Eine allwissende Miesmuschel als Lebensberater — warum nicht. Die Phönizier befragten in Zweifelsdingen riesige Brummfliegen und der selige Kopffüßler Paul, der 2010 bei der Fussballweltmeisterschaft mit fachkrakischen Antworten brillierte, hätte sicher auch in anderen Lebensbereichen hilfreiche Entscheidungsstützen spenden können. Unter dem Trend-Hashtag ##MaMiMu, kurz für Magische Miesmuschel, wandten sich nun also ratsuchende Jung-Twitterer in den vergangenen Tagen an ein hilfsbereites Schalentier — oder, genauer gesagt und leider weniger niedlich: an einen Miesmuschelorakelfragenbeantwortungsbot.
Natürlich sind Fragen und Tweets dieser Güteklasse das nervige Timeline-Pendant zu einer Schar überzuckerter Kleinkinder, die auf einem Langzeitflug in der Reihe hinter einem sitzen und unaufhörlich gegen die Sitzlehne trampeln. Andererseits erinnern sie in ihrer brummenden Naivität — in jeder offensichtlichen Zeitverplemperungsfrage steckt doch immer auch ein Fitzelchen echter Aberglaube, ein Kleinstkrümel „I want to believe“ — an die unverdorben Techno-vernarrte Sicht auf den frühen Computer, den wahrhaft allwissenden Kasten, der jede faktische Unsicherheit in Blinzelgeschwindigkeit wegrechnen könnte. Eine ältliche Tante von mir sah seinerzeit selbst meinen Commodore 128, die tranige Mikrocomputerfunzel, als Zaubermaschine an und glaubte, man könne von ihm eine verlässliche Antwort auf jede beliebige Frage erhalten, die man auf seinem Bildschirm eintippte. Das Internet, das sie nicht mehr erlebte, hätte sie aus den Socken gehauen.
Aber ist das Netz als Ganzes andererseits wirklich so viel mehr als eine nach Kräften bemühte Miesmuschel, wenn es an die Beantwortung von Fragen geht? Sicher, man findet sehr viele brauchbare Antworten, wenn man an den richtigen Plätzen sucht. Gründelt man aber im Bodensatz des Online-Anfragewesens, stößt man auf eine dicke Schlackeschicht offener Menschheitsrätsel. Leider verbringe ich sehr viel Zeit damit, mich an den jeweils neu eingestellten Beiträgen auf gutefrage.net zu ergötzen.
Die schönsten Fragen puzzele ich zu kleinen Ratlosigkeitscollagen.
Ich liebe die kurz hingerotzten Fragen („Prellung oder Bruch?“) genauso wie die komplexeren Stammelkonstellationen („t55 disk eingelegt kam etwas milch aus jetzt leuchtet gelbe tasse und klappe von brühkopf geht nicht mehr auf habe aus und eigeschaltet immer wieder was tun?“). Ich mag die rätselhaften technischen Bredouillen („amd radeon hd 6450 1024mb oder nvidia geforce gt 610 2048mb?“), doch am meisten die interpunktionslosen menschlichen Dramen: „Hab aus versehen Schimmel mitgegessen was kann passieren?“
Manchmal puzzele ich die schönsten Anfragen zu kleinen Ratlosigkeitscollagen: Hallo, weiß jemand wo ich mir einen Metalldektor kaufen kann, der gut funktioniert und in meine Hosentasche passt? Welches Einstreu außer Sand und Lehm kann man für Leoparden-Geckos nehmen? Ich hätte gerne so schöne breite Hüften und einen flachen Bauch wie Beyonce — wie kann man sich das antrainieren? Ist es strafbar, wenn ich „Sims 3“ downloade? Ich hab jetzt schon auf mehreren Seiten gelesen, dass destilliertes Wasser in Kombination mit Backpulver gut gegen Mitesser wirkt — gilt das auch für Pickel? Kann mir jemand Infos zum Wappen von Glasgow geben? Ist „Battlefield 4“ (PS3) mittlerweile ausgereift? Bin ich in meine Schulkollegin verliebt? Habe morgen Geburtstag aber irgendwie freu ich mich nicht, warum? Kaninchenstallbeschichtung? Ist die Schlangeninsel mit den Giftschlangen wirklich so gefährlich wie immer behauptet wird? Warum gibt es Insekten? Verständnisfrage: Wie kommt man ins Nirwana?
Stun-den-lang könnte ich so weiter machen. Die einzige Frage, die sich mir anschließend noch stellt: Warum kennen all diese Leute zwar die Adresse gutefrage.net, nicht aber google.com? Zumindest die Frage nach empfehlenswerten Techniken der Hasenstallbeschichtung könnte man dort zügig beantworten. In den meisten anderen Belangen wendet man sich wahrscheinlich aber doch besser an die magische Miesmuschel.
Anja Rützels letzter Bashtag: der #Raabschied.