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Demonstranten in Hongkong nutzen FireChat für den Widerstand

von Max Biederbeck
Bei den Protesten in Hong Kong brechen vor Überlastung die Handynetze zusammen. Auf dem Festland zensiert die chinesische Regierung das Web. Demonstranten und ihre Unterstützer weichen deshalb auf ein neues Internet aus. Sie kämpfen per Mesh-Netzwerk für ihre Demokratie.  

Christophe Daligault saß in seinem Büro in San Francisco, als die Downloadzahlen von FireChat explodierten. Binnen 24 Stunden hatten rund 100.000 User den Messaging-Dienst seiner Firma Open Garden heruntergeladen. Die meisten kamen von der anderen Seite des Pazifiks, aus Hongkong. Dort schlossen sich die Bewohner an diesem Sonntag gerade zu ersten Großdemonstrationen gegen die chinesische Regierung zusammen. Peking will die Kandidaten für die anstehenden Wahlen in der Stadt bestimmen. Die Bürger fürchten um ihre demokratischen Rechte. Mittlerweile drohen die Proteste zu eskalieren.

Die Demonstranten koordinieren ihre Aktionen mit unserem Programm. Sie verlassen sich auf uns. Deshalb müssen wir die Nächte durcharbeiten.

Christophe Daligault, CMO von open Garden

Um sich zu organisieren und Öffentlichkeit zu schaffen, nutzen die Demonstranten FireChat. Seit Montag seien noch einmal rund 100.000 User dazugekommen, schätzt Open Garden-CMO Daligault. Er hat seitdem kaum geschlafen. „Die Demonstranten koordinieren ihre Aktionen mit unserem Programm. Tausende verlassen sich darauf, dass es funktioniert. Deshalb müssen wir die Nächte durcharbeiten“, sagt er. Einen Zulauf dieser Größenordnung habe er noch nie erlebt. Bisher hielten die Server.

Der Fall Hongkong zeigt:  FireChat könnte zu einem der wichtigsten Tools für Demonstranten werden, die gegen ihre Regierung auf die Straße gehen.

Die App funktioniert ähnlich wie Twitter. Nachrichten werden in unterschiedlich großen Chatrooms gepostet, sind aber immer öffentlich. Das Besondere an FireChat ist der Übertragungsweg: Smartphones und Laptops können sich, ohne mit dem Internet verbinden sein zu müssen, mit einer „off the grid“-Funktion gegenseitig ansteuern, um eine Verbindung aufzubauen. Es entsteht ein so genanntes Mesh-Netzwerk, in dem jeder Teilnehmer mit jedem verbunden ist. Solche Netzwerke sind äußerst stabil und können nur schwer kontrolliert werden, etwa von Regierungen.

FireChat nutzt sowohl Wlan als auch Bluetooth, einzelne Geräte können bis zu 70 Meter voneinander entfernt sein. Das Austauschen von Nachrichten ohne Zugang zum Internet kann auf zwei unterschiedlichen Wegen geschehen: Ein Smartphone-User ohne eigenen Webzugang kann die Internet-Verbindung eines fremden Telefons anzapfen und trotzdem Inhalte posten – ähnlich wie bei einem mobilen Hotspot. Wenn es gar kein Internet mehr gibt, können Endgeräte per FireChat außerdem ein lokales Netzwerk aufbauen.

Selbst wenn das Internet komplett zusammenbricht oder abgeschaltet wird, können FireChat-User noch kommunizieren.

Selbst wenn das Internet also komplett abgeschaltet oder zusammenbrechen würde, könnten die Demonstranten mit FireChat noch miteinander kommunizieren. Es müssen nur genug von ihnen die App installiert haben. In Hongkong war diese kritische Masse schnell erreicht. „Erst haben uns nur ein paar Blogger vor Ort empfohlen, dann nutzten uns immer mehr Leute“, sagt Daligault. Ein Selbstläufer, der dank der zehntausenden Demonstranten auf der Straße zu immer besseren Verbindungsstrukturen führte. Das normale Netz brach schon nach kurzer Zeit völlig überlastet zusammen, FireChat dagegen funktionierte einwandfrei. Die Menschen konnten weiter Nachrichten schicken oder sich in einzelnen Mesh-Netzwerken austauschen und koordinieren.

Trotzdem warnt Daligault: „Unsere App ist nicht für Revolutionen erfunden worden. Die Nachrichten sind immer öffentlich und können von jedem in der Nähe mitgelesen werden.“ An einer Verschlüsselung arbeite Open Garden zwar, es könne aber noch Monate dauern, bis sie zur Verfügung stehe.

Ist die App erst einmal auf einem Gerät, hat man kaum noch Einfluss auf den Datenstrom.

Christophe Daligault, CMO von open Garden

Auch auf dem chinesischen Festland gibt es immer mehr FireChat-User. Sie nutzen die App, um neuste Entwicklungen in Hongkong ohne staatliche Zensur verfolgen zu können. Die Zentralregierung in Peking hat beispielsweise Instagram außerhalb Hongkongs gesperrt, um genau das zu unterbinden. FireChat ist für viele Chinesen ein alternativer Weg, um weiter auf den Bilderdienst zugreifen zu können. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis die Zensoren darauf aufmerksam werden. „Sie können aber nur versuchen, die Leute am Download zu hindern. Ist die App erst einmal auf einem Gerät, hat man kaum noch Einfluss auf den Datenstrom“, sagt Daligault. Deshalb sei die Anwendung auch in arabischen Staaten oder im Iran erfolgreich gewesen. Aber auch in einwohnerstarken Ländern wie Indien oder den USA ist FireChat beliebt, weil es auf Massenveranstaltungen sicheren Netzzugang liefert.

Eigentlich, so Daligault, habe sein Unternehmen die App für wirtschaftlich schwache Regionen entwickelt, in denen es keine teuren Glasfaserkabel oder LTE-Netze gibt. Wo Google es mit Ballons probieren will, dachten die Macher von FireChat stattdessen an Handys. Die User entwickelten die Idee dann weiter, machten aus ihr ein politisches Instrument. Das zeigten Proteste in Taiwan im März, bei denen Studenten die App massenhaft herunterluden, weil sie eine Zensur des Internets befürchteten. Das zeigen auch Tausende von Downloads im Irak, wo das Internet wegen der Bedrohung durch die Terrorgruppe Islamischer Staat stark limitiert wurde. Und das zeigen die anhaltenden Proteste in Hongkong. 

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