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Kunst gegen die NSA: Paolo Cirio macht Spione zu Ausstellungsobjekten

von Martin Wiens
Millionen von Menschen ist es egal, ob jemand etwas gegen die Ausspähung von Geheimdiensten tut. Das glaubt Künstler Paolo Cirio und will mit seiner Ausstellung „Overexposed“ ein Zeichen setzen: Durch Social-Media-Hacks hat er sich Privatfotos von hochrangigen US-Geheimdienstbeamten beschafft. Mit denen plakatiert er jetzt die Häuserwände Berlins.

Vor einer Stunde hat Paolo Cirio einen Polizeiwagen an der Haltestelle Frankfurter Allee halten sehen. Kein kleines Auto, sondern einen Mercedes-Transporter. Cirio musste deshalb mit seiner Aktion warten. Das kennt er schon, denn was er tut, ist illegal. Jetzt steht er vor der S-Bahn-Station in Berlin Friedrichshain, unter dem linken Arm zwei Plakatrollen, in der rechten Hand ein kleiner Eimer. Wegen des Bahnstreiks sind außer ihm nur wenige Menschen auf der Straße. Ein paar bleiben stehen, als Cirio neben die Plakate längst gefeierter Partys sein eigenes kleistert. Auf dem ist das Gesicht von Michael Hayden zu sehen. Der war von 1999 bis 2005 Direktor der NSA. Am 6. Mai 2006 machte Präsident George W. Bush ihn zum Chef der CIA. Der blieb er bis 2009. „In seiner Position war Hayden auch für Drohnenangriffe verantwortlich. Er sammelte Metadaten und nutzte sie, um Menschen zu töten“, erklärt Cirio.

Cirio macht diejenigen zum Objekt, die die Kontrolle über Informationen und Nutzerdaten haben.

Seit ein paar Monaten führt der Konzeptkünstler aus New York in Großstädten auf der ganzen Welt Interventionen durch. Gerade ist er in Berlin unterwegs, weil hier seit vergangener Woche seine Ausstellung „Overexposed“ läuft. Neun riesige Portraitfotos hängen im steril weißen Raum der NOME Gallery in der Dolziger Straße. Es sind nicht autorisierte Bilder von hohen US-Geheimdienstbeamten wie Michael Hayden. Die meisten davon beschaffte sich Cirio über Facebook — mithilfe des internen Suchtools Graph Search und über Plugins, mit denen er das Social Network systematisch durchforstete. Andere bekam er über Fake-Accounts bei Facebook, Twitter und LinkedIn: Er stellte Freunden und Bekannten seiner Zielpersonen Freundschaftsanfragen und konnte so in deren privates Umfeld eindringen. „Dass es so einfach würde, an das Material zu kommen, hatte ich selbst nicht gedacht“, sagt der 36-Jährige.

Mit den Plakaten der nicht zur Veröffentlichung gedachten Fotos greift Cirio die Debatte rund um Datensicherheit, Privatsphäre und Spionage auf und dreht sie um — indem er diejenigen zum Ausstellungsobjekt macht, die eigentlich die Kontrolle über Informationen und Nutzerdaten haben. Seine Stücke stellt Cirio nicht nur in Gallerien aus, er plakatiert öffentliche Plätze — unter anderem in New York, London und Paris. Und jetzt eben auch in Berlin. Weil es in den Metropolen meist schnell gehen muss mit dem Kleben, benutzt er vorgefertigte Drucke. Nur selten sprayt der Künstler durch eine Schablone direkt auf die Wände. Aber auch das bloße Wild-Plakatieren ist schon illegal.

Das ist Cirio anzusehen. Von der Käppi bis zu den Schuhen trägt er schwarz. Keines seiner Kleidungsstücke unterscheidet sich im Farbton vom anderen. Keines ist ausgewaschen, auf keinem sitzen graue Staubfusselchen, die im Licht blitzeln könnten. Wiedererkennung unmöglich. Nur seine Lederjacke glänzt, während er mit dem breiten Kleisterpinsel übers Plakat streicht. Dieses sieht von weitem aus wie eine ausgeblichene, blau-weiße Pixelfläche. Erst beim Näherkommen fügen sich die klitzekleinen Dreiecke zum Gesicht von Keith Alexander zusammen. Von 2005 bis 2014 war er Direktor der NSA und unter anderem für das Überwachungsprogramm PRISM verantwortlich, das von Whistleblower Edward Snowden im Sommer 2013 in die Öffentlichkeit gezerrt wurde. Was auf dem Plakat nicht zu erkennen ist: Im Original steht der ehemalige Spionagechef neben einer unbekannten Frau, die das Selfie mit den Worten „Look who takes a great #Selfie — General Keith Alexander, the Cowboy of the NSA“ bei Facebook gepostet hat. Beide lächeln breit und sehen vertraut aus. Um genau solche Bilder geht es Paolo Cirio: Sie kommen aus privaten Kontexten und sind nicht gestellt.

Wenn man sich vorstellt, wie ein NSA-Mitarbeiter vor dem Bildschirm sitzt und sich dein Selfie anschaut, ist das schon creepy.

Paolo Cirio

Denn genau so privat sind die Daten, die Leute wie Hayden oder Alexander in ihrem Beruf tagtäglich gesammelt haben. Cirio wundert sich darüber, wie egal vielen Menschen die offensichtliche Datenspionage immer noch ist. Oft werde in dem Zusammenhang das Argument gebracht, dass man eh nichts zu verbergen habe. Damit sei auch nach der Snowden-Enthüllung häufig gesagt worden. Für Cirio zieht es aber nicht: „Stell dir vor, deine Mama macht mit dir auf deiner Geburtstagsfeier ein Selfie. Solange das auf deinem Smartphone ist, ist alles gut und schön. Aber wenn man sich vorstellt, wie ein NSA-Mitarbeiter vor seinem Bildschirm sitzt und sich das Foto anschaut, ist das schon creepy“, sagt er. Diesen Gedanken will er mit „Overexposed“ anregen — nur, dass seine Bildschirme Häuserwände und Stromkästen sind.

Vor einer weiß verputzten Außenwand bleibt Cirio stehen. „Das wäre wirklich eine nice Stelle“, sagt er. Er zeigt auf einen freien Fleck über einem orangefarbenen Stromverteilerkasten, der übergangsweise neben einer Baustelle aufgestellt wurde. Cirio will auf den Metallklotz klettern, um eines seiner Plakate halbhoch an die Häuserwand zu kleben. Er rüttelt an dem Kasten und testet, ob er stabil ist, dann stoppt er. „Der gehört bestimmt zu dem Bauarbeiter da vorne“, sagt er. Zehn Meter weiter pflastert gerade jemand eine kleine Parkfläche. „Das ist mir zu viel Risiko“. Cirio hebt Eimer und Plakate auf und geht weiter. Genau wegen dieser Besonnenheit hat ihn die Polizei noch nie gekriegt. In Berlin sei es auch lange nicht so gefährlich wie in New York, sagt er. „Dort fahren Cops nämlich nicht nur in Polizeiwagen rum — sondern manchmal auch in den typischen gelben Taxis“, erzählt Cirio. „Deshalb bin ich sehr misstrauisch“. Tatsächlich schaut er sich ununterbrochen um und wartet, bis alles Gebrumme weit weg ist, ehe er zu plakatieren beginnt.

Auf Paolo Cirios Arbeiten sind neben Michael Hayden und Keith Alexander noch sieben weitere Personen zu sehen, die alle Führungspositionen bei FBI, CIA, NSA oder NSC haben oder hatten: John Brennan, Michael Rogers, James Clapper, James Comey, Caitlin Hayden, Avril Haines und zuletzt noch David Petraeus. Dem schenkt Cirio besondere Aufmerksamkeit: 2012 verlor Petraeus seine Stelle als Direktor der CIA, weil nachgewiesen worden war, dass er geheime Informationen an seine Biografin Paula Broadwell weitergegeben hatte. Mit hatte er eine Affäre. Erst im April 2015 endeten die Ermittlungen wegen Geheimnisverrats und Petraeus musste eine Geldstrafe von 100.000 Dollar zahlen. Ein Prozess blieb ihm erspart — der hätte wohl intime Details zu seiner Liebesbeziehung mit Broadwell offengelegt. „Natürlich, er ist schließlich der ehemalige CIA-Direktor“, sagt Cirio spöttelnd. Donnerstagnacht will er aufs Dach des Neuen Kreuzberger Zentrums am Kottbusser Tor klettern und dort, möglichst weit oben ein Plakat von Petraeus aufhängen.

Solche Anekdoten hat der Künstler zu jedem seiner Ausstellungsstücke auf Lager. Es liegt eine Mischung aus Ärger und Sarkasmus in seiner Stimme, als er durch die Ausstellung führt. Cirios meistgebrauchtes Wort ist „lügen“ in all seinen Konjugationsformen: Fast alle der Geheimdienstler wurden schon mal gefragt, ob sie etwas von einer systematischen Überwachung wüssten. Und alle sagten nein. Cirios künstlerische Antwort auf die Verlogenheit: Er spioniert einfach zurück. Und ganz Berlin kann mitmachen.

Die Ausstellung von Paolo Cirio läuft noch bis zum 20. Juli 2015 in der NOME Galerie, Dolziger Straße 31, 10247 Berlin. 

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