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Beim Transmedia-Storytelling werden tausende Leser selbst zu Erzählern

von Johanna Wendel
Ein Mann aus der Zukunft, der unsere liebsten Dinge sammeln will. Ein Mordfall, den wir nur mit dem Internet der Dinge lösen können. Oder die persönlichen Briefe eines getrennten Zwillingspaars. Storytelling im Internet ist ein unglaublich vielseitiges Medium geworden.

Textwüsten durchackern war gestern. Heute lassen Plattformen ihre User lieber selbst zum Autoren werden. Anstatt eine Geschichte auf einen Ort zu beschränken, schreiben und posten Menschen aus aller Welt sie als Teil eines großen Spiels gemeinsam. Online-Storys werden zum Projekt der Crowd. Bekannt ist dieses Konzept als Transmedia oder Crossmedia Storytelling. Die beiden Gattungen weisen feine Unterschiede auf, genauso wie die Projekte, die darunter zusammengefasst werden. Drei Beispiele zeigen, wie vielseitig das Erzählen von Geschichten heute aussehen kann.

HeyHarryHeyMatilda“
„HeyHarryHeyMatilda“ war die Idee der amerikanischen Fotografin und Kinderbuch-Autorin Rachel Hulin. Ausgehend von einem Blog, der dann für eine Weile ohne Aktualisierung in den Tiefen des Internets verschwand, griff sie die Geschichte ihrer beiden Helden wieder auf und begann, sie stückweise und bebildert auf Instagram zu veröffentlichen.

„Matilda und Harry sind Zwillinge und ich wollte schon immer etwas darüber schreiben, welches Verhältnis Zwillinge im Erwachsenenalter zueinander haben. Nebenbei hatte ich auch einige Fotoprojekte am Laufen und mit einem Kinderbuch ‚Flying Henry‘ Bilder und Text miteinander gepaart. Für mich gehört das irgendwie zusammen“, erklärt Hulin. Sie postet jeden Tag ein neues Bild mit einem neuen Häppchen der Geschichte, das auf dem Dialog der zwei Protagonisten beruht.

Wie groß der Abschnitt ist, entscheidet sie spontan. Die Bilder kommen aus ihrem Archiv oder sie nimmt extra neue Fotos auf. „Vor ein paar Tagen kündigte sich bei mir Zuhause ein Hurricane an und das Wetter war düster und ungemütlich. Da entschied ich mich spontan, ein paar dieser Augenblicke bei ‚HeyHarryHeyMatilda‘ einfließen zu lassen. Es hat zu meiner Stimmung gepasst und machte die Geschichte lebendiger.“

Nach und nach sammelten sich fast 5000 Instagram-Follower an und gaben ihr Feedback. Das kannte Hulin vorher nicht. Ihre Leser gingen direkt auf einzelne Teile der Geschichte ein und nahmen selbst Einfluss. Hulin bekam sogar E-Mails, in denen junge Frauen Matilda um Rat fragten. „Die ganze Geschichte entwickelt sich immer weiter, obwohl ich dachte, sie wäre fertig“, sagt Hulin.

Bei „HeyHarryHeyMatilda“ ist das mehrschichtige Erzählen auf die geringste Komponentenanzahl, nämlich zwei, heruntergebrochen. Hulin benutzt Instagram als Bilderbuch, erzählt die Geschichte stückweise, so dass der Leser auf den nächsten Teil warten muss, anstatt einfach umzublättern.

Things that matter: The future Wunderkammer
Diese Geschichte beginnt mit einem mysterösen Vimeo-Video. Ein Mann erzählt darin, er käme aus der Zukunft und wolle Eindrücke aus der Vergangenheit sammeln. Er heißt Yuri und lebt im Jahr 1102 After the Blackout (kurz A.B.), was etwa dem Jahr 3157 unserer Zeitrechnung entspricht. Laut Yuri wurde nach dem Blackout alles ausgelöscht, all die schönen Gegenstände, die uns wirklich etwas bedeutet haben und nichts mit Reichtum oder Status zu tun haben. Er möchte sie in seiner „Wunderkammer“ sammeln und wissen, was sie uns bedeuten. Er spricht immer wieder von den „Things that matter“.

In der „Wunderkammer“ kann jeder sein Lieblingsstück hochladen, es mit Hashtags und einer kurzen Geschichte versehen. T-Shirts, Kameras und Schmuck sind wohl die typischeren Fundstücke der Kammer. Eine Feder, eine Walnuss oder Verschlussclips werden erst durch ihre persönliche Geschichte zu etwas besonderem. Das Lieblingsstück von „Things that matter“-Mitgründerin Alessia Rotondo ist eine Sonnenbrille. „Der Einsender erzählt, dass es die Brille seiner oder ihrer Mutter ist. Es hat mich sehr berührt, da ich ebenfalls die Sonnenbrille meiner Mutter trage.“

Alessia Rotondo und Valentina Ciarapica bauten „Things that matter“ im Zuge eines Workshops in nur 14 Tagen. Vergangenes Jahr gehörten sie mit ihrem Projekt zu den zwölf Finalisten eines cross- und transmedialen Storytelling-Wettbewerbs mit dem Schwerpunkt Anthropozän im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Frei übersetzt: das Zeitalter der Menschen.

Rotondo sieht transmediales Storytelling als neuen Teil der Medien-Galaxie, aber nicht als Ersatz für andere Medien. „Beim Transmedia Storytelling ist man mehr in der Rolle eines Spielführers, als in der eines Autors. Du gibst den Leuten eine Geschichte vor und sie können beliebig Einfluss darauf nehmen. Trotzdem wird es kein anderes Medium ersetzen.“ Nach einem Buzz zum Launch des Projekts kommen nur noch sporadisch neue Geschichten nach und die erste Phase des Projekts ist abgeschlossen.

Und als Nächstes? „Wir wollen mit dem Projekt in eine zweite Phase gehen. Aber dazu brauchen wir Investoren und sind im Moment noch auf der Suche,“ sagt Rotondo. Sie plant ein virtuelles Museum für ihre Dinge. Entweder mit der Technologie von „Oculus Rift“ oder der günstigeren Variante „Google Cardboard“. „Ich stelle mir vor, dass Yuri der Museumsführer ist und einem die Geschichten vorliest, wenn sie angesteuert werden.“ Bisher haben Rotondo und Ciarapica leider noch keine Geldgeber gefunden und sich auch wieder anderen Projekten zugewandt. Die Hoffnung auf ein Museum voller schöner Erinnerungen bleibt aber bestehen.

Sherlock Holmes and the Internet of Things
Im Gegensatz zu „HeyHarryHeyMatilda“ und „Things that matter“ geht „Sherlock Holmes and the Internet of Things“ nochmal in eine ganze andere, vor allem komplexere Richtung des transmedialen Geschichtenerzählens. Lance Weiler war Mitgründer des Digital Storytelling Lab der University of Columbia, wo er auch „Sherlock Holmes and the Internet of Things“ entwickelte. In Fachkreisen ist er als Pionier des Transmedia Storytelling bekannt und erlangte bereits mit einigen seiner Projekte internationale Bekanntheit.

„Ich will meine Geschichten sowohl lokal als auch global erzählen. Ich vermische das Erzählen einer Geschichte mit dem Spielen eines Spiels und dem Lösen eines Rätsels. Von Projekt zu Projekt findet eine Evolution statt“, beschreibt Weiler seine Arbeit im Interview mit WIRED.

Von Projekt zu Projekt findet eine Evolution statt.

Lance Weiler

Mit „lokal“ meint er, dass seine Geschichten nicht nur im Internet staffinden, sondern auch auf realen Events, wie vor einigen Wochen im Lincoln Center in New York anlässlich des New York Film Festivals. Neben Weiler arbeiten auch Nick Fortugno, Spiele-Designer und -Entwickler und Jorgen van der Sloot, Designer und Co-Founder des FreedomLab Future Studies, an der Entwicklung.

Wie funktioniert „Sherlock Holmes and the Internet of Things“ nun? Weiler stellt zur Spielsituation einen alltäglichen Vergleich her: „Stell dir vor, du bist mit deinen Freunden auf einem Festival und ihr werdet währenddessen aus irgendeinem Grund voneinander getrennt. Teilweise habt ihr die selben Sachen gesehen, teilweise unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Am Ende eines Tages trefft ihr euch wieder und tauscht euch über eure Erfahrungen aus, wobei jeder merkt, was er verpasst hat und was ihr gemeinsam gesehen habt.“ So weit, so gut. Aber Sherlock Holmes im Namen muss ja auch etwas mit Detektivarbeit zu tun haben.

„Wir haben lange überlegt und getestet, wie wir dieses Projekt aufbauen. Nach einigen Durchläufen entschieden wir uns dafür, die Teilnehmer selbst das Spiel steuern zu lassen und dazu einen eigenen Kriminalfall zu entwickeln und zu inszenieren.“

Weiler und Fortugno eröffneten einen Massive Open Online Course (MOOC), in den sie 300 Mitglieder aus 60 Ländern aufnahmen. Mehr als 1000 bewarben sich auf einen Platz. Die Teilnehmer sind Autoren, Designer, Programmierer und Usern, die einen kreativen oder technischen Hintergrund haben. Gemeinsam mit Weiler und Fortugno wählen sie sich einen Gegenstand aus, der eine Verbindung zu einer Sherlock Holmes Geschichte hat. Diesen Gegenstand sollen sie verbindungsfähig machen, unter anderem mit NFC-Sensoren. „NFC spielt eine zentrale Rolle. Die Sensoren werden rund um einen Tatort verteilt und ermöglichen es den Teilnehmern so, Hinweise zu erkennen und diese auszuwerten. Dabei können sie in allen möglichen Formen auftauchen.“

Als Beispielobjekt für die Veranstaltung im Lincoln Center nennt Fortugno ein rotes Telefon mit Wählscheibe. Die Teilnehmer können den Hörer abnehmen und sich eine Audionachricht anhören. Sie gibt einen Hinweis auf Täter, Tatort oder Uhrzeit. Auch können neue Beweise aufgespielt werden. Die Technik dahinter und den Prototyp bauen die Teilnehmer selbst. Die zehn Wochen des MOOC-Kurses sind in vier Phasen aufgeteilt: Empathy, Define, Ideation und Testing. Anschließend gibt es ein offizielles Event, bei dem der Kriminalfall aufgeführt wird.

Die User-Gruppen lassen sich aufteilen in die Kriminalfall-Macher und die, die ihn lösen sollen. Aber es ist noch komplexer als das. Zwar haben die Macher ein Konzept aufgestellt, wie der Fall ablaufen soll, aber alle anwesenden Teilnehmer dürfen Einfluss nehmen und die Geschichte in eine andere Richtung lenken.

Neben den offiziellen Events würden sich die MOOC-Gruppen aber auch häufig abspalten und veranstalten ihre eigenen Events, erzählt Weiler. „Für uns ist das natürlich ein unglaublich gutes Feedback, wenn Leute aus unserer Idee heraus, sich motivieren und selbst organisieren.“

Allerdings sollte man „Sherlock Holmes and the Internet of Things“ nicht als reines neues Unterhaltungstool missverstehen. Das Gründer-Team hat im Gegensatz zu anderen Beispielen viel Forschungsarbeit hineingesteckt und sieht sich als Ausnahme in der Branche: „Wir sind wohl eine Minderheit, was die Forschung und Entwicklung in der Enternainment-Industrie angeht. Wir erforschen, wie Geschichten erzählt werden, wie sie geteilt werden, wer sie besitzt und die zunehmend wichtige Rolle des Internet der Dinge.“

Das Sherlock Holmes-Team hat zur Weiterentwicklung vier ausschlaggebende Anhaltspunkte ausgerarbeitet, die die Spielererfahrung verbessern sollen:
The Trace: Die Menschen wollen Hinweise finden, die sie in der Geschichte voran bringen.
Granting Agency: Es soll verhindert werden, dass sich ein Anführer in der Gruppe entwickelt und der Rest seinen Vorgaben folgt. Deshalb arbeiten die Leute in einer Gruppe und dann wieder alleine. Diese Arbeitsphasen wechseln sich dann ab, um zu verhindern, dass jemand die ganze Verantwortung an sich nimmt.
Thematic Frame: Auch wer „Sherlock Holmes“ nicht gelesen hat, kann sich doch etwas unter Novellen über misteriöse Mordfällevorstellen. Und wenn dann eine abgetapte Körperform auf dem Boden zu sehen ist, weiß man dass ein Verbrechen passiert ist.
Social Movement: Mehrere Menschen gehen durch eine Erfahrungen in eine bestimmte Richtung und treffen dabei unvorhergesehen und ungeplant aufeinander. Eine Unterhaltung zwischen zwei Teilnehmern in der Nähe des Opfers, könnte sich in einen Beweis oder eine Änderung der Geschichte verwandeln.

Mitte Oktober zum Power to the Pixel in London führten Weiler und Fortugno ihre Forschung weiter, wobei die Nutzererfahrung wieder im Vordergrund stand. 400 Menschen, zum Großteil keine MOOC-Teilnehmer, sollten einen Gegenstand aufmalen, der ihnen wichtig ist. Eine Methode, die sich über die Jahre in Weilers Forschung etabliert hat, sind die fünf Schlüsselwörter. „In diesem Fall sollten sich die Leute im Nachhinein fünfmal hintereinander die Frage stellen, was an ihrem Gegenstand besonders ist. Fünfmal, damit die Antworten von Frage zu Frage detallierter werden. Es ist ein Schritt in Richtung des Designs. Welche Funktionen sollen zukünftige Gegenstände haben? Was lösen sie in Menschen aus? Wie kann man sie zu einem sozial nützliche Gegenstand machen?“

Laut Weiler haben 86 Prozent der Teilnehmer sich um einen MOOC-Platz beworben, weil sie gerne an einem globalen und kreativem Projekt teilnehmen wollten. Ohne Ländergrenzen und gesellschaftliche Unterschiede. 

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