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„Marvel's Jessica Jones“ ist eine düstere, erschreckend realistische Rape-Revenge-Story

von Chris Köver
Die Heldin liegt in einem zerwühlten Bett, der Mascara verschmiert, links von ihr zwei leere Whiskeyflaschen auf dem Nachttisch. Jessica Jones ist im Arsch — das soll die Zuschauerin spätestens nach den ersten zehn Minuten der neuen Netflix-Marvel-Serie verstehen. Die Gründe dafür machen die Serie zur realistischsten Comic-Adaption bislang.

Nach weiteren zwanzig Minuten ist außerdem klar: In diesem Film Noir sind die Rollen vertauscht. Der verzweifelte Held, das ist Jessica Jones selbst. Von der Femme Fatale ist erst mal weit und breit nichts zu sehen.

Jessica (Krysten Ritter) war wohl irgendwann mal eine Art Superheldin, das wird schnell klar. Sie ist übermenschlich stark, kann aus dem Stand in den zweiten Stock springen und Vorhängeschlösser abpflücken als seien sie Blumen. Das spielt allerdings keine Rolle mehr, denn Jessica ist aus dem Hero-Business ausgestiegen. „Hab's versucht, hat nicht funktioniert“, sind die einzigen Worte, die sie dazu verliert. Heute betreibt sie aus ihrem ranzigen Apartment heraus eine Detektei, stapft mit tief ins Gesicht gezogenen Hoodie durch Manhattan und fotografiert Verheiratete beim Fremdgehen. Menschlichen Kontakt beschränkt sie aufs Nötigste, außer ihrem Junkie-Nachbarn und den Kunden meidet sie alle, selbst ihrer besten Freundin geht sie aus dem Weg.

Irgendetwas ist vorgefallen und es war traumatisch, noch immer sagt Jessica zur Beruhigung Straßennamen auf, um gegen ihre Panikattacken anzukämpfen, wenn die Erinnerung zurückkehrt. Den Rest der Zeit verarztet sie sich selbst mit großen Mengen von billigem Whiskey.

Was genau passiert ist, um diese Frage dreht sich eigentlich fast die gesamte erste Staffel der Serie, die nach „Daredevil“ als zweite von vier Marvel-Comic-Adaptionen auf Netflix startet. Klar ist auf jeden Fall: Die Düsternis dieser Story speist sich nicht aus einem Paralleluniversum oder dem Kampf mit den Overlords anderer Planeten. Das Böse in „Jessica Jones“ ist viel alltäglicher: Jessica hat einen Stalker, ein Mann namens Kilgrave (David Tennant), der sie monatelang in seiner Gewalt hatte, dazu zwang Schreckliches zu tun — und jetzt zurückgekehrt ist, um sie wieder zu verfolgen. Weil es eine Superhelden-Geschichte ist, hat dieser Mann ebenfalls Superkräfte: er besitzt die Macht, in die Köpfe anderer Menschen einzudringen und ihren Willen zu kontrollieren. Was genau er mit Jessica getan hat, das blitzt nur auf, aber auf der anderen Seite dieses Traumas steht die Jessica Jones, die wir kennenlernen: Eine Frau, die überlebt hat, allerdings schwer angeschlagen.

Die wahren Superkräfte gewinnt man heute nicht mehr durch bionische Gliedmaßen oder einen radioaktiven Unfall.

Die Film Noir-Folie ist eine Möglichkeit, um diese Geschichte zu lesen. So sieht etwa der Hollywood Reporter Jessica Jones als die verzweifelte einsame Heldin, und Kilgrave als ihren Homme Fatale, die männliche Version des schwarzgekleideten Verführers, der sie erst anmacht und dann zerstört.

Sicher, die Referenzen sind da: Jessica als verschrobene Detektivin mit einem Büro, das aussieht wie aus der Kulisse eines Humphrey-Bogart-Films. Aber um diese Lesart durchzuhalten, muss man schon recht vieles ignorieren. Kilgrave, das wird in immer längeren Rückblenden und aus Jessicas Erzählungen deutlich, hat sie nicht verführt. Er ist gegen ihren Willen in ihr Bewusstsein eingedrungen, das ist eine Vergewaltigung. Wenn also schon eine TV-Trope herhalten muss, dann ist es die Rape Revenge-Geschichte: die vergewaltigte Frau, die gerächt werden muss, um ihre Ehre wiederherzustellen. Nur rächt sich die Frau in diesem Fall selbst. Jessica steigt nicht in den Flieger nach Hong Kong — ihr erster Impuls, als sie von Kilgraves Rückkehr erfährt. Sie bleibt und begibt sich auf die Jagd nach ihrem Misshandler. Irgendwie scheinen die Superheldinnen-Reflexe doch noch aktiv zu sein: Sie weiß, dass Kilgrave sich weitere Opfer suchen wird – und dass sie die einzige ist, die überhaupt eine Chance gegen ihn hat.

Mit Erwartungen ist es so eine Sache und wenn nach einer kleinen Ewigkeit jetzt endlich die erste Marvel-Superheldin eine eigene Story bekommt, dann ist es schwer die Erwartungen nicht hochzuschrauben. So auch geschehen im Vorfeld von „Jessica Jones“: Noch vor den ersten Trailern sind Thesenpapiere dazu erschienen, warum die Serie „Daredevil“ noch überbieten, warum Jones die coolste, stärkste, feministischste Marvel-Adaption bislang sein werde.

Wie alle überzogenen Erwartungen konnten auch diese eigentlich nur enttäuscht werden, in den ersten Folgen vor allem dadurch, dass sich die Geschichte fast ausschließlich um Jessicas Trauma dreht. Außer diesem definierenden Moment und der Fixierung auf Kilgrave scheint es in Jessicas Leben fast nichts zu geben. Selbst die Beziehung zu ihrer besten Freundin Trish, einer Radiomoderatorin, dreht sich nur um Kilgrave. Es ist als würde er nicht nur Jessica, sondern die gesamte Erzählung in seinen Sog ziehen. Da bringt Marvel uns endlich eine Superheldin, und dann besteht diese Serie nur knapp den Bechdel-Test? Es gibt tatsächlich kaum Szenen in dieser ersten Staffel, in denen Jessica mit einer anderen Frau über etwas anderes als einen Mann spricht.

Warum sollte ausgerechnet diese eine Serie das schaffen, was alle anderen verbockt haben?

Aber auch darüber hinaus bleibt Jessica, trotz physischer Superkräfte, erstaunlich machtlos. Die Anwältinnen aus „Damages“, Carrie Mathison als CIA-Agentin in „Homeland“, selbst Power-Wife Claire Underwood aus „House of Cards“, sie alle haben so viel mehr Mittel zur Hand als die abgebrannte Jessica. Ein Auto hochheben oder Typen bei der Gurgel packen zu können, ist zwar nett — aber ziemlich ineffektiv im Vergleich zu einer starken Anwaltskanzlei im Rücken, einer Geheimdienst-Karriere oder Zugang zu den richtigen mächtigen Verbündeten. Die wahren Superkräfte, das wird beim Zuschauen schmerzhaft deutlich, gewinnt man heute nicht mehr durch bionische Gliedmaßen oder einen Unfall mit radioaktivem Material.

Das alles ist ernüchternd. Die Frage ist aber natürlich: Warum sollte ausgerechnet diese eine Serie alle Erwartungen erfüllen müssen, die all die anderen Superhelden-Stories nicht mal ansatzweise bedienen? Warum soll ausgerechnet „Jessica Jones“ alles richten, was in den „Avengers“, „Thor“ oder „Iron Man“ verbockt wurde? Immerhin hat Showrunnerin Melissa Rosenberg auf Basis des Comics von Brian Michael Bendis eine Heldin geschaffen, die nicht in einem weit ausgeschnittenen Latexkostüm durch die Häuserschluchten springt, die kaputt und lakonisch sein darf und in klobigen Stiefeln, dreckigen Jeans und Kapuzenpullovern ihr Werk verrichtet. Und die, wenn sie wütend wird, auch mal eine Heizung von der Wand reißt und erwachsene Männer durch den Raum wirft wie Müllsäcke.

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Das dunkle Emo-Girl, das die Welt retten soll, sich aber vor allem erst mal vor sich selbst retten muss: So viel Fallhöhe haben wir seit „Buffy The Vampire Slayer“ in einer Serie nicht mehr bekommen. Wir sind eben enttäuscht, weil wir uns noch mehr erhofft hatten. Aber vielleicht ist das auch schon eine Menge.

„Marvel's Jessica Jones“ startet am 20. November bei Netflix. 

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