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Warum ein Berliner Künstler weltweit Mauern mit Lego repariert

von Benedikt Plass-Fleßenkämper
Jan Vormann will die Welt ein bisschen schöner machen – mit Lego: Der gelernte Bildhauer repariert kaputte Mauern, rissige Häuserwände und andere löchrige Objekte mit den bunten Steinen. Im WIRED-Interview erzählt er von der Motivation hinter Dispatchwork, von interessanten Begegnungen und von Kunst im Mehrspielermodus.

Der in Berlin lebende Künstler Jan Vormann ist im Kunst-Kosmos längst kein Unbekannter mehr: Fernsehsender wie Arte, Zeitungen wie der britische Telegraph, etliche Design-Blogs und renommierte US-Websites wie The Verge haben schon über das Projekt Dispatchwork des diplomierten Bildhauers berichtet.

Was daran so besonders ist? Der 33-Jährige verschönert alte Gebäude, marode Sehenswürdigkeiten und rissige Wände mit Lego-Steinen. Und längst können sich Menschen überall auf der Welt an Dispatchwork beteiligen – das Projekt ist dank eines globalen Netzwerks zur Mitmach-Plattform geworden.

Vormann bezeichnet sich im WIRED-Interview als „überzeugter Anti-Nationalist“, der für eine „gemeinsame globale Kultur“ eintritt. „Meine Arbeiten sind oft persönliche Kommentare zu aktuellen Geschehnissen oder dienen dazu, die Aufmerksamkeit auf meiner Meinung nach besonders interessante Sachverhalte zu lenken“, sagt er. Seine große Leidenschaft sei jedoch das Reisen – „oder zumindest das Gefühl des Auf-Reise-Seins“.

WIRED: Wie bist du auf die Idee gekommen, Löcher in Mauern mit Lego-Steinen zu stopfen?
Jan Vormann: Dispatchwork begann 2007 während des italienischen Kunstfestivals Arte In Sabina. Wir – eine lose Gruppe Studenten der Künstlerin Karin Sander – wurden von den Organisatoren eingeladen, um unsere eigenen Projekte dort umzusetzen. Im Kern ging es mir bei Dispatchwork damals um die Einführung meist städtischer Streetart in diese ländliche Region, aber vor allem auch um eine formale Aussage bezüglich der Architektur der Dörfer in in der Region Sabina nördlich von Rom, ganz speziell um das Dörfchen Bocchignano. Die Bewohner haben das Dorf im Laufe der Zeit gleich einem Flickteppich, also einem Patchwork erbaut: Auf den zerbröselnden Sandstein-Grundmauern, noch aus der Zeit der Römer, entstanden die Häuser aus mit Moos überzogenem Kalkstein und anderen Wänden aus roten Ziegelbausteinen, diese dann wiederum geflickt wurden mit weißen Gasbetonbausteinen. Um die Mauern der Häuser vor dem Verfall zu bewahren, wurde offensichtlich immer jeweils das Material verwendet, das im Moment gerade zugänglich war. Da schien mir zur neuerlichen Reparatur der zufällige Griff in die Kiste mit den Lego-Steinen sehr naheliegend. Zumal gerade Plastik eines der prägenden Materialien unserer Zeit ist und eine riesigen Kontrast in Materialität sowie Intention erzeugt. Danach wurde ich dann eingeladen, das Projekt zu wiederholen – unter anderem in Tel Aviv, Berlin oder Amsterdam.

 

Ein von jan vormann (@janvormann) gepostetes Foto am 25. Sep 2015 um 9:28 Uhr

WIRED: Laut dieser interaktiven Karte warst du schon in 40 Städten rund um den Globus unterwegs. Wie finanzierst du deine Reisen?
Vormann: Auf dieser Karte befinden sich ungefähr 40 Städte, in denen ich selbst war. Aber die Fotos der Aktionen in den anderen rund 70 Städten aus aller Welt wurden mir von den jeweiligen Initiatoren zugestellt: Streetart-Begeisterte, Architektur- und Urbanistik-Studenten oder Grundschulklassen. Viele Menschen finden Gefallen daran, auf diese Weise spielerisch ihrer Stadt näherzukommen und auch ihren Wunsch nach Mitgestaltung auszudrücken. Daher werde ich von Zeit zu Zeit von Kommunen oder Festivals eingeladen. Das bedeutet dann, dass ich dort für eine Woche hinreise, manchmal auch länger, und mir meine Lieblingsorte aussuche, die Schäden aufweisen, und wie einen Gürtel mit kleineren Patches in den Straßenzügen drumherum aufziehe. Das Material stellt der Veranstalter, der es entweder in seinem Umfeld einsammelt oder es im Internet kauft. Selbst die detailreichen Patches, an denen ich manchmal bis zu sieben Stunden arbeite, benötigen selten eine riesig große Anzahl von Steinen, und zusammengefügt kann man schnell eine große Oberfläche überbrücken. Ich fülle die Löcher nach hinten übrigens nie ganz aus, meist besteht ein Patch nur aus einer einzigen Lage von Bausteinen.

WIRED: Treibt dich reiner künstlerischer Idealismus an?
Vormann: Ja, meistens. Ich finde es nicht nötig, aus allem einen wirtschaftlichen Nutzen schlagen zu müssen. Und obwohl zum Leben natürlich unabdingbar, hoffe ich mit den mir gegebenen Mitteln so gut wie möglich die Schattenseiten des Neoliberalismus zu meistern. Bezüglich Dispatchwork sehe ich mich mittlerweile zuweilen nur noch als Pressesprecher, der Interviews wie dieses gibt. Aber den Content liefern mittlerweile ja auch andere.

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WIRED: Nach welchen Kriterien suchst du die Objekte aus, die du behandelst?
Vormann: Jede Stadt erschließe ich mir auf unterschiedliche Art. Mal kenne ich schon vorab Personen, die mir dann Orte ans Herz legen. Und wenn nicht, dann begebe ich mich alleine auf Erkundungstour, erst in Reiseführern oder im Netz, und dann vor allem zu Fuß und draußen, in der Stadt. Nach ein paar Tagen Eingewöhnung finde ich dort dann die passenden Stellen. Und offensichtlich kann man nicht in jeder Stadt solche Gemäuer vorfinden, die Patches dann außerordentlich wirken lassen: Mauern von Bedeutung, wie solche in Berlin, Nikosia oder die Große Mauer von China. Und dennoch steckt in allen Mauern – und vor allem denjenigen mit Löchern – immer ein Stück Geschichte, das ich dort währenddessen offenlege. Im einfachsten Fall kommen mir der Bewohner des Hauses selbst oder neugierige Passanten entgegen und klären mich auf. An den Gotteshäusern scheinen sich die Geister zu scheiden, ob es angebracht ist, dort die Wände zu bespielen. Meiner Ansicht nach ist es das selbstverständlich, denn zum öffentlichen Raum gehören diese Wände unweigerlich dazu. Die Reaktionen sind aber sehr unterschiedlich. Der eine Priester findet es cool und lässt es zu, der andere findet es bescheuert, aber bekommt es vielleicht nicht einmal zu Gesicht. Man darf nicht vergessen, dass die meisten Patches eine sehr begrenzte Lebenszeit haben.

 

Ein von StreetArtGlobe (@streetartglobe) gepostetes Foto am 4. Jan 2016 um 8:43 Uhr

WIRED: Du triffst auf viele Menschen. Wie sind die Reaktionen, wenn sie deine Arbeit sehen?
Vormann: Es ist super mit den Menschen während den Aktionen in Kontakt zu kommen. Einige Passanten zeigen sich davon offenkundig animiert oder zumindest ermuntert, manche bedauern im Vorbeigehen, dass die Arbeit schmuck, aber am nächsten Morgen bestimmt schon wieder verschwunden sein wird. Aber es geht genau um diese kurzen Momente. Zahlreiche Male hat mir die Arbeit draußen an der Wand die Türen in die Wohnzimmer der Anwohner geöffnet, in ihre Privaträume, und viele von ihnen habe ich fest ins Herz geschlossen, sie sind mitunter gute Freunde geworden. Jedenfalls ist es für mich immer wieder von Neuem atemberaubend, die meist grenzenlose Freude in den Gesichtern der Menschen zu sehen.

WIRED: Was war das bisher denkwürdigste Erlebnis auf deinen Reisen?
Vormann: Diese Reisen sind für mich wie Lehrstoff, immer noch schaue ich allen erwartungsvoll entgegen. Denn in allen Städten sind die Reaktionen anfänglich schwer einschätzbar. In Birmingham etwa waren die Menschen sehr interessiert und höflich, aber gleichzeitig doch distanziert, wobei ich in Sofia ständig umgeben war von Menschen, die auch direkt den Einstieg gefunden und mich tatkräftig unterstützt haben. Dort gingen wir dann gezielt auch in benachteiligte Stadtteile. Nach meiner Aktion in New York bekam ich eine Nachricht von der Mutter zweier Kinder, die es traurig und sehr bedauerlich fand, dass ich die Aktionen quasi nur in Manhattan ereigneten, dort wo, wie sie fand, „immer alles stattfindet“. Seitdem beziehe ich noch mehr das soziale Umfeld der Stadtteile ein und berufe mich nicht mehr nur auf architektonische Relevanz, zum Beispiel das Reparieren von wichtigen Monumente und dergleichen.

WIRED: Welcher Ort wäre deine Traum-Location für Dispatchwork?
Vormann: Ein Straßenzug in einer warmen Stadt, in dem sich die Anwohner versammeln und gemeinsam Zeit damit verbringen, ihre Stadt zumindest für diesen kurzen Zeitraum zu einem bunteren, freundlicheren Ort zu verwandeln.

WIRED: Woher bekommst du eigentlich all die Lego-Steine?
Vormann: Wie schon gesagt: So viele Steine sind das dann ja gar nicht. Wenn ich vor Ort kein Material geschenkt bekomme dann kostet ein Kilogramm Lego in Europa auf eBay zwischen 20 und 30 Euro. Und mit zwei, drei Kilo kann man dann schon eine beträchtliche Fläche aufziehen. Mir ist es diese Investition dann einfach auch wert, wenn ich zum Beispiel mir unbekannte Städte und Menschen kennenlernen will oder das Gefühl habe, ich möchte ein schönes Zeichen setzen – oder einfach meine Signatur hinterlassen: I was here. Mit dem Konzern Lego arbeite ich eigentlich seit Jahren nicht mehr zusammen. Zum einen macht es das Konstrukt des Konzerns aus vielen einzelnen Abteilungen, die wiederum zuständig für die jeweiligen Länder sind, unübersichtlich und kompliziert, einen konkreten Ansprechpartner zu finden. Zum anderen wirkt es so, als würden der Konzern nur gerne sein Logo auf die Installationen klatschen, ohne sich Gedanken über meine Motivation oder die der anderen Teilnehmer zu machen.

 

Ein von Paname Goodman (@panamegoodman) gepostetes Foto am 4. Okt 2014 um 15:29 Uhr

WIRED: Wird Dispatchwork eines Tages abgeschlossen sein?
Vormann: Das Projekt läuft nahezu zehn Jahre, mal sehr intensiv und manchmal einfach nur so nebenher. Schon vor geraumer Zeit habe ich damit begonnen, Dispatchwork in den Mehrspieler-Modus zu überführen. Dem Ganzen ein Ende zu bereiten, erscheint mir daher völlig abwegig. Alle meine Arbeiten werden mich mein Leben lang begleiten, aber diese natürlich auf ganz besondere Art und Weise. 

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