Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Der Staat greift Netzpolitik.org an — und wir alle müssen uns wehren

von Michael Seemann
Die Bundesanwaltschaft geht gegen Blogger vor, die geheime Dokumente über Überwachung öffentlich gemacht haben. Damit zeigt der Staat, dass er lieber auf Repression als auf Transparenz setzt. Dem müssen wir uns alle entgegenstellen, findet unser Gastautor Michael Seemann.

Seit gestern wissen wir, dass die Bundesanwaltschaft gegen das Blog Netzpolitik.org wegen Landesverrats ermittelt. Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass gegen eine journalistische Institution wegen einer solchen Anschuldigung vorgegangen wird. Die den Ermittlungen zugrundeliegende Strafanzeige bezieht sich auf die Veröffentlichung geheimer Dokumente, in denen unter anderem die Pläne zur Internetüberwachung durch den Verfassungsschutz ausgebreitet werden.

Unsere Welt ist für die Transparenz, die die Digitalisierung gebracht hat, nicht ausgelegt.

Wir kennen das alles schon. Seit 2010 sehen wir immer wieder Beispiele, wie Regierungen und Firmen weltweit die Kontrolle über ihre Geheimnisse verlieren. WikiLeaks enthüllt diplomatische Depeschen, Edward Snowden die weltweite Massenüberwachung, und auch in Deutschland tauchen immer öfter politisch brisante Dokumente auf, die die Regierung in der NSA-Affäre in Bedrängnis bringen.

Mit Netzpolitik.org steht nun ausgerechnet das Blog im Fadenkreuz, das den Geheimdienstskandal wie kein zweites Medium begleitet und durchleuchtet hat. Die Blogger waren es, die die Protokolle zum NSA-Untersuchungsausschuß in emsiger Handarbeit jedes Mal aufs Neue der Öffentlichkeit zugänglich machten. Sie waren es, die immer wieder geheime Dokumente nicht nur zitierten, sondern in Gänze veröffentlichten. Auch die, wegen derer sie nun angezeigt wurden.

Sieht man die Welt mit den Augen des Staates, wird klar, dass das Problem ein grundlegenderes ist als nur ein paar veröffentlichte Dokumente. Unsere Welt ist für die Transparenz, die die Digitalisierung gebracht hat, nicht ausgelegt. Selbst unsere demokratischen Institutionen verlassen sich immer noch auf die Möglichkeit, Geheimnisse zu haben — und sie zu behalten. Aus der Logik ihres Funktionierens heraus ist es daher nur folgerichtig, gegen alles vorzugehen, was die Mechanik der Geheimhaltung bedroht. Gegen den Kontrollverlust.

Das Internet ist eine riesige Kopiermaschine, die eingeschliffene Informationsflüsse aus der Bahn wirft. Je weiter seine Kapazitäten ausgebaut werden, Informationen von A nach B zu kopieren, desto größer wird die Bedrohung durch den Kontrollverlust. Eine Entwicklung, die den Staat konzeptionell in Bedrängnis bringt. Er steht vor der Wahl:

#1 Entweder kann er diese Entwicklung akzeptieren, seine Prozesse der zunehmenden Unkontrollierbarkeit von Information anpassen und die Mechanik der Geheimhaltung zugunsten einer transparenteren Alternative aufgeben.

#2 Oder aber, er setzt alles daran, seine Geheimnisse gegen alle äußeren Kräfte zu schützen. Mit zunehmendem Kontrollverlust muss dies aber immer brutaler geschehen. Der Staat wird irgendwann zum repressiven, ja vielleicht sogar totalitären Staat.

Die Entscheidung, gegen Netzpolitik.org vorzugehen, lässt sich nicht anders lesen: Die Bundesregierung ist bereit, den zweiten Weg zu gehen. Und es ist nun an uns, zu zeigen, dass sie in dieser Richtung keinen Schritt weiter kommen wird.

Der Angriff auf Netzpolitik ist ein Bündnisfall für die zivilen Kräfte des Internets.

Der sogenannte Streisand-Effekt bezeichnet das Phänomen, dass Informationen, die eigentlich aus dem Internet gelöscht werden sollen, genau dadurch zusätzliche Aufmerksamkeit erfahren. So hatte Barbra Streisand 2004 versucht, ein Bild ihres Hauses per Klage aus dem Internet zu entfernen. Daraufhin verbreitete sich das Foto auf allen möglichen Websites — zusammen mit dem Hinweis, dass es sich um Streisands Haus handle.

Die Ermittlungen gegen Netzpolitik.org beschwören nun eine Art erweiterten Streisand-Effekt herauf. Nicht nur rücken die betreffenden Dokumente erst recht in den Fokus des öffentlichen Interesses. Zusätzlich stellen sich auch alle zivilen Kräfte, die sich in den letzten Jahren im Netz formiert haben, vor die Blogger. Egal, welche Meinungsverschiedenheiten es in der Vergangenheit in der Szene gegeben hat: Der Angriff auf Netzpolitik.org ist ein Bündnisfall. 

MICHAEL SEEMANN ist Autor des Buches „Das Neue Spiel: Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust“, bloggt unter mspr0.de und moderiert den Podcast „Wir. Müssen Reden“. Bei Twitter ist er als @mspro unterwegs. 

GQ Empfiehlt