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Willkommen in der virtuellen Megastruktur! So baut man den größten Walking Simulator der Welt

von Oliver Klatt
Um sich das Ausmaß unseres Universums besser vorstellen zu können, haben Physiker die Astronomische Einheit erfunden. Eine AE entspricht einer Länge von 149 597 870 700 Metern — der mittleren Entfernung zwischen Erde und Sonne. Artyom Zuev aus Moskau ist gerade dabei, eine virtuelle Welt zu erschaffen, die zehnmal so groß ist.

In Zuevs bisher noch namenlosen Projekt, das der 24-jährige auf seiner Website NODEVBLOG dokumentiert, schlängeln sich endlos erscheinende Treppen an endlos erscheinenden Türmen hinauf. Brücken verbinden diese Türme mit anderen Türmen und anderen Brücken. Hat man eine Tür erreicht, die aus dem architektonischen Albtraum hinausführt, muss man feststellen, dass man nicht den Weg ins Freie gefunden hat, sondern lediglich den Eingang zu einem noch viel größeren Raum mit noch mehr Türmen, Treppen und Türen. Zuevs Arbeit sprengt alle Dimensionen. Sein Walking Simulator, der nur wenig mit herkömmlichen Videospielen gemein hat, will Raum und Zeit als existentielle Größen erfahrbar machen. Mit WIRED Germany sprach Zuev erstmals über sein ambitioniertes Bauvorhaben.

WIRED: Artyom, du beschäftigst dich nicht nur beruflich sondern auch in deiner Freizeit mit dem Errichten virtueller Bauwerke Wie kam es zu dieser Obsession?
Zuev: Eigentlich bin ich Grafik Designer. Aber irgendwann wurde das zu langweilig für mich. Zu zweidimensional. Man verbindet Punkte mit anderen Punkten und darf manchmal den Farbeimer rausholen. Mehr läuft da nicht. Ich fand es jedoch schon immer aufregend, unbekannte Orte zu erkunden. Vor einige Jahren habe ich mich daher dem 3D Modeling zugewandt und mir nach und nach das Handwerk eines Architekten angeeignet. Vor allem Sketchup hat mir dabei geholfen, weil das Programm für Einsteiger sehr zugänglich ist. Ich habe an mehreren Videospiel-Mods mitgewirkt, und hin und wieder ist sogar ein richtiger Job dabei rausgesprungen. Zum Beispiel für die Raumfahrtsimulation „Kerbal Space Program.“ Derzeit verdiene ich mein Geld mit der Arbeit an Lernspielen. 

WIRED: Worin genau liegt der Reiz, Gebäude und Gegenstände am Rechner entstehen zu lassen?
Zuev: Jedes Kind weiß, wie viel Spaß es bereitet, etwas aus einfachen Bauklötzen zu erschaffen. Das Gefühl, das ich bei der Arbeit an meinen Projekten verspüre, kommt dem sehr nahe. Ich war zunächst süchtig nach Spielen wie „Minecraft“, habe aber schnell gemerkt, dass mir das zu wenige Möglichkeiten bietet. Beim echten 3D Modeling arbeitet man dagegen nicht nur mit simplen Kästen, sondern muss jedes noch so kleine Detail ausgestalten, um eine realistische Wirkung zu erzielen. Mir wurde klar, dass sich dadurch das Vergnügen, das ich früher beim Lego-Spielen empfunden hatte, ungemein potenziert. Man fühlt sich wie ein Gott, der alles in der von einem selbst erschaffenen Welt unter Kontrolle hat – als wohlwollender Schöpfer, der Bauwerke und Landschaften aus dem Nichts hervorholt, sie mit Geheimnissen füllt und dann anderen Menschen vorsetzt, damit die sich darin auf die Suche begeben.

WIRED: Das klingt aber auch noch deutlich mehr Arbeit als das Stapeln von Legosteinen oder das Untertunneln der Landschaft in „Minecraft“.
Zuev: Nicht unbedingt! Wer schon mal in „Minecraft“ versucht hat, eine Kugel zu bauen, weiß, wie umständlich das ist. Und der Vorteil von echtem 3D Modeling ist, dass alles aus Wiederholungen besteht. Ein Fenster für ein Hochaus muss man beispielsweise nur einmal modellieren und kann es dann immer wieder verwenden und über alle Seiten eines Gebäudes verteilen. Wenn du in „Minecraft“ ein Haus bauen willst, musst du jeden Fensterrahmen Stein um Stein aufschichten. Die Arbeit mit 3D-Modeling-Software spart sehr viel Zeit. Außerdem verändert sie den eigenen Blick auf die Wirklichkeit. Wenn ich spazieren gehe, ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich im Geist die umstehenden Gebäude systematisch zerlege und darüber nachdenke, wie sie konstruiert sind – und wie ich sie später selbst reproduzieren könnte.

WIRED: Der authentische Nachbau Moskauer Wohnsiedlungen scheint dir aber nicht mehr zu genügen. Dein aktuelles Projekt ist an Gigantomanie kaum zu überbieten. Eine in den virtuellen Weltraum hineingebaute Dyson-Sphäre mit bis zu zwei Milliarden Kilometern Durchmesser, die man zu Fuß durchqueren muss? Ist das dein Ernst?
Zuev: Durchaus! Meine Inspiration war der zehnteilige Manga „Blame!“ von Tsutomu Nihei. Darin spielen diese ausufernden Größenverhältnisse eine wichtige Rolle. Nihei hat Architektur studiert, und das merkt man seinem Werk auch an. Mit „Blame!“ hat er einen Architektentraum zu Papier gebracht, der sich nicht um Kosten oder physikalische Beschränkungen zu scheren braucht: die Megastruktur. Sie ist reine, entfesselte Form. Die Hauptfigur bewegt sich durch eine unvorstellbar große, um den gesamten Erdball errichtete Konstruktion, die bereits seit 3000 Jahren im Bau ist und von automatischen Mechanismen ständig erweitert wird. Sie hat bereits den Mond umschlossen, und wie groß sie wirklich ist, weiß niemand so genau. In dem Manga wird angedeutet, dass ganze Planeten als Bausubstanz herhalten mussten, um diese Megastruktur zu errichten.

WIRED: Was fasziniert dich an dem Konzept?
Zuev: Das Interessante daran sind die selbst für das Science-Fiction-Genre ungewöhnlichen Maßstäbe. Jemand, der durch diese Architektur hindurchgeht, nimmt zum einen die Größe einzelner Räume in der Struktur wahr: Er sieht, dass es ungefähr 20 Kilometer bis zum nächsten Stützpfeiler sind und die Decke so hoch ist, dass sich darunter bereits Wolken gebildet haben. Er blickt in tiefe Abgründe hinab und klettert nicht enden wollende Treppen hinauf. Zusätzlich gibt es aber auch noch die astronomischen Maßstäbe der Megastruktur: Entfernungen, die man nicht wahrnehmen und sich noch nicht einmal vorstellen kann. Das Wissen um diese zweite Ebene gibt der gesamten Situation ein ungeheures Gewicht.

WIRED: Wenn man sich deine ersten Pläne für das Projekt anschaut, wird klar, dass man für die Überwindung einiger Abschnitte bis zu 4000 Stunden benötigen würde. Das klingt ermüdend.
Zuev: Deshalb wird es auch eine Quick-Travel-Funktion geben. Strecken, die zu lang sind, um sie zu Fuß zu bewältigen, kann man im Schnelldurchlauf hinter sich bringen. Man sieht dann die Jahre, die eine Durchquerung dauern würde, an einem vorbeirasen. Aber im Kern ist mein Projekt ein Walking Simulator. Ich liebe Games wie „Dear Esther“, die ihre Geschichte durch die Umgebung erzählen, die man als Spieler erkunden darf. Das allein kann sehr befriedigend sein.

WIRED: Und was geschieht, wenn man in deiner Megastruktur einen falschen Schritt macht und kilometertief in den Abgrund stürzt?
Zuev: Da die Hauptfigur nicht menschlich ist, kann sie auch nicht sterben. Man bleibt dann so lange liegen, bis sich der eigene zerschmetterte Körper regeneriert hat. Das kann sehr lange dauern und wird deshalb ebenfalls in Zeitraffer dargestellt. Während vor dem Bildschirm nur 30 Sekunden vergehen, bis man sich erneut auf den Weg machen kann, verstreichen in der Welt der Megastruktur möglicherweise Äonen. Inklusive aller Konsequenzen, die das mit sich bringt. Das ist das genaue Gegenteil von „Prince Of Persia“, wo man nach einen Fehltritt einfach die Zeit zurückspult und es noch einmal versucht. In meinem Projekt haben Zeit und Raum eine Bedeutung. Sie sind endgültig. Beides sind Größen, mit denen man nicht verhandeln kann.

WIRED: Wie wirkt sich das konkret auf das Erlebnis aus, sich in deiner Konstruktion auf die Reise zu begeben?
Zuev: Wenn man einen Ort hinter sich lässt, an dem man von einem der wenigen Menschen, die in der Megastruktur herumlaufen, einen Auftrag erhalten hat, ist das unwiderruflich. Umkehren auf halber Strecke wäre aufgrund der riesigen Entfernungen sinnlos, da die Person bei der Rückkehr womöglich schon längst nicht mehr am Leben ist. Dasselbe gilt für die eigene Ausrüstung. Hat man es versäumt, sie rechtzeitig reparieren zu lassen, kann es passieren, dass sie unterwegs obsolet wird und man den Rest des Weges ohne sie auskommen muss. Dieses Wissen um die Unwiederbringlichkeit der eigenen Entscheidungen gepaart mit dem Gefühl der Isolation verleiht dem Projekt eine schöne melancholische Grundstimmung.

WIRED: Das alles als Ein-Mann-Team umzusetzen, scheint dennoch ein Ding der Unmöglichkeit. Wie willst du das anstellen?
Zuev: Die Herausforderung besteht in der Quantität. Ich muss einen Weg finden, um aus hunderten von mir gestalteten Räumen und tausenden Details hunderttausende von Architekturabschnitten entstehen zu lassen. Das funktioniert nur durch prozedurales Design: Ich muss mir vom Rechner helfen lassen und bin gerade dabei, ein modulares System zu programmieren, dass aus vielen Einzelelementen vollkommen automatisch überzeugend wirkende Räume entstehen lässt und sie mit architektonischen Details anreichert. Im Moment funktioniert das in einem gewissen Rahmen schon ganz gut. Das Schwierige daran ist jedoch, Wiederholungen zu vermeiden, die dem Spieler sofort auffallen würden und die Illusion zunichte machen. Denn jeder Raum, den er betritt, soll ihm etwas neues bieten und in ihm dem Wunsch auslösen, diese Architektur zu erforschen.

WIRED: Hast du schon ein Veröffentlichungsdatum für den ersten Bauabschnitt ins Auge gefasst?
Zuev: Das ist bei einem Projekt dieser Größe schwer vorherzusagen. In erster Linie arbeite ich daran, weil es mir selbst ein ganz unmittelbares Vergnügen bereitet. Aber es ist gut möglich, dass ich gegen Ende des Jahres etwas vorzeigen kann. Ich habe auch schon eine Testversion für Oculus Rift entwickelt. Und was soll ich sagen: In der Virtual Reality 50 Kilometer in die Tiefe zu schauen, ist auf seltsame Weise unterhaltsam.

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