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Dataismus erklärt den Menschen für unnütz – ist er längst noch nicht

von Johnny Haeusler
Vom Postfaktischen zum Dataismus: Stecken wir schon mitten im Zeitalter, das das Universum als einzigen Datenfluss begreift? Algorithmen treffen die besseren Entscheidungen, lautet eine der Thesen. Unser Kolumnist schreibt: Vielleicht. Aber der Mensch sei in einem Bereich nach wie vor unbesiegbar.

Das Wort des Jahres 2016 ist also „postfaktisch“. Ein „Kunstwort, das darauf verweist, dass es zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht und ein Teil der Bevölkerung bereit ist, auf den Anspruch auf Wahrheit zu verzichten, Tatsachen zu ignorieren und offensichtliche Lügen zu akzeptieren“.

Ich mag zwar kaum glauben, dass das je anders war, doch auch ich habe das Gefühl (ist das schon postfaktisch?), dass der Einfluss von Social Media und anderen digitalen, dauernd verfügbaren und auf verschiedenste Arten gefilterten Online-Kanälen mindestens die Verbreitung von Nachrichten beschleunigt. Ich habe ebenfalls das Gefühl, dass sich schnell konsumierbare, kurze Botschaften dabei leichter tun als komplexe Grautöne. Es gibt ja Gründe dafür, warum Clickbaits funktionieren. Und selbst wenn die Geschichte ausführlicher erzählt wird, bedeutet das nicht automatisch einen höheren Wahrheitsgehalt, die jüngste Diskussion um die Artikel zu Cambridge Analytica zeigen dies.

Nur Maschinen können in einer komplexen Welt  die richtigen Entscheidungen treffen.

Johnny Haeusler

Manche fordern: Wir sollten die Maschinen, die Algorithmen, die Portale besser kontrollieren, wir brauchen ein Zurück zum menschlichen Filter, zur Moderation, zur Redaktion. Andere schauen sich das alles erstmal in Ruhe an. Und wieder andere sagen: Wir brauchen nicht weniger Algorithmen, sondern mehr. Nur Maschinen können eine so gigantische Plattform wie Facebook moderieren. Nur Maschinen können in einer komplexen Welt voller miteinander verknüpften Fakten, Ursachen und Wirkungen die richtigen Entscheidungen treffen.

Das passiert bereits: Die Moral-Maschine des MIT versucht sich etwa spielerisch an solchen Behauptungen. Und der „Verbrechensradar“ von Rio de Janeiro setzt Datenanalysen ein, um mit einer App Menschen vor den Straßen zu warnen, für die Analysen eine erhöhte Gefahr berechnet haben.

Der Historiker Yuval Noah Harari hingegen läutet gleich ein neues Zeitalter ein. Nach dem Glauben der Menschen an Götter als einzige Authoritäten, und nach dem Humanismus, der den freien Willen ermächtigt, sieht Harari die nächste Stufe im „Dataismus“: einem Weltbild, welches das Universum als unendlichen Datenfluss betrachtet. Die menschliche Berufung ist in diesem Szenario die Erschaffung eines allumfassenden Datenverabeitungssystems, mit dem wir, die Menschen, verschmelzen sollen.

Die meisten Menschen, so Harari, würden sich selbst für Entscheidungsfindungen gar nicht gut genug kennen. Ein Algorithmus müsste nicht einmal perfekt sein, um bessere Entscheidungen zu treffen. Wir sind eigentlich überflüssig oder zumindest unnütz. Wer hatte diesen Gedanken noch nie?

Ein Algorithmus müsste nicht einmal perfekt sein, um bessere Entscheidungen zu treffen.

Johnny Hauesler

Doch immerhin: Selbst Yuval Noah Harari gibt zu, dass auch Dataismus menschliches Bewusstsein bisher nicht durch Datenanalyse erklären kann. Und wer sich als Mensch so gut wie möglich informiert, bildet und sich selbst gut kennt, trifft bessere Entscheidungen als der Algorithmus – der laut Harari dennoch nicht aufzuhalten sei.

Bei der Einführung der Wahl durch die Gesellschaft für deutsche Sprache im Jahr 1971 war das Wort des Jahres übrigens „aufmüpfig“. Es war vielleicht nicht alles schlecht früher…

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