioser Quelle zurückgreifen. Quelle Internet. Das geht seit Jahren so. Und doch taucht jeden Freitag auch ein neues Video von Abbounadarra auf. Mal aus den Gebieten des Regimes, mal aus Städten des IS, mal ganz woanders her.

Für Charif Kiwan ist das keine Frage des Muts, sondern eine der Würde. 2010 hat er das Filmnetzwerk mitgegründet, er ist das einzige Mitglied, das öffentlich auftritt. Wie viele Mitglieder die Gruppe hat, möchte Kiwan nicht sagen. „Wir wollen wie Geister sein, die überall auftauchen können. Beseitige einen von uns und viele andere werden folgen“, erklärt er. Eine Zahl gibt es aber doch: Über 374 Videos auf Vimeo.

Wir wollen wie Geister sein, die überall auftauchen können. Beseitige einen von uns und viele andere werden folgen.

Charif Kiwan, Gruppe Abbounadarra

Die Filme bezeugen den syrischen Alltag. All das, was hinter dem Schatten des Kriegs und der Tragödie passiert. In den Clips kommen die Stimmen zu Sprache, die neben den Bomben, Chemieangriffen und schwarzen Flaggen kaum noch wahrnehmbar sind. Das ist den Underground-Filmemachern besonders wichtig und oft fühlen sie sich von der Berichterstattung missverstanden. „Es geht hier nicht um uns“, sagt Kiwan. Das Netzwerk wolle der Welt zeigen: Die Revolution ist noch nicht vorbei. Die Syrer selbst sind in all dem Chaos auch noch da. Sie vor die Kamera zu bringen, ist gefährlich.

„In Damaskus kontrolliert das Regime den Datenverkehr ins Internet mithilfe von russischen und iranischen Beratern“, sagt Kiwan. Verbindungen für den Upload von Videomaterial sind nur von sicheren Orten möglich. Rückzugsorte gibt es wenige. Schon zu Beginn der Revolution sind die meisten Netzwerke zusammengebrochen. In vielen Gebieten des IS gibt es gar kein Netz. Hacker-Netzwerke wie Telecomix versuchten in der Vergangenheit zwar, Aktivisten ins Netz zu bringen. Dazu brauchen sie aber Router vor Ort. Wer sich dabei erwischen lässt, sich einen zu beschaffen oder zusammenzubasteln, landet in einer IS-Zelle. Oder schlimmer.

Der Filmemacher aus Raqqa schmuggelte sein Video analog aus der Stadt. Abbounadarra-Aktivisten wie er hatten Jahre, um sich an den Krieg anzupassen. Der Kameramann kennt viele der IS-Leute und weiß, wann sie patrouillieren, wie sie denken. „Wir waren früher Nachbarn und Freunde, wir kennen uns“, wie Kiwan sagt. Der Mann nahm also das Video, besorgte sich ein sicheres Fahrzeug und verließ die Stadt. Alles eine Frage der Organisation. „Viele unserer Leute führen ein Doppelleben“, sagt Kiwan. Tagsüber leben sie unter IS und Regime. Nachts drehen und schneiden sie die Wahrheit.

Aber was ist die Wahrheit? Zu Beginn der Revolution war das noch einfach zu beantworten. Damals veröffentlichte das Netzwerk seine ersten zwölf Kurzfilme, die Mitglieder gingen wie alle anderen gegen das Regime auf die Straße. Ihr erster Clip zeigt einen alten Handwerker, der einem Radiosender Assads zuhört und seinen Ärger nicht unterdrücken kann. „Demonstranten sind keine Terroristen“, schnauzt er den Radiosprecher an (aus dem arabischen übersetzt von Kiwan). Der aufgenommene Wutanfall wurde zum vollen Erfolg, die Unterstützung für Abbounaddarra wuchs sprunghaft. Dann wurde aus dem Aufstand gegen das Regime ein Krieg und die Filmemacher drehten unter immer unklarer werdenden Verhältnissen weiter.

Vor zwei Jahren begleiten sie eine Frau, die jeden Tag gegen den IS auf die Straße geht. „The Women in Pants“ heißt das Video. Aber diesmal gibt es keine Welle der Sympathie mehr. „Leute haben durchaus versucht, Widerstand gegen ISIS zu leisten“, sagt Kiwan. „Aber die Mehrheit schaute nicht mehr hin.“ Der Widerstand der Revolution, er wanderte hinter verschlossene Türen — und blieb dort.

Wir können nie sicher sein, ob wir am kommenden Freitag noch ein Video schaffen.

Charif Kiwan, Gruppe Abbounadarra

„Wir können nie sicher sein, ob wir am kommenden Freitag noch ein Video schaffen“, sagt Kiwan. Insgesamt wirkt der Filmemacher frustriert. Von der Berichterstattung westlicher Medien, die er immer wieder als „effekthascherisch und entmenschlicht“ beschimpft. Oft nimmt er auch den Begriff Orientalismus in den Mund — die Wahrnehmung des nahen Osten in Form von Klischees des Westens. Gleichzeitig mangele es Abbounadarra an finanzieller Unterstützung durch westliche Stiftungen. Zwar wurden Filme schon auf dem Sundance Festival gezeigt, auch auf der Documenta 14 werden Stücke des Netzwerks gespielt und es kommt viel Lob von Menschenrechtlern.

„Man kann ein paar Minuten hinter die Schlagzeilen schauen und einen Eindruck des Schmerzes und der Auswirkungen auf jeden einzelnen bekommen“, sagte Suzanne Nossel, früher im Vorstand von Humans Rights Watch, zur New York Times. Viel zu bringen scheint das den Filmemachern aber nicht. „Wir brauchen mehr Leute, Equipment“, klagt Kiwan. Denn weitermachen wollen sie bei Abbounaddara. Die Revolution sei, wie gesagt, noch nicht vorbei. „Ich freue mich darauf, wenn ich endlich Leute zu unseren Vorführungen nach Damaskus einladen kann. Inschallah.“ 

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