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Putzen, niemals schießen: „Sunset“ ist das eigenwilligste Kriegsspiel seit Langem

von Oliver Klatt
Ein Spiel über Krieg, in dem man keinen einzigen Schuss abgeben muss. Eine Heldin, die aufräumt und saubermacht, statt zu schießen. Politische Intrigen und eine Luxuswohnung voller Kunst. Das sind die Zutaten von „Sunset“ — einem Game, das da weitermacht, wo andere Kriegsspiele versagen.

Seit einem Jahrzehnt versucht das Künstlerpaar Auriea Harvey und Michaël Samyn aus Belgien unter dem Namen Tale Of Tales, die Möglichkeiten des Mediums Videospiel auszuloten. „The Endless Forest“ war eine Online-Multiplayer-Hirschsimulation, „The Path“ verpasste dem Märchen vom Rotkäppchen einen zeitgemäßen Anstrich, und das preisgekrönte „Luxuria Superbia“ ist das erste wirklich gelungene Erotikgame. Mit „Sunset“ widmen sich die beiden nun dem Kriegsspiel-Genre. Aber nicht Herumgeballer und Brutalität stehen hier im Mittelpunkt, sondern die Beziehung einer Haushälterin zu ihrem kunstvernarrten Arbeitgeber — einem Mann, den sie niemals zu Gesicht bekommt.

Schauplatz von „Sunset“ ist San Bavón, die von Bürgerkriegsunruhen gezeichnete Hauptstadt des fiktiven lateinamerikanischen Landes Anchuria. Es ist das Jahr 1972. Der despotische Präsident des Landes unterjocht sein Volk mit Unterstützung der Weltmacht USA, Rufe nach Revolution werden laut und mit Militärgewalt wieder erstickt. Anschläge häufen sich, Menschen werden verhaftet und verschwinden. Jeder misstraut jedem. Todesangst und Paranoia haben das einst so lebensfrohe San Bavón in einen Zustand der Lähmung versetzt.

Putzen und Geschirr schülen, während vor dem Fenster Militär marschiert und in der Ferne Bomben explodieren

„Wir haben ,Sunset‘ zu Beginn der Siebzigerjahre angesiedelt, weil das die Zeit war, in der es der Befreiungsbewegung erstmals gelang, Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen“, sagt Michaël Samyn. „Andererseits nahm damals aber auch eine Entwicklung ihren Anfang, die humanistische Ideale zu Ideologien pervertierte, die diesen Idealen genau entgegenstehen.“ Mit der Verortung des Spiels in einem fiktiven Staat und eine längst vergangene Zeit wollten Samyn und Harvey eine Distanz schaffen, die es dem Spieler erlaubt, über diese Themen nachzudenken, ohne sich von Fragen der historischen Authentizität ablenken zu lassen.

Dabei fallen die Aufgaben des Spielers überraschend alltäglich aus. In der Rolle der jungen, aus den USA immigrierten Haushälterin Angela Burnes muss man in der Wohnung des wohlhabenden Kunstsammlers Gabriel Ortega für Ordnung sorgen. Einmal pro Woche fährt Angela mit dem Aufzug zu dessen feudalem Penthouse hinauf und arbeitet die häuslichen Pflichten ab, die Ortega ihr auf einem Zettel dagelassen hat. Sie muss putzen und Geschirr spülen, Bücher sortieren und Bilder aufhängen, den Tisch decken und das Bett machen. All das, während draußen vor dem Fenster Militärparaden marschieren, Kampfflugzeuge über das Dach hinwegdonnern und in der Ferne Bomben explodieren.

So vielfältig das Handlungsspektrum im Vergleich zu herkömmlichen Kriegsspielen auch ausfällt, so wenig hat es mit ihnen auf den ersten Blick gemein. Samyn sieht trotzdem Parallelen: „Eine Liste mit Aufgaben abzuarbeiten ist überhaupt nichts ungewöhnliches für ein Videospiel. Wenn man die Sache etwas abstrakter betrachtet, sind viele Spiele in ihrem Kern Reinigungsspiele. Man muss in ihnen das Schlachtfeld von Gegnern säubern, Hindernisse aus dem Weg räumen, Dinge einsammeln und in eine ordentliche Reihenfolge bringen.“ Lediglich das virtuelle Töten fällt hier weg. Angela muss nicht ein einziges Mal zur Waffe greifen.

Ein Spiel über die Menschen, an denen man in anderen Spielen immer nur vorbeihastet

Doch zum Glück ist „Sunset“ mehr als nur eine Haushaltssimulation. Das Spiel ist auch eine sehr persönliche Geschichte und ein vielschichtiges Rätsel. Denn jedes Mal, wenn Angela Ortegas Wohnung betritt, hat sich etwas darin verändert. Immer mehr Gemälde und Skulpturen stehen plötzlich in der zweistöckigen Wohnung und auf der Terrasse herum, Bücher und Schallplatten stapeln sich auf den Tischen und auf dem Fußboden. Statuen des im Schweiße seines Angesichts schuftenden Herkules erinnern an die Leiden und die Triumphe menschlicher Anstrengung. Zweigesichtige Janus-Büsten stehen für die Dualität von Krieg und Frieden, Zukunft und Vergangenheit. Das Videospiel selbst wird in „Sunset“ zum Museum, zum Ausstellungsraum.

Die turbulenten Zeiten außerhalb seiner Luxuswohnung machen Ortega, der vor Ausbruch der Unruhen Kurator des Nationalmuseums von San Bavón war, offensichtlich zu schaffen. Es scheint, als wolle er so viele kulturelle Artefakte wie möglich unter seinem Dach in Sicherheit bringen, bevor sie dem Kampf zwischen Militärregime und Guerillas zum Opfer fallen. „Weil man Ortega im Spiel nie persönlich begegnet, ist es seine Wohnung, die seinen Charakter widerspiegelt“, sagt Harvey. „Unsere Idee war es, seine Geschichte durch die Gegenstände zu erzählen, die er offen zur Schau stellt und durch die Dinge, die er versteckt hält. Je mehr man von letzteren findet, desto besser lernt man Ortegas Persönlichkeit kennen.“

Abhängig von den Entscheidungen des Spielers kommen sich der Kunstliebhaber und seine Haushälterin im Laufe der Monate immer näher. Angela entdeckt in Ortegas Unterlagen Hinweise auf Machenschaften der Militärregierung, die für ihren Bruder und seine Freunde aus dem Widerstand nützlich sein könnten. Ortega wiederum hinterlässt für Angela kleine Notizen in seiner Wohnung. Ein Dialog über Kunst, Schönheit und das richtige Handeln in einer scheinbar ausweglosen Situation entfaltet sich zwischen den beiden. Immer wieder hört man als Spieler Angelas Gedanken im eigenen Kopf. Und wenn man sich geschickt genug anstellt, findet sie neben ihren Haushaltspflichten noch genügend Zeit, um sich in Ortegas großen Sessel zu setzen und in ihr Tagebuch zu schreiben.

Über das, was sich in den Häusern abspielt, die in ‚Battlefield‘ oder ‚Call of Duty‘ nur Kulissen sind

Während andere Games den Spieler auf Seiten der Ordnungsmacht oder der Revolutionäre in den Kampf schicken würden, stehen hier die Nebenfiguren im Mittelpunkt. Menschen, die um ein richtiges Leben im Falschen bemüht sind. Menschen, die Angst haben. „Seit wir beide das erste, großartige Kapitel von ,Half-Life 2‘ gespielt haben, ist uns dieses Paar in Erinnerung geblieben, das auf einem Bett sitzt und den Helden mit furchterfüllten Augen anschaut“, sagt Samyn. „Wir hätten das Spiel gern in der Rolle dieser beiden weitergespielt. Weil es sich für uns realer anfühlen würde, als den Helden zu geben. Aber natürlich erlaubt ,Half-Life 2‘ das nicht.“ Mit ,Sunset‘ haben Samyn und Harvey ein Spiel über jene Personen machen, an denen man in anderen Spielen auf der Suche nach neuen Abschusszielen stets vorbeihastet. Über das, was sich in den Häusern abspielen könnte, die in „Battlefield Hardline“ oder „Call of Duty: Black Ops“ nur Kulissen sind.

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Neben einem politischen Kommentar und einem Gegenentwurf zu festgefahrenen Videospielkonventionen ist „Sunset“ aber auch ein sehr persönliches Spiel geworden. Ähnlich wie die zwei Hauptfiguren, die über schriftliche Notizen und kleine Gesten miteinander kommunizieren, haben sich auch Samyn und Harvey aus der Distanz kennengelernt. „Wir haben uns 1999 in einem Online-Chatroom ineinander verliebt. In einer Zeit ohne Facebook, ohne Google und ohne iDevices“, erinnert sich Samyn. „Auch das war eine Inspiration für das Spiel. Denn es ist ein wundervolles Gefühl mit einer anderen Person verbunden zu sein, auch wenn sie weit weg ist. Auriea und ich begannen damals sofort, miteinander zu kollaborieren. Das hat die Art, wie Angela und Ortega in ,Sunset‘ zusammenarbeiten, sicher beeinflusst.“

Wie bei jedem ihrer Spiele haben Tale Of Tales auch die Entstehung von „Sunset“ gewissenhaft dokumentiert. Auf ihrem Entwicklerblog geben Harvey und Samyn Einblicke in den Schaffensprozess. In „Reflections Of A Housekeeper“ kann man in Angelas fiktiven Tagebuch stöbern. Und wer nach dem Spielen mehr über die kunsthistorischen Hintergründe zu Ortegas Sammlung und sein ausgeprägtes Gespür für Innenarchitektur erfahren möchte, vertieft sich in den Tumblr-Blog „In The Silence Of A Setting Sun“.

„Sunset“ ist für PC, Mac und Linux erschienen und kann hier heruntergeladen werden. 

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