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Können die Bureaucrazy-Gründer anderen Geflüchteten mit Code helfen?

von Pearl Abbey-Obaro
Wer soll die deutsche Bürokratie verstehen, wenn selbst Muttersprachler sich damit schwer tun? Sechs syrische Geflüchtete entwickeln zurzeit eine App, die dabei helfen soll. Im WIRED-Interview verraten sie, welche App-Ideen sie noch in petto haben.

In Syrien hat er aus Spaß seine ersten Apps gehackt, Ahnung von Programmiersprachen hatte er aber keine. Ghaith Zamrik ist der Mitgründer von Bureaucrazy. Der 19-Jährige ist einer von sechs jungen Entwicklern, die zurzeit an einer App bauen, die Geflüchteten durch die deutsche Bürokratie helfen soll. 

Auch seine Mitstreiter Munzer Khattab oder Omar Alshafai hatten keinerlei Vorerfahrungen, als ihnen die Idee kam, deutsche Dokumente für Flüchtlinge zu übersetzen und zu digitalisieren. Kennengelernt haben sich die drei in der ReDi School of Digital Integration, einer Schule in Berlin, die IT-Fertigkeiten an Flüchtende vermittelt. 

Bureaucrazy ist noch in der Mache. Wenn die App am 1. Januar 2017 online geht, soll sie Flüchtlingen den Start in Deutschland einfacher machen. Sie zeigt die ersten Schritte: Wie sich beim Amt anmelden, ein Bankkonto eröffnen und eine Unterkunft finden. Das wird in Deutsch, Englisch und Arabisch erklärt. Sogar eine in die App integrierte Karte soll mittels GPS Routen zu allen umliegenden Ämtern anzeigen (vorerst nur in Berlin). 

Die Krux: Um Zeit vor Ort zu sparen, sollen alle Dokumente auf dem Smartphone oder auf dem Computer in der Landessprache ausgefüllt werden können, die die App dann ins Deutsche rückübersetzt. Neben zahlreichen Informationen und Anweisungen, findet man seine ausgefüllten Dokumente als druckbereite PDF-Dateien. WIRED hat Ghaith, Munzer und Omar in Berlin getroffen, um über ihre Idee zu sprechen. Heraus kamen viele neue Ideen und ein Lob an die Bürokratie.

WIRED: Die Begeisterung in den Medien für Bureaucrazy ist riesig, aber die App noch nicht einmal auf dem Markt. Baut das Druck auf?
Munzer: Schon ein wenig. Ursprünglich wollten wir unser Projekt erst öffentlich machen, wenn die App fertig ist und funktioniert. Aber die Medien sind uns zuvorgekommen. Manche Leute frustriert es sehr, wenn sie von uns hören und merken, dass das alles noch gar nicht auf dem Markt ist. Wir geben unser Bestes, so schnell wie möglich eine Beta-Version herauszubringen.

WIRED: Und das läuft gut soweit?
Ghaith: An sich ja, es dauert bei uns nur länger als bei gelernten Programmierern, weil wir keine Vorerfahrungen haben. Während Munzer sich um das Design kümmert, übernehmen Omar und ich das Programmieren. In der ReDi School haben wir im Februar angefangen, Programmiersprachen zu lernen – als erstes Ruby. Als wir dann später dabei waren, die Karten für die App zu bauen, haben wir gemerkt, dass wir dazu Javascript brauchen, weil wir in den programmierten Code kein GPS einbauen konnten. Das zu ändern hat mich zwei Monate gekostet und fast zum Verzweifeln gebracht. Letztendlich haben wir es dann doch geschafft und konnten den Prototyp für die Website fertigstellen.

WIRED: Das hört sich so an, als ob du mit Hingabe an Technik rumtüftelst. Hat Programmieren dich schon immer interessiert?
Ghaith: Als ich vor sieben Monaten nach Deutschland gekommen bin, wurde leider nichts im Bereich Astronomie angeboten – das hätte ich lieber gemacht. Code fand ich aber auch interessant, also bin ich zur ReDi School gegangen. Da habe ich dann auch die anderen kennengelernt.

Morgens lernen wir Programmieren in der ReDi School und setzen das abends in der App direkt um

Ghaith Zamrik

WIRED: Und da habt ihr dann gemeinsam das Projekt gestartet, oder bist du alleine auf die Idee gekommen?
Ghaith: Wenn dann ist Munzer auf die Idee gekommen.
Munzer: Naja, mir ist nur der Name eingefallen. Die Idee hatten wir schon alle gemeinsam am ersten Tag in der Schule, das war im Februar. In der ersten Stunde sollten wir Probleme der hier ankommenden Geflüchteten brainstormen. Da ist uns die Sprache, die Unterkunft und der fehlende Zugang zum Internet eingefallen. Neben dem Sprachproblem, für das es schon viele Apps und Projekte gibt, ist der  Papierkram in Deutschland – bis zum heutigen Tag –  die größte Herausforderung. Wir wollten den Ankommenden diese Herausforderung erleichtern und soweit wie möglich abnehmen. Eine App für all das schien die Lösung zu sein. So schwer wie wir sollen die anderen es nicht haben.

WIRED: So schwer wie ihr?
Ghaith: Wir haben uns die meiste Zeit sehr verloren gefühlt. Wir haben die Sprache kaum verstanden und die Abläufe sind alle sehr kompliziert. Selbst wenn man relativ gut Deutsch spricht, sind die Fachbegriffe und der Prozess an sich extrem schwer zu verstehen. Wir haben uns sagen lassen, dass selbst für Muttersprachler die Bürokratie ein Hindernis ist.

WIRED: Wie habt ihr euch dann zurecht gefunden ohne eine App wie Bureaucrazy?
Ghaith: Einige wenige Dokumente im LaGeSo sind auf Englisch. Manchmal sind auch die Beamten so nett und erklären einem den Inhalt auf Englisch  – Das ist aber nicht die Norm. Oft habe ich Dinge unterschrieben, die auf Deutsch waren und die ich nicht verstanden habe. Fast alle Dokumente habe ich mir dann irgendwie selbst übersetzt und dann anderen geholfen.
Munzer: Ich hab zum Glück direkt am Anfang deutsche Freunde gefunden, die mir geholfen haben. Die haben mir die Dokumente übersetzt und sind mit mir auch auf die Ämter gegangen – ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Es gibt da ein Programm, das heißt Start with a Friend. Es verknüpft Flüchtlinge mit motivierten freiwilligen Deutschen, die einen bei allem helfen können.

Die deutsche Bürokratie funktioniert an sich gut, nur beschleunigen könnte man sie

Munzer Khattab

WIRED: Hätte die Verwaltung irgendetwas anders machen können?
Munzer: Nicht unbedingt. Ich glaube, dass das bürokratische System, der Grund dafür ist, dass Deutschland so gut funktioniert. Leider ist es ein ewiger Prozess. Immer wenn man eine Sache erledigt hat, trudeln neue Dokumente ein. Ich bin seit anderthalb Jahren hier und laufe immer noch mehrmals die Woche von Amt zu Amt. Man könnte den Prozess beschleunigen indem man an den Ämtern Übersetzer einstellt und Dokumente digitalisiert. Das ist ja im Prinzip auch das, was wir mit unserer App bereitstellen wollen.

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WIRED: Einen digitalen Guide für Bürokratie.
Munzer: Genau das. Wir arbeiten zu sechst zusammen, neben uns dreien kümmern sich die anderen drei um die Übersetzungen, die PDFs und die Fragebögen. Wir haben auch einen im Team, der verheiratet ist und ein Kind hat, jeder hat also eine gewisse Expertise in einem anderen Gebiet. Selbstverständlich gibt es immer noch Bereiche, von denen wir als junge männliche Singles einfach keine Ahnung haben. Wir müssen definitiv noch viel recherchieren. Arbeiten tun wir normalerweise in der ReDi School oder bei mir Zuhause.
Ghaith: Oder in Turnhallen. Die ersten fünf Monate habe ich in einer gewohnt und musste dort ohne Internet kodieren, wenn ich außerhalb der Schule was schaffen wollte.
Munzer: Ja und auch bei mir zuhause ist es noch keine optimale Lösung. Besser wäre eine Art Coworking-Space – nach sowas suchen wir zurzeit.

WIRED: Da müsst ihr bestimmt viel und eng aufeinanderhocken.
Munzer: Das stimmt, aber an sich läuft das alles ganz gut. Wir verstehen uns echt super im Team. Wir waren einfach alle begeistert von der Idee und haben immer weiter daran gearbeitet und dadurch viel produktive Zeit miteinander vebracht. Unsere Familien sind sehr weit weg, mittlerweile sind wir eine Art Ersatzfamilie füreinander geworden.
Ghaith: Dann erinnere ich euch, hiermit daran, dass ich nächsten Monat Geburtstag hab.

WIRED: Bekommt ihr trotzdem noch Hilfe von außen?
Munzer: Ja, viel sogar. Während eines Hackathons in Berlin haben uns andere Teilnehmer beim Design der App geholfen. Besonders seit der Veröffentlichung unseres Projektes bieten uns immer mehr Leute an, uns beim Programmieren oder beim Übersetzen zu helfen – das ist einfach toll. Dann war da auch zum Beispiel dieser eine Freiwillige, der die Domain bureaucrazy.de für uns gekauft und für ein Jahr geschenkt hat.
Omar: Ich glaube einfach, dass wir es ohne die Hilfe von anderen nicht geschafft hätten. Besonders unsere Mentorin und Projektleiterin Julia Biro ist uns eine große Hilfe gewesen. Sie hat uns motiviert und rund um die Uhr unterstützt.

WIRED: Der Code war das Schwierigste am Projekt?
Ghaith: Ich würde sagen, dass das Crowdfunding am schwierigsten war. Wir dürfen kein Online-Banking benutzen und haben nach vielen Möglichkeiten gesucht, bis die Leitung der ReDi School Anne Kjaer Riechert das für uns übernommen hat. Wie wichtig es ist, Crowdfunding zu bekommen,  habe ich erst heute wieder gemerkt. Das Keyboard meines Laptops funktioniert nicht mehr.

WIRED: Dann kommt die Crowdfunding Kampagne, die ihr vor wenigen Tagen gestartet habt, ja gerade noch rechtzeitig.
Munzer: Ja wir freuen uns sehr darüber und jetzt wird es sozusagen ernst. Wir schreiben den Businessplan und arbeiten jeden Tag an der Beta-Version der App. Was wir tatsächlich noch bräuchten ist rechtlicher Rat. Es kommen immer mehr Firmen auf uns zu, die sich mit einkaufen wollen und uns Verträge anbieten. Jemanden zu haben, der sich damit auskennt und uns berät wäre super.

WIRED: Klingt, als wollt ihr expandieren?
Munzer: Wir wollen die App ja auch zukünftig für andere Städte ausbauen und vielleicht schaffen wir es auch, die Ämter mit einzubinden und von denen die Dokumente bereitgestellt zu bekommen. Die meisten Dokumente gibt es nämlich nur in PDF-Form und ohne den Sourcecode können wir die nicht in unsere App implementieren und ausfüllbar machen.

WIRED: Plant ihr in der Zukunft weitere Apps?
Ghaith: Ganz zu Anfang hatte ich die Idee, ein Spiel zu entwickeln. Als ich Stunden um Stunden in den Fluren der Büros saß, fand ich das so ineffektiv, dass ich darüber schon wieder lachen wollte. Ich hatte unglaublich viele Ideen für ein lustiges Spiel. Vielleicht machen wir das ja später irgendwann und nennen es Bureaucrazy Games.
Omar: Ich würde gerne eine App programmieren, um Flüchtlingen zu helfen eine Unterkunft zu finden, wie eine Art Wohnungsbörse. Bisher planen wir nur beim Papierkram hilfreich zu sein, wir könnten in der Zukunft aber noch mehr machen. Ich weiß, wie schwierig das ist, ich wohne immer noch in einem Hostel.

 Wir hatten Angst, dass sie uns als nutzlos ansehen würden und aus dem Projekt kicken

Ghaith Zamrik

WIRED: Habt ihr damit gerechnet, dass das Interesse an eurem Projekt so groß sein würde?
Ghaith: Nein das auf gar keinen Fall! Wir wollten einfach nur helfen und konnten uns nicht vorstellen wohin das führen könnte. Kurze Zeit nach dem Start unseres Projektes hat ein großes Unternehmen angeboten uns die App zu finanzieren beziehungsweise abzukaufen. Erst haben wir überlegt das Angebot anzunehmen – immerhin hatten wir ja sehr wenig Ahnung vom Ganzen zu anfangs. Wir hatten aber Angst, dass sie uns als nutzlos ansehen würden und aus dem Projekt kicken. Mentoren und Freunde haben uns außerdem davon abgeraten. Wären wir ihrem Rat nicht gefolgt, würden wir heute bestimmt nicht hier sitzen.

Die Crowdfunding Kampagne von Bureaucrazy kann man hier unterstützen.

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