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Binaural Bits / Wie viel Interaktives braucht die Kunst?

von Markus Sulzbacher
Ein Mann. Zwei Medien. Und Spotify. Das ist das Setting für einen absolut nicht objektiven Selbstversuch unseres Kolumnisten Markus Sulzbacher, der die Frage klären soll: Machen uns interaktive Formate glücklicher?

Markus Sulzbacher arbeitet im Berliner Radiobüro mit anderen Journalisten, Autoren und Podcastern an Audio-Projekten. Die Kolumne „Binaural Bits“ befasst sich auf WIRED Germany wöchentlich mit allem, was hörbar ist.

Es ist Mitternacht. Ich habe mich für ein interaktives Hörspiel von Audiogent entschieden: „Raumzeit — Der verbotene Sektor“. Weltall, Laserkanonen, Raumschiffe, pure Sience Fiction und genau mein Ding! Als Kontrahent geht ein antiquiertes Buch, ein Klassiker aus meiner feinen Sience-Fiction-Sammlung, ins Rennen: „Solaris“ von Stanislaw Lem. Der Plot ist ähnlich und auch die draufgängerische, männliche Hauptfigur ist — bis auf das Bildungslevel — vergleichbar.

Und jetzt noch Spotify. Ich starte die Streamingkiste und akzeptiere die neuen Datenschutzrichlinien, die kurz für Aufregung gesorgt haben. Weil uns jetzt angeblich auch noch die Schweden die Hosen komplett ausziehen wollen. Nun, welche hochfrequentierten Portale tun das nicht? Darum interessiert mich mehr folgende Aussage des Unternehmens: „Die Daten werden benutzt, um das Musikerlebnis für den User noch besser zu machen.“ Ok, dann bin ich jetzt einfach mal der Spotify-Algorithmus auf dem Stand von in zwei Jahren und ich erkenne aufgrund meiner eigenen Bewegungen, Aktionen und Situationen, welcher Song gespielt werden muss.

Gut, das Setup steht also. Ich wiederhole noch mal das zu verfolgende Ziel: Will ich bei meiner konsumierten Unterhaltung mitentscheiden dürfen? Und wenn ja: aus freien Stücken, wie im Fall „interaktives Hörspiel“ oder zwangsbeglückt durch Spotifys „Ich-mach-aus-deinem-Leben-einen-Kinofilm“- Algorithmus?

Also: Let the fight begin! Welcher Song? Na klar! Beastie Boys! „Fight For Your Right“! Ich starte die Hörspiel-App auf meinem Smarti und kriege gleich eine fette Selbstzerstörungsequenz vor den Latz, inklusive eines der heißesten Synchronsprechereisen Deutschlands: Dietmar Wunder als Captain Burke. Ich denke: „Pfff, ein Videogame-Standbild mit Hörspiel.“ Doch die Story reißt mich mit und dann wird auch schon die erste interaktive Entscheidung von mir verlangt. Ein Typ namens Commander Jurin lädt die Geschütze seines Schiffs und will Burke sprechen. Mit ihm reden— ja oder nein? Ich lasse mir Zeit. Was wird passieren, wenn ich...? Und Spotify spielt Busta Rhymes, „Decisions“.

Plötzlich wird mir klar, was Interaktion mit Inhalten macht: Sie werden vorhersehbarer!

Ich wechsle in die analoge Welt und starte am Anfang von „Solaris“, als Kris Kelvin in der scheinbar verlassenen Raumstation nach seinen Kollegen sucht. Ich versuche es mit David Bowies „Space Oddity“. Aber nach kurzer Zeit nervt mich die musikalische Berieselung trotz der Songqualität und ich entschließe mich, das Buch ohne sie zu lesen. Eine Erkenntnis abseits des Hauptziels: Musik beim Hörspiel macht Laune. Beim Lesen wirkt sie zu präsent und man kann dem Text nicht folgen.

Plötzlich geht die Tür auf. Mein kleiner Sohn steht im Raum und ich merke, dass der Morgen graut.

Zurück beim Hörspiel. Ich soll mein iPhone bewegen, um das Raumschiff in die Station zu fliegen. Okay, sorry, aber sowas sollte man doch besser einem ausgewachsenen Videogame überlassen. Da hilft nicht mal der „Star Wars“-Soundtrack im Hintergrund. Bei der nächsten Entscheidung habe ich fünf Wahlmöglichkeiten. Wieder rattert es in meinem Kopf und ich versuche eine möglichst rationale Entscheidung zu treffen. Was ist besser für die Story? Unterbewusst will ich die Figur natürlich in Schwierigkeiten bringen. Aber ich weigere mich.

Ich wechsle wieder zu „Solaris“. Lem schreibt wahnsinnig beklemmend und bilderreich. Die Vorstellung, ich sollte im Buch für Kris Kelvin eine Entscheidung treffen, kommt mir völlig absurd vor.

So geht das ungefähr acht Mal hin und her, bis mir plötzlich klar wird, was die Interaktion mit den Inhalten macht: Sie werden vorhersehbarer! Auch wenn ich nicht weiß, was als Nächstes kommt, male ich mir doch aus, was passieren könnte. Das ruft in meinem Kopf Thesen hervor, die mit Erfahrungen verknüpft werden. Beim Buch hingegen ist die Phantasie ein unbeschriebenes Blatt und allein die Tatsache, nicht über eine Entscheidung spekulieren zu müssen, verleiht der Geschichte einen unglaublichen Drive. Und das, obwohl ich „Solaris“ schon kenne. Ah, ich hab „Drive“ geschrieben. Die Playtaste für: The Cars — „Drive“.

Sobald wir unsere eigenen Denkmuster in den Entscheidungen wiedererkennen, wird der Inhalt träge.

Ist dieser Selbstversuch noch so wenig empirisch und wird er hier auch nur angerissen, zeigt er doch: Um wirklich interaktiv zu sein, bedarf es einer künstlichen Intelligenz, die uns fordert und uns zu überraschen weiß. Denn sobald wir unsere eigenen Denkmuster in den Entscheidungen wiedererkennen, wird der Inhalt träge und läuft Gefahr, künstlich am Leben gehalten werden zu wollen. Egal, ob es sich um Entscheidungen aus unserem Kopf handelt oder um unsere Bewegungsmuster und Aktionen, die die Inhalte steuern.

Aber was passiert denn jetzt?! Das interaktive Hörspiel twittert meine nächste Entscheidung selbstständig über meinen Account. „Entscheidung von M: Die Hauptfigur Captain Burke bekommt eine scharfe Blondine als Partnerin und keinen sabbernden Mops namens Hank. Meine Freundin twittert: „Mein Freund ist ein Schwein!“ Spotify startet umgehend den Song: „What Did I Do Wrong“ von Bassment Project. Während das Lied läuft, folgt aus dem Nichts ein SMS-Schlagabtausch mit meiner Liebsten anno 1999 und schnell versuche ich die Entscheidung zu korrigieren. Zu spät, wie sich herausstellt, und Spotify spielt Timbaland: „Apologize“. Aber zum Glück nur zwanzig Sekunden, denn die letzte Nachricht meiner Freundin „SUCH DIR DOCH EINE BLONDINE MIT MÖPSEN!“ zwingt den Spotify-Algorithmus in meinem Kopf, sofort Bill Withers „Aint No Sunshine When She's Gone“ anzutriggern.

Ich wache aus diesem Albtraum auf und bekomme eine reale Threema-Nachricht. Meine Freundin: „Kommst du ins Bett?“ Ich reiße mich zusammen, entscheide gegen den natürlichen Trieb und gehe an der Panke spazieren. Ich lösche „Intro“ von The xx aus dem Player und hör mir „An Der Schönen Blauen Donau“ von Johann Strauss an.

Na Spotify? Was machst du jetzt?
Commander M, Ende.

In der letzten „Binaural Bits“-Folge stellte Miriam Sandabad fest: So klingt Europa! 

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