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Die digitalen „Monuments Men“ kämpfen gegen die Verwüstungen durch den IS

von Max Biederbeck
Nur in der Cloud können wir unsere Kultur noch beschützen. Die Non-Profit-Organisation CyArk sieht sich als Speerspitze einer neuen Bewegung, die genau das glaubt: Technik soll eine Antwort liefern auf die Zerstörungswut des Islamischen Staats (IS) und auf den weltweit eskalierenden Schwarzmarkt mit Artefakten und Kunstwerken. Aber die Retter müssen sich beeilen.

Es gibt Tage, da fühlt sich Ross Davison einfach nicht ernstgenommen. Vor Kurzem sollte er Teilnehmern eines Workshops in Indiana die Zukunft ihrer Jobs erklären. Ingenieure, Historiker, Archäologen — und er, Davison, ein Surfer-Boy aus Santa Cruz, 26 Jahre alt und gerade frisch von der Uni. So ein neunmalkluger, der irgendwas Verschrobenes mit Unterwasser-Vermessungen studiert hat. „Die dachten, von richtiger Arbeit hätte ich noch keine Ahnung“, erinnert er sich. Aber die Forscher unterschätzten ihren Lehrer. Nicht umsonst finden andere Kurse von Davison im Irak statt, im Libanon und in Afghanistan. Dort reißen sie sich um sein Wissen. Bei seiner letzten Reise nach Pakistan quetschten sich mehr als 30 Teilnehmer in Davisons Vortrag.

Es kamen vor allem Forscher aus der Region, Studenten und Aktivisten — Locals, die sich vor Ort auskennen. „Sie konnten es gar nicht abwarten, die Technik einzusetzen, die ich ihnen gezeigt habe“, erzählt Davison. Eine Studentin wollte damit sofort ein archäologisches Grabungsgebiet retten, das von Kämpfern der radikal-islamischen Taliban kontrolliert wird.

Die junge Frau ist Teil einer neuen Generation an BeschützerInnen, die gerade als digitale „Monuments Men“ bekannt werden. Mit dem Namen wurden amerikanische Soldaten bezeichnet, die im Zweiten Weltkrieg gestohlene Kunstschätze von den Nazis zurückerbeuteten. Das Ziel der digitalen Monuments Men und Women von heute ist nicht weniger bedeutend als damals: die Kultur dieser Welt vor der Zerstörung bewahren.

Davison versorgt die neuen On-the-Ground Experten im Auftrag von CyArk mit Technik und bildet sie aus. Die Non-Profit-Organisation hat sich der Digitalisierung des Weltkulturerbes verschrieben. Binnen fünf Jahren will sie 500 Kulturstätten abscannen und als 3D-Modell ins Netz stellen. Bei leicht zugänglichen Zielen wie dem Brandenburger Tor oder dem antiken Korinth in Griechenland hat das schon geklappt. Schwieriger wird es in Krisengebieten, zerfallenden Staaten und Autokratien.

Zum Großteil vernichtet: Anfang September haben IS-Kämpfer die antike Stadt Palmyra zerstört. Im Internet leben ihre Schätze dennoch weiter.

Zum Einsatz kommt alles, was die High-Tech-Branche zu bieten hat: 3D-Scanner, Drohnen jeder Größe, 360-Grad Kameras und 3D-Drucker, intelligente Software und Virtual Reality Systeme. Das Interesse ist groß, zur Jahreskonferenz der Organisation in Berlin kamen knapp 250 Botschafter, Regierungsbeamte und Experten aus 35 Ländern.

In Ländern wie Syrien, Irak oder Libyen kämpfen tausende gegen die Zerstörung von historischen Stätten. Sie arbeiten gegen die Zeit, gegen die Umwelt, gegen Naturkatastrophen und im Moment vor allem gegen den Krieg. Seit der IS mit der massenhaften Zerstörung von historischen und religiösen Kulturzentren begonnen hat, ist die Bedrohung noch größer geworden. Kaum eine Woche vergeht, in der kein neues YouTube-Video mit explodierenden Statuen und Abrisshämmer schwingenden Terroristen auftaucht. Davison und seine Schüler wollen mit einer geheimen Offensive darauf antworten — und bekommen dabei Unterstützung aus Industrie und Politik.

Francesco Bandarin hat seinen Vortrag über die Zerstörung gut vorbereitet. Schier endlose Bilderreihen schickt der ehemalige Leiter des UNESCO World Heritage Centre über den Projektor. Die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 79 v. Chr. Das Niederreißen der L'Abbaye de Cluny durch französische Revolutionäre. Die Vernichtung von Städten wie Coventry oder Dresden im Zweiten Weltkrieg. „Das hat nicht erst mit dem Islamischen Staat angefangen“, sagt er. Aber die Zerstörung habe durch die Vielzahl an bewaffneten Konflikten auf der Welt eine neue Dimension bekommen. „Wars are blind“, sagt Bandarin.

Spricht man mit Experten und Aktivisten, wird schnell klar: Was getan wird, reicht nicht. Neben der Zerstörung von Kulturstätten durch Luftangriffe und Bodengefechte, spielt vor allem „Looting“, also Plünderung eine große Rolle. Konkrete Zahlen kennt keiner, der Schwarzmarkt mit Artefakten ist ähnlich undurchsichtig wie das Geschäft mit illegalen Waffen und Drogen. Als sicher gilt: Der IS handelt mit erbeutetem Kulturgut. Es ist für die islamistischen Kämpfer nach dem Erdöl eine der wichtigsten Einnahmequellen.

Ein globales Reporting-System von Interpol existiert zwar, ein entsprechendes UNESCO-Abkommen gibt es seit Jahrzehnten, aber damit werde man nicht Herr der Lage, sagt Bandarin. „90 Prozent der Ware kommen aus nicht registrierten Fundorten.“ Der IS plündert solche Stätten und dann zerstört er sie, um seine Spuren zu verwischen. Die Artefakte und Kulturstätten sind dann verloren.

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Wenn es nach dem Willen der Digital Monuments Men geht, werden die Spuren bald nicht mehr verwischen. Die Aktivisten sind bewaffnet mit Notizblöcken, Kameras und Smartphones. Sie dokumentieren alles, was noch da ist. Allein der Besitz dieser einfachen Werkzeuge kann sie das Leben kosten. „Der IS will mit der Verwüstung auch Erinnerungen vernichten“, erklärt Stefan Weber vom Museum für Islamische Kunst in Berlin. Jeder, der sie bewahren will, gilt als Feind und wird von der Terrororganisation bestraft. „Wenn wir es schaffen, die Erinnerungen etwa mit Hilfe von 3D-Scannern zu konservieren, dann können wir dieser Amnesie entgegenwirken“, sagt Weber. „Und die Erinnerung ist wichtig, denn ohne arabische Laute gäbe es zum Beispiel keinen Rock'n'roll.“

CyArk hat deshalb im Oktober ein neues Projekt verkündet, in dessen Auftrag auch Davison durch die Welt reist. „Project Anqa“ ist eine Reaktion auf die Verwüstung der alten syrischen Stadt Palmyra und des irakischen Mosul Museums im Frühjahr 2015. „Die Unruhen erfordern sofortiges Handeln“, sagt Gustavo Araoz, der im Beirat von CyArk sitzt. Und kaum einer kennt sich mit der Technologie, die dazu nötig ist, so gut aus wie Davison.

Zur Unterwasser-Archäologie kam er durchs Tauchen und war schnell fasziniert von der Methode zur Sonar-Vermessung, mit er erstmals im roten Meer arbeitete. „Damit können ohne Probleme 2D- und 3D-Aufnahmen vom tiefsten Grund gemacht werden“, sagt Davison. Der Schritt aus dem Wasser heraus an Land sei klein gewesen, das Potential der Technik hingegen riesig.

„Vor fünf Jahren mussten wir die Geräte noch mit Dieselmotoren betreiben. Am Tag schaffte ein Scanner vielleicht acht Scans mit zehn Millionen Bildpunkten.“ Heute nutzt man handgroße Batterien und gescannt werden zehn Milliarden Bildpunkte pro Sekunde. Auf einen Tripod installiert schaffen Hochleistungsscanner auf diese Weise komplexe 3D-Aufnahmen von Gebäuden. In neueren Techniken sorgen Algorithmen dafür, dass selbst zum Teil zerstörte Ruinen im digitalen wieder komplett hergestellt werden können. Auch Veränderungen kann die Software erfassen, etwa wenn sich Moscheen in Kirchen verwandeln und umgekehrt. „Diese Technologie ist noch sehr teuer, deswegen zeigen wir den Aktivisten vor Ort auch andere Möglichkeiten“, erklärt Davison. Doch allein schon die Anreise zu diesem Ort kann ein Problem sein.

Sein nächster Kurs wird in einer Woche in Beirut starten und auch Samir Abdulac wird dabei sein. Er arbeitet für das International Council on Monuments and Sites (ICOMOS), kämpft seit Jahren um den Erhalt von Kulturstätten. Er will nicht sagen, welche oder wie viele Experten genau kommen werden. Öffentlichkeit ist gefährlich. Nur so viel: Sie alle kommen aus Syrien, werden heimlich die Grenze zum Libanon für einige Tage überqueren und dann konkrete Ziele besprechen.

„Eine wichtige Technik, die ich ihnen beibringe, ist die Fotogrammetrie“, erklärt Davison. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Methode für Grafik-Fachleute, durch den technischen Fortschritt können Aktivisten sie mittlerweile aber auch mit Kleinbildkameras einsetzen. Aus den Fotos kann mithilfe von Software ein dreidimensionales Objekt gebaut werden. Die Kulturgüter werden sozusagen als digitale Kopie aus dem Krisengebiet geschmuggelt.

CyArk wertet das Material aus und sichert es gemeinsam mit Partnern aus der Privatwirtschaft. Terrabytes an Video-, Foto- und Scan-Daten werden auf Festplatten mit dem Flugzeug in die USA geflogen und auf Servern der Firma Seagate gespeichert. Dann stellen die Experten von CyArk physische „Golden Copies“ her, die im Server-Bunker des Unternehmens Iron Mountain gelagert werden. 60 Meter unter der Erde, in der Anlage, in der auch die Mastertapes von Elvis Presley liegen. Dort sollen sie sicher sein.

Es stellt sich die Frage, ob da vielleicht zu viel Weltkultur in die Hände von privaten Unternehmen gelegt wird. Francesco Bandarin von der UNESCO sagt nein: „Wir sind alle Teil einer Aufgabe und haben eine öffentliche Mission: Die Daten an sich bleiben frei zugänglich.“

Andere Gruppen setzen mehr auf die Internet-Community als auf geheime Datenschmuggler. Das „Project Mosul“ etwa schickt keine Teams sondern lässt die Crowd für sich arbeiten. Die kann Fotos auf der Plattform der Organisation hochladen. Außerdem sammelt „Project Mosul“ Datenmaterial beim Fotodienst Flickr. Je größer die Masse an Bildern, desto genauere 3D-Projektionen von gefährdeten Orten lassen sich anschließend zusammensetzen. Fehlen Informationen, werden sie von den Seitenmachern rekonstruiert. Das ist wissenschaftlich nicht ganz sauber, aber besser als nichts. „Ich habe elf Jahre lang in Jordanien gelebt und die Zerstörung rückte so nah an die Grenze, dass wir handeln mussten“, sagt Mitgründer Matthew Vincent. Mittlerweile verarbeitet seine Plattform Bilder aus der ganzen Welt.

Wieder andere Firmen entwickeln diese 3D-Konstruktionen zu Virtual-Reality-Welten weiter. David Finsterwalder gründet gerade das Startup realities.io, ein Unternehmen für virtuellen Tourismus. „Wir müssen diese Welten wieder erlebbar machen, anstatt sie nur zu konservieren“, erklärt er und ist überzeugt von der anstehenden Revolution durch Virtual Reality: „Das ist nicht nur ein Nischending für die Museen sondern wird virtuelles Reisen in jedes Wohnzimmer bringen.“

Bleibt die Frage, ob eine digitale Kopie wirklich den selben kulturellen Wert besitzt wie das Original. Kann ein Drohnenflug am Computer den eigenen Gang durchs Brandenburger Tor ersetzen? Stefan Weber vom Museum für Islamische Kunst sagt: „Kultur kann nicht nur eine Abbildung sein, sondern muss im Kontext existieren.“ Auch ein 3D-Modell müssen Experten erklären und einordnen: in Klassenzimmern, in Museen, im Internet. Dennoch biete die Digitalisierung die Möglichkeit, zu bewahren, was zerstört wird, und Orte zugänglich zu machen, die es nicht mehr sind.

Ross Davison sieht sich die Show lieber vor Ort an. Nach dem Kurs in Beirut wird er nach Bagdad weiterfliegen, dann geht es nach Jerusalem. „Gerade in Jerusalem wird mit Kultur viel politischer Kampf um die Frage ‚Wer war zuerst da?‘ betrieben“, sagt er. Das sei das Schöne an seiner Technik. Sie sei völlig neutral, die Daten könne jeder interpretieren, wie er will. Sie seien selbst Kultur. 

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