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Dieser Künstler macht Störungen zum politischen Statement

von Johanna Wendel
Exquisite Errors ist ein Buch voller Fehler. Schöner Fehler. Der Künstler Barry Van der Rijt will mit seinem Bilderband auf den Umgang mit psychischen Krankheiten und deren Diagnosen aufmerksam machen.

Manchmal braucht es jemanden, der einen neuen Blickwinkel aufzeigt und außerhalb des Rahmens denkt. Wenn daraus auch noch Kunst entsteht, umso schöner. Bei Barry van der Rijt wurde selbst vor einigen Jahren ein so genanntes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) diagnostiziert. Daraufhin begann er, sich damit zu beschäftigten wie psychische Erkrankungen kategorisiert werden. Van der Rijt war erschrocken über die kalte Einordnung, die so wenig Platz für  Menschen lässt. Was anders ist und damit nicht normal, wird als falsch eingestuft – vor allem bei Kindern schrecklich, wie Van der Rijt findet. 

Er entdeckte die schönen Seiten des Falschen auch bald in anderen Dingen und machte ein Projekt daraus. Übertragungsfehler von Videos sehen auf einem Computerbildschirm immer anders aus, keines ist wie das andere. Wer dabei grisselige Schneesturmbilder vor sich sieht, liegt klar daneben. Aus den Bildern entstand nun ein Sammelband namens Exquisite Errors.

Im WIRED-Interview erzählt Barry Van der Rijt, wie er mit seiner Diagnose umging und warum er sein Leben mit Mitte Dreißig noch einmal komplett veränderte. 

WIRED: Wie hast du reagiert, als du deine ADHS-Diagnose bekommen hast?
Van der Rijt: Zuerst war ich erleichtert. Ich dachte mir: Das war also die ganze Zeit über mein Problem und nun werden sich alle meine anderen Probleme lösen. So war es aber natürlich nicht. Ich bekam erst einmal Medikamente und fühlte mich wie ein Zombie, die Zeit nach der Diagnose war kein schöner Lebensabschnitt. Mittlerweile weiß ich die Stärken meines Gehirns zu nutzen. Nur weil ich anders denke, heißt das nicht, dass etwas mit mir nicht stimmt. Ich glaube einfach nicht mehr an meine Diagnose.

WIRED: Du scheinst schon viel darüber nachgedacht zu haben. Viele Menschen bekommen diese Diagnose bereits im Kindesalter. Wie alt warst du?
Van der Rijt: Ich habe die Diagnose mit 28 Jahren erhalten, ich war zum Zeitpunkt der Diagnose also schon ein erwachsener Mann. Aber das Problem lag eben nicht in meinem Kopf, sondern in meinem Lebensstil. Es fühlte sich an, als hätte ich die ganze Zeit über eine Maske getragen und diese Maske begann mir wehzutun. Jetzt bin ich Künstler und die Art, wie mein Kopf arbeitet, stört mich nicht mehr. Stattdessen kann ich meine Gedanken jetzt dazu nutzen, schöne Dinge zu schaffen. Alle Menschen, die eine Diagnose erhalten haben, sollten versuchen, ihre Stärken kennenzulernen, anstatt sich darüber Gedanken zu machen, was ihnen fehlt.

WIRED: Wäre es besser, gar keine psychischen Krankheiten mehr zu diagnostizieren, weil es Menschen einen Stempel aufdrückt, den sie nicht verdienen?
Van der Rijt: Ich denke, dass die Diagnosen oft falsch sind. Trotzdem gibt es natürlich ernste psychische Krankheiten, die festgestellt werden müssen, vor allem wenn die Betroffenen anderen Menschen mit ihrem Verhalten schaden könnten. Allerdings werden zu viele Kinder mit Diagnosen gelabelt. Dabei sind sie nur etwas anders als ihre Mitschüler, in meinen Augen sind sie nicht psychisch krank.

WIRED:Was sollte sich deiner Meinung nach am jetzigen psychiatrischen System ändern?
Van der Rijt: Kinder sollten keine starken Medikamente bekommen. Ich habe zwei Kinder und einige ihrer Mitschüler bekommen Ritalin verabreicht. In den Niederlanden gibt es eine Verbotsliste von bestimmten Stoffen und Ritalin ist darauf verzeichnet. Fragt man Eltern, ob sie ihrem sechsjährigen Kind Speed geben würden, antworten sie natürlich mit Nein, aber Ritalin hat den gleichen Inhaltsstoff. Die Medikamentenindustrie versucht das zu verschleiern. Anstatt eine Störung zu sehen, sollte man die Stärken dahinter erkennen und sagen: Du bist anders, das bedeutet, deine Stärken liegen woanders. Im jetzigen Schulsystem geht es nur darum, ob man nun gut in Mathe oder Sprachen ist, aber was ist mit Kindern, die ein besonderes Gespür für Musik haben? So wie es jetzt ist, werden wir es nie herausfinden.

WIRED: Du hast gesagt, dass du nach deiner Diagnose sehr verunsichert warst. Was hast du dann getan, um dein Leben daraufhin zu ändern?
Van der Rijt: Ich war sehr deprimiert und unzufrieden mit meinem Beruf im IT-Bereich. Dazu kam, dass bei meinem damals vierjährigen Sohn ein Loch im Herzen festgestellt wurde. Alles schien falsch zu laufen: Mir geht es schlecht, ich arbeite in einem Beruf, den ich nicht mag und mein Kind könnte sterben. Was mache ich eigentlich mit meinem Leben? Ich habe mich kurzerhand entschieden, meinen Beruf zu ändern und meinen Job in der IT aufzugeben. Ich begann an einer Kunsthochschule zu studieren. Einer der Dozenten bemerkte mich, sagte mir, dass ich sehr viel Potenzial hätte und unterstützte von diesem Zeitpunkt an meine Arbeit. Ich hatte wieder das Gefühl, mein Leben leben zu können, mich mit Menschen zu umgeben, die ich wirklich mag.

WIRED: Kannst du erklären, wie die Bilder für Exquisite Errors entstanden sind?
Van der Rijt: Mir fielen die Bilder das erste Mal 2012 zum Ende meines Studiums auf. Sie sind entstanden, als ich versehentlich das Kabel meines Computerbildschirms leicht herauszog und das Bild von der lückenhaften Übertragung flimmerte. Nachdem ich die ersten paar Sekunden von den entstandenen Bildern total hin und weg war, dachte ich mir: Das muss etwas zu bedeuten haben. Es war etwas, dass ich zuvor noch nie gesehen hatte und vermutlich auch die meisten anderen Menschen nicht. Ich beendete mein Studium und nach einer Auszeit begann ich diese Bilder zu sammeln. Jeder könnte diese Bilder selbst erzeugen. Sie entstehen einfach durch Rein- und Heraussziehen des Kabels oder leichtes Hin- und Herwackeln. Es ist kein spannender oder romantischer Vorgang, über den ich tolle Geschichten erzählen kann. 

 

 

WIRED: Aber es ist ein wichtiger Aspekt, wie die Bilder entstanden sind.
Van der Rijt: Nein, ist es überhaupt nicht. Das Interessante daran ist, wie sie am Schluss aussehen und das kann ich auch nicht kontrollieren. Das ist für mich genauso überraschend wie für jeden anderen auch.

 

WIRED: Du hast eine eigene Erklärung zu jedem Bild gemacht und jeden Streifen gezählt. Das sieht nach sehr viel Arbeit aus und man fragt sich, was das bringt.
Van der Rijt: Es soll an das „Diagnostic And Statistical Manual of Mental Disorder (DSM)“ erinnern, ein Buch, das Beschreibungen aller anerkannten psychischen Störungen auflistet. Mein Buch nenne ich „Diagnostic Manual of Codec Order (DMCO)“. Das ist eine Kritik an der Arbeit der DSM-Autoren, weil ich das Manual für sehr gefährlich und irreführend halte. Für jedes Anderssein gibt es eine Krankheit. Man sollte bedenken, dass in den Achtzigerjahren Homosexualität noch im DSM verzeichnet war. 

WIRED: Ist dir wichtig, dass die Betrachter deine Bilder als Kunst sehen?
Van der Rijt: Kunst sollte für mich zwei essenzielle Dinge beinhalten: Der Kunstgegenstand sollte schön oder ansprechend sein, aber eben auch eine Botschaft enthalten. Ich möchte, dass die Betrachter beides darin erkennen.

WIRED: Siehst du Exquisite Errors als Kunst, die du selbst geschaffen hast?
Van der Rijt: Ja. Ich kann zwar nicht beeinfussen, wie die Bilder aussehen. Ich habe die Bilder aber gesammelt, kategorisiert und habe ihnen diese Diagnosekriterien gegeben. Es sind meine Bilder, weil ich ihre Schönheit erkannt habe. Die Leute sollen die Bilder sehen und darüber nachdenken, wie es wäre, die Menschen hinter den DSM-Beschreibungen kennenzulernen. Zu merken, dass sie mehr sind als nur eine Krankheit.

WIRED: Das klingt nach viel Arbeit. Nur um zu zeigen, dass dir die Einordnung des DSM nicht gefällt?
Van der Rijt: Nur indem man sagt, dass einem der Umgang mit psychischen Krankheiten nicht gefällt und das DSM falsch liegt, erreicht man nichts. Exquisite Errors soll Menschen die kleinen und großen Unterschiede aufzeigen. 

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