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Wie aus einer Speichelprobe 30 DNA-Masken von Chelsea Manning wurden

von Sonja Peteranderl
Die Künstlerin Heather Dewey-Hagborg erstellt Phantombilder aus DNA-Spuren – und prangert mit ihrer Kunst auch die Unzuverlässigkeit von Gentests an.

Ein menschliches Mobile, aus 30 dreidimensionalen Masken: Viele Gesichter blicken freundlich und offen, manche starren ein bisschen skeptisch vor sich hin. Sie haben weibliche und männliche Gesichtszüge, hellblaue oder dunkle Augen, manche haben knallweiße Haut, andere dunklere Gesichtszüge. Und sie sind alle Chelsea Manning – oder zumindest auf DNA-Proben basierende Variationen der Whistleblowerin. Chelsea Manning im Gen-Remix.

„A Becoming Resemblance“ heißt die Ausstellung von Heather Dewey-Hagborg und Chelsea Manning, die derzeit in der New Yorker Friedman Gallery zu sehen ist. Die New Yorker Biotech-Künstlerin Dewey-Hagborg hat für die Porträts Wattestäbchen mit Speichelproben und Haaren analysiert, die ihr die damals noch inhaftierte Whistleblowerin über ihre Anwältin aus dem Gefängnis zukommen ließ.

„Ich arbeite seit 2012 mit der DNA von Fremden“, sagt Dewey-Hagborg. „Anfangs habe ich Zigaretten und Kaugummi in New York eingesammelt.“ Sie nutzt auch Open Source-DNA für ihre Experimente: Denn viele Biotech-Fans posten ihre DNA online, auf Github. „Ihre Genome zu posten, ist für sie wie Code zu veröffentlichen“, so Dewey-Hagborg. Auch DNA-Selfies von sich selbst fertigt die Künstlerin an.

Wie eine Forensikerin versucht sie aus den genetischen Spuren Gesichter von Menschen zu rekonstruieren – oder zumindest Annäherungen. DNA-Phänotypisierung nennt sich die Methodik: Im Labor extrahiert sie die DNA, analysiert auf Basis der Genomsequenzen eine Liste von Merkmalen, die etwa Rückschlüsse auf Veranlagungen wie Krankheiten, Übergewicht oder Kahlheit, Augen- und Haarfarbe oder Sommersprossen zulassen – sogenannte SNPs (Single nucleotide polymorphisms), die bei Menschen am häufigsten vorkommenden genetischen Variationen. Die Analyse mitochondrialer DNA liefert auch Hinweise zu Abstammung und Urahnen. „Die Software, die ich geschrieben habe, setzt die Merkmale dann in lebensgroße 3D-Gesichter um“, so die Künstlerin. Ausgedruckt werden die DNA-Porträts aus einer Gipsmasse mit dem 3D-Drucker, manchmal malt sie per Hand noch ein paar Sommersprossen auf.

Gefängnisse versuchen, uns unmenschlich zu machen

Chelsea Manning

Die Idee, mit Manning zusammenzuarbeiten, entstand aus der Not heraus: Dewey-Hagborg wurde 2015 vom Paper Magazine angefragt, ob sie ein DNA-Porträt von Manning anfertigen könne, weil ein Shooting im Gefängnis unmöglich war. Die Whistleblowerin war lange völlig isoliert von der Öffentlichkeit: Nachdem sie 2010 verhaftet wurde, weil sie Wikileaks militärische Videos und Dokumente zugespielt hatte, verschwand sie sieben Jahre lang hinter Gittern. „Gefängnisse versuchen, uns unmenschlich und unwirklich zu machen, indem sie uns das Recht auf unser Bild verweigern und so auch unsere Existenz für den Rest der Welt“, so Manning. „Bilder sind Existenzbeweise.“

Es gab nur ein einziges aktuelleres Foto von Manning, als Frau, mit einer blonden Perücke auf dem Kopf und Lippenstift, das sie einem Vorgesetzten bei der Armee geschickt hatte und das 2013 vom Militär öffentlich gemacht wurde.

Die DNA-Porträts eröffnen auch ein Spiel mit Identität, mit Gender, sie zeigen eine Skala möglicher Versionen eines Menschen auf. „Für ein genderneutrales Porträt haben wir bestimmte Gender-Aspekte weggelassen“, so Heather Dewey-Hagborg. Akzentuierte Augenbrauen, betonte Wangenknochen, oder doch weichere Gesichtszüge: Mit bestimmten Merkmalen lassen sich Phantombilder leicht manipulieren, in Stereotype verwandeln. „Gender-Parameter sind wie ein Photoshop-Slider, den man mehr in die männliche oder weibliche Richtung verschieben kann.“

Chelseas Porträts sollen ein Schlaglicht auf die Klischees bei Gesichtsmodellen werfen

Heather Dewey-Hagborg

So soll die Porträtserie auch davor warnen, wie ungenau und klischeebehaftet DNA-basierte phänotypische Modelle noch sind. „Chelseas Porträts sollen ein Schlaglicht auf die Klischees bei Gesichtsmodellen werfen“, so Dewey-Hagborg. „Es ist eine Eigenschaft von datengetriebenen Modellen, dass sie die Wirklichkeit reduzieren.“ Brisant ist das, weil DNA-Phänotypisierung nicht mehr nur als Kunstprojekt eingesetzt wird.

In den USA und auch einigen europäischen Ländern nutzt die Polizei die Methode schon, um Rückschlüsse auf Verdächtige zu ziehen, auch Deutschland diskutiert über eine Gesetzesänderung, die die Methodik zulassen könnte. Das US-Unternehmen Parabon Nanolabs bietet die Erstellung von DNA-Porträts in den USA als Dienstleistung für die Polizei an, mit einer Software namens „Snapshot“. „Snapshot ist ideal, um Ermittler-Hinweise zu generieren, den Verdächtigenkreis genauer einzugrenzen und unbekannte Überreste besser zu identifizieren“, bewirbt die Firma ihre Software. Dewey-Hagborg sieht der Bildergalerie von Parabon Labs beim rasanten Wachstum zu. Die DNA-Porträts würden von der US-Polizei zwar noch nicht bei Gerichtsverhandlungen als Beweismaterial genutzt, aber bei laufenden Ermittlungen. Ungenaue und verzerrte Phantombilder könnten so dazu führen, dass ohnehin diskriminierte Bevölkerungsgruppen wie Afro-Amerikaner oder falsche Verdächtige ins Visier der Ermittler geraten.

„DNA-Phänotypisierung ist immer noch ein relativ neues Geschäft und wird vor allem für ungeklärte Kriminalfälle genutzt, von denen es unzählige gibt“, so die Künstlerin. „Aber als Polizei ein einziges Gesicht zu veröffentlichen und zu sagen, das ist der Gesuchte, das ist absurd.“ Selbst Merkmale wie die Augenfarbe, bei denen die exakte Vorhersage mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt, können nicht mit ausreichender Sicherheit bestimmt werden. „Das macht mein Projekt real: Es hat sich verändert von dem abstrakten Überwachungsrisiko auf Basis von DNA-Spuren hin zu der Frage, was DNA-Porträts in den Händen der Polizei bewirken“, so Dewey-Hagborg.

In den USA werden Babies schon einer Reihe von genetischen Tests unterzogen

Heather Dewey-Hagborg

Obwohl die Zuverlässigkeit von Gentests umstritten ist, boomen Startups, die genetische Analysen für den Massenmarkt anbieten: China gilt als „Wilder Westen“ für Gentest-Startups, die Hilfe bei der Partnerwahl oder Gesundheitschecks versprechen, in den USA verwandelte das Biotech-Unternehmen 23andMe Gentests in eine erschwingliche Dienstleistung für alle. Die Gesundheitstests auf Genbasis wurden inzwischen verboten, Abstammungsanalysen sowie die rohen Gendaten zur Eigenauswertung können Kunden immer noch ordern. Analysen von 23andMe versetzten in der Vergangenheit immer mal wieder Kunden in Schock, die glaubten, schwere Krankheiten zu haben.

In ihrem nächsten Projekt beschäftigt sich Heather Dewey-Hagborg damit, wie die wachsende Verfügbarkeit von Genanalysen sich auf die Gesellschaft auswirken wird. „Zumindest in den USA werden Babies jetzt schon einer ganzen Reihe von genetischen Tests unterzogen“, so Dewey-Hagborg. „Ich glaube, dass Gentests von Firmen wie 23andme und anderen dramatische Veränderungen bei der Familienplanung und in Beziehungen erzeugen werden.“ Öffentliche Debatten seien notwendig, um die Macht von DNA-Analysen zu begrenzen. Wer jetzt einen Gentest macht, sollte sich auch die Geschäftsbedingungen aufmerksam durchlesen. Denn wer garantiert, dass die so entstehenden Gen-Datenbanken sicher vor Hackerangriffen sind oder nicht weiterverkauft werden? „Die Leute sollten damit vorsichtig sein, wem sie ihre DNA schicken“, so Dewey-Hagborg. „Du weißt nie, was man damit in Zukunft anstellen kann.“

Chelsea Manning hat über das Kunstprojekt erfahren, dass sie möglicherweise von „Wikinger-Piraten“ abstammt, wie sie zumindest auf Twitter verkündete. Gesichert ist: Ihre Vorfahren kamen offenbar auf der ganzen Welt herum, auch in einer ägyptischen Mumie wurde ähnliches Genmaterial gefunden. „Es ist eine faszinierende Art, Menschen über ihre Genome kennenzulernen und über all die Möglichkeiten nachzudenken, wie jemand sein kann“, sagt Heather Dewey-Hagborg, die nicht gedacht hätte, dass sie die Whistleblowerin tatsächlich je persönlich kennenlernt. Zumindest nicht so schnell.

 

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