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Zukunft der Musik / Hatsune Miku ist ein Popstar zum Selbermachen

von Jan Wehn
Hatsune Miku aus Japan ist der perfekte Popstar. Sie hat eine makellose Stimme, wird nicht älter, braucht keinen Schlaf und hat keine Starallüren. Denn sie ist nur ein Computerprogramm.

Als der Mitte der Neunziger verstorbene Rapper Tupac im Jahr 2012 durch ein Hologram auf der Bühne des Coachella-Festivals wieder zum Leben erweckt wurde, feierten Musikfans das als Offenbarung. Kaum war 2Pac von der Bühne verschwunden, dachte man schon über die holographische Wiedergeburt von Bands wie Nirvana oder Queen nach. Neu war die Idee allerdings nicht.

Das im japanischen Sapparo ansässige Musikunternehmen Crypton Future Media erfand schon 2008 den ersten Popstar-Avatar der Welt: Hatsune Miku, einen sogenannten Vocaloiden, der durch Sprachsynthese künstlichen Gesang erzeugen kann. Das äußere Erscheinungsbild formte man durch Illustrationen, Videos und Projektionen. Sieben Jahre später ist sie der japanische Popstar schlechthin, hat auf Facebook 2,6 Millionen Fans und empfängt regelmäßig Zehntausende Anhänger zu ihren Hologramm-Konzerten.

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Crypton-Future-Chef Hiroyuki Itoh Entwickelt entwickelte Hatsune Miku, was auf japanisch so viel heißt wie „Der erste Klang der Zukunft“, ursprünglich als Stimme für den Software-Synthesizer Vocaloid, der künstlichen Gesang durch Sprachsynthese ermöglicht. Nach dem das 1995 gegründete Unternehmen bereits zwei solche Geräte entwickelt hatte, deren Stimmumfang und -qualität der von professionellen Musikern entsprach, wollte die Firma noch einen Schritt weiter gehen. Crypton Future entwickelte die perfekte Sprech- und Gesangsstimme und gab ihr ein Gesicht: das von Hatsune Miku.

Sie ist ein Synthesizer, der nicht nur mit Noten, sondern auch mit Wörtern gefüttert werden kann.

Cosima Oka, Marketing-Managerin von Hatsune Miku

„Ihre Stimme unterscheidet sich nicht sonderlich von anderen virtuellen Instrumenten“, sagt Cosima Oka, Marketing-Managerin von Hatsune Miku. „Der Unterschied ist, dass der Synthesizer nicht nur mit Noten, sondern auch mit Wörtern gefüttert werden kann. Man gibt den Text ein, kombiniert ihn mit einer Melodie und Hatsune Miku singt den fertigen Song.“

Anstatt auf die Stimme eines professionellen Sängers zurückzugreifen, arbeitete Crypton Future für den Synthesizer Vocaloid mit Saki Fujita zusammen, einer berühmten Synchronstimme für Animefilme und -serien. Dadurch ist Hatsune Mikus Gesangsstimme perfekt für die Wiedergabe von Titeln im typischen J-Pop-Stil geeignet, dem in Japan am weitesten verbreiteten Popmusikgenre.

Das ist nur konsequent, erinnert Hatsune Miku mit ihren langen, grünen und zu Zöpfen gebundenen Haaren, den unnatürlich großen Kulleraugen Augen, der winzigen Stupsnase und der ultrakurzen Schulmädchenuniform doch optisch an die Charaktere aus japanischen Manga-Comics oder Anime-Serien — ein fester Bestandteil der japanischen Popkultur. Den Look des virtuellen Popstars entwarf der aus Hokkaido stammende Illustrator KEI.

Hatsune Miku ging mit Lady Gaga auf Tour und trat bei David Letterman auf.

Optisch und akustisch bestens auf den japanischen Markt abgestimmt, hat Hatsune Miku sich seit dem Beginn ihrer Karriere durch mittlerweile mehr als 100.000 Videos gesungen und getanzt, die auf Videostreamingplattformen in Japan und China, aber auch den USA, auf mehr als 88 Millionen Aufrufe kommen. Im letzten Jahr spielte sie in einem Werbespot des Autoherstellers Toyota mit und warb für Google Chrome. Außerdem begleitete sie Lady Gaga auf deren „Art Pop Tour“ durch 16 Städte in Nordamerika, spielte eigene Konzert ein Los Angeles und New York und gab ihr TV-Debüt in der Late-Night-Show von David Letterman.

Was man sonst noch über Hatsune Miku weiß? Sie ist 16 Jahre alt, wiegt 42 Kilogramm und ist 1,58 Meter groß. Infos über einen biografischen Background oder pikante Details aus dem fiktiven Leben der Sängerin sucht man allerdings vergebens. Aus einem ganz einfachen Grund: „Hatsune Miku ist nur eine Leinwand, auf der Fans und Produzenten ihre ganz eigene Version von ihr erstellen, die jedes Mal in einem anderen Stil, mit einem anderen Charakter und einer neuen Geschichte versehen ist“, erklärt Cosima Oga. Und genau deswegen seien auch keine Interviews mit ihr möglich.

Hatsune Mikus Auftreten und ihre Stimme sind gegeben, alles andere entsteht durch das Zutun der Community. Die Fans werden so selbst zu interaktiven Produzenten, die Musik und Texte, Illustrationen oder sogar animierte Videoclips schaffen und die Karriere von Hatsune Miku nach ihrem Belieben weiter vorantreiben. Einige Fans haben das Programm Miku Miku Dance entwickelt, um der virtuellen Sängerin auch das Tanzen beibringen zu können. Zuletzt veröffentlichte sogar Starproduzent Pharrell Williams einen Remix von Hatsune Mikus Song „Last Night, Good Night (Re:Dialed)“.

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Crypton Future Media nutzt die unbändige Kreativität der Community natürlich auch monetär. Seit 2012 steht die originäre Illustration von Hatsune unter einer Creative-Commons-Lizenz zur Verfügung und darf für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Jedes neue Lied oder Video muss allerdings zuerst von der Firma freigegeben werden. Dennoch: Über 3000 verschiedene Stücke wurden schon via iTunes und Amazon verkauft. Außerdem hat Crypton Future eine Webseite eingerichtet, auf der die Fans der virtuellen Sängerin sich austauschen und gemeinsam neuen Projekte planen können.

Trotz Werbedeals und Lady-Gaga-Tour feiern Hatsune Miku und andere sogenannte Vocaloiden wie Kagamine Rin/Len derzeit nur in asiatischen Ländern wirklich große Erfolge. In Korea sind sogenannte V-Konzerte — virtuelle Gigs, bei denen Fans Projektionen auf der Bühne anfeuern — gerade sehr angesagt. Dass virtuelle Sänger wie Hatsune Miku menschliche Künstler irgendwann ersetzen werden, glaubt Cosima Oka aber nicht. Sampler und Synthesizer hätten es schließlich auch nicht geschafft, echte Instrumente vom Markt zu verdrängen.

„Stimmsynthesizer sind neue Tools, die Menschen die Veröffentlichung von Kunst ermöglicht, die dazu sonst vielleicht niemals die Chance gehabt hätten“, sagt Oga. „Wir wollen vor allem junge Leute auf der ganzen Welt dazu bringen, Musik zu hören oder zu machen und so Einfluss auf die Musikindustrie und das kulturelle Leben zu nehmen.“ Ein durchaus löblicher Ansatz in Zeiten, in denen die Charts von Konserven-Pop angeführt werden. Aber die Popularität der computergenerierten Vocaloid-Persönlichkeiten aus Japan zeigt noch etwas ganz anderes.

Der beliebig formbare Open-Source-Künstler ohne eigenen Willen

Hatsune Miku ist kein Popstar zum Anfassen, sondern einer zum Selbermachen. In Zeiten, in denen Künstler durch Dienste wie Twitter oder Instagram und ihre ständige Präsenz vermeintliche Nähe suggerieren, aber letztlich doch immer Distanz wahren, wird der nach Belieben formbarer Open-Source-Künstler ohne eigenen Willen zum perfekten Pendant zum klassischen Popstar.

Schon jetzt holen viele Fans, auch in der westlichen Welt, durch das Schreiben von fiktiven Geschichten über ihre Idole die unerreichbaren Helden vom Podest und formen sie mit Hilfe von Interview-Versatzstücken in sogenannten Fan-Fictions nach ihrem eigenen Geschmack. Das ist nur verständlich. Ob sich derart digitale DIY-Künstler wie Hatsune Miku allerdings durchsetzen werden, muss sich erst noch zeigen.

Welche Sounds werden unsere Zukunft bestimmen? Wer wird sie für uns erschaffen? Und womit? Das erfahrt ihr den ganzen Februar lang in unserem Themen-Special „Zukunft der Musik“ auf WIRED.de. 

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